ALLEIN AUF WEITER FLUR
© Stefan Mayer
Stefan Mayer
Da stehe ich nun inmitten einer schier undurchdringlichen Tannenverjüngung. Die Sichtweite ist kaum mehr als 20 Zentimeter, so dass ich nur bis zu meiner Hüfte nach unten sehen kann. Meine Nachsuchenbüchse ist weg, und Prügel habe ich auch schon eingesteckt. Mein Schweißhund und sein kampferprobter Beihund sind beide schon geschlagen und haben nicht mehr lange Kraft, den Bail zu halten. In dieser Not versuche ich, irgendeinen Hundeführer in der Nähe zu erreichen, der mit seinen Hunden mich und meine Vierbeiner unterstützen kann, um die knifflige Situation zu lösen. Leider Fehlanzeige, keiner der angerufenen Hundeführer ist verfügbar. So muss ich allein versuchen, möglichst schnell, meinen beiden tapferen Kämpfern beizustehen. Zu diesem Zeitpunkt sind wir schon über drei Stunden im Einsatz und trotz meiner über 15 Jahre Erfahrung im Nachsucheneinsatz mit jährlich 150 Einsätzen, habe ich eine so vertrackte Lage noch nicht erlebt.
An diesem Tag klingelt am Vormittag gegen 10 Uhr mein Handy mit einer mir unbekannten Nummer. Der Anrufer ist Timo, ein Jungjäger, der meine Dienste als Nachsuchenführer anfragt. Am Abend vorher hatte er im strömenden Regen ein einzelnes Wildschwein beschossen. Im Revier, in dem er den Begehungsschein hat, war das Schwarzwild in den vergangenen Tagen auf den Wiesen sehr aktiv. Um die Wiesenschäden nicht ins Unermessliche laufen zu lassen, verordnete der Jagdpächter seinen Jägern, trotz des unangenehmen Wetters, ein paar Nachtschichten. Timo hatte vor wenigen Wochen seinen ersten Jagdschein gelöst. Der Schuss am Vorabend war daher sein erster auf Schwarzwild. Im Folgenden schildert mir der merklich unsichere Jungjäger die Geschehnisse: Der tapfere junge Mann harrte schon über eine Stunde im Regen an einem Gehölzstreifen aus, als er ein einzelnes Stück Schwarzwild, er spricht es als Überläufer an, in Richtung der Schadfläche anwechseln sah. Als das Stück auf Schussdistanz war und breit stand, ließ er die Kugel fliegen. Nach dem Schuss sah er zunächst nichts mehr und begab sich, wegen des starken Regens, umgehend an den etwa 70 Meter entfernten Anschuss, um vielleicht noch Pirschzeichen zu entdecken. Er fand relativ schnell einen hell schimmernden Knochensplitter, die erhoffte Beute, in Form eines Wildschweins, lag allerdings nirgends auf der Wiese. Auch seine Wärmebildkamera brachte keine weiteren Erkenntnisse. Verständlicherweise war Timo mit dieser für einen Jungjäger völlig neuen Situation komplett überfordert. Daher rief er seinen Jagdherrn an und informierte ihn über das Geschehen. Der erfahrene Weidmann beruhigte den aufgeregten Jungjäger und verabredete sich auf den frühen Morgen, um bei Tageslicht das Wildschwein im nächstgelegenen Wald zu suchen.
Gesagt, getan. Am nächsten Morgen treffen sich Jagdherr und Jungjäger am Tatort, finden aber weder Schweiß noch irgendwelche anderen Pirschzeichen. Der Regen hatte alles weggewaschen. Daraufhin machen die beiden eine, wie zu erwarten, erfolglose Streife durch den Wald. Nun endlich rufen sie bei einem Schweißhundeführer aus der Nähe an und bitten ihn um Unterstützung. Dieser erscheint nach etwa einer Stunde am Treffpunkt und wird daraufhin in die Situation und am Anschuss eingewiesen. Der Vorstehhund wird am Anschuss angesetzt und stürmt mit dem Hundeführer im Schlepptau über die Wiese in Richtung Wald. Jagdpächter und Jungjäger versuchen zu folgen, verlieren das Gespann aber aus den Augen, als es in den Wald geht. Daher beschließen die beiden an den Fahrzeugen, die in der Nähe des Anschusses stehen, zu warten. Es könnte ja durchaus sein, dass der Hundeführer das Stück gefunden hat und dann Unterstützung beim Bergen benötigt. Der Hundeführer erscheint mit seinem Vierbeiner nach 15 Minuten wieder am Anschuss. Er berichtet, dass sein Hund ihn im Wald in südliche Richtung geführt hat und nach etwa 300 Meter am Zaun des dort befindlichen Wildgeheges stand. Der Zaun war dicht und unbeschädigt und auch für das Wildschwein zu hoch um einzuspringen. Der Hund suchte an dieser Stelle nicht weiter, so dass der Hundeführer ihn nochmals am Anschuss ansetzen wollte. Dieses Spiel wiederholt sich noch zwei Mal, bis der Hundeführer ein Einsehen hat und die Arbeit abbricht. Mit dem Ergebnis unzufrieden, da das Stück Schwarzwild aufgrund des gefundenen Knochenstücks ja einen schweren Treffer haben muss, will der Jagdpächter die Sache nicht auf sich beruhen lassen und beauftragt den Jungjäger, mich anzurufen, um zu erfragen, ob ich eine Chance sehe, das Stück zu finden und überhaupt Zeit hätte zu kommen. Immerhin ist es schon Mittag, und für die Anreise benötige ich schon fast eine Stunde. Da wir es dem Wild schuldig sind, alles zu unternehmen, um Leiden zu vermeiden oder zumindest zu verkürzen, ist meine Antwort klar: "Ich komme!"
Meine Arbeitszeit kann ich in der Regel frei einteilen, daher ist es mir möglich, auch an Werktagen für Nachsuchen auszurücken. Allerdings dürfen betriebliche Abläufe selbstverständlich nicht darunter leiden. Aus diesem Grund muss ich, während ich in aller Eile meine Nachsuchenausrüstung und Hunde in das Auto packe, ein paar dienstliche Dinge abstimmen und Termine vom Nachmittag auf den nächsten Tag verschieben. Somit habe ich mir den Nachmittag freigeschaufelt. Da die jüngere Generation der Jäger mit modernen Kommunikationsmitteln vertraut ist, erhalte ich vermehrt die Treffpunkte per Standort auf mein Smartphone gesendet. Dies schätze ich zunehmend, weil zeitaufwändige Sucherei und auch Missverständnisse in der Absprache vermieden werden. So ist der Treffpunkt in diesem Fall auch schon der Startpunkt der Nachsuche. Mittlerweile ist es 14 Uhr, als ich am Treffpunkt ankomme. Mit hoffnungsvollen Blicken begrüßt mich Jungjäger Timo. Aufgrund des vorangeschrittenen Tages will ich wenig Zeit mit Erklärungen und Schilderungen des bisher Geschehenen verlieren. Darum bitte ich Timo, mich zu informieren, während ich die Hunde mit Schutzwesten und Ortungsgeräten versehe und meine Ausrüstung anlege. Zusammen mit meiner Frau führe ich drei Schweißhunde und vier Terrier, die als Stöberhunde oder, wie heute, als Beihunde agieren. Für diese anspruchsvolle Arbeit habe ich die Hannoversche Schweißhündin Gunhild vom Bibertal, genannt "Hilde", dabei. Im mittlerweile neunten Behang bilden wir ein eingespieltes Team, das sich blind versteht. Das war nicht immer so, denn die Arbeitsweise und das Tempo der "wilden Hilde" führten mich zu Anfang unserer gemeinsamen Zeit häufig an körperliche und mentale Grenzen. Das lag vor allem daran, dass ihre drei Vorgänger sehr ruhige Riemenarbeiter waren, und ich für diese für mich völlig neue Herangehensweise von Hilde keinen Zugang gefunden hatte.
Das ist vermutlich das Handicap vieler Nachsuchengespanne, wenn sie die gemeinsame Arbeit beginnen. Gerade dann, wenn der vorige Schweißhund extrem leistungsstark war und das Gespann beinahe ein Jahrzehnt miteinander gearbeitet hat. Dieses Schicksal ereilte mich und Hilde ebenfalls. Denn ihr Vorgänger war "Dassler", ein Steirischer Rauhaarbrackenrüde, der sich schon zu Lebzeiten bei den Jägern einen Legendenstatus erarbeitet hatte. Hilde und ich benötigten fast vier gemeinsame Jahre, in denen ich der braven Hündin oft zu Unrecht nicht geglaubt hatte, bis ich die Sprache dieser passionierten und leistungsstarken Hündin verstanden habe. Als Beihund fungiert heute der Heideterrier "Henry". Einen Beihund nehme ich dann mit, wenn ich einen Begleiter habe, der körperlich in der Lage ist, mir zu folgen. Diesen habe ich mit Timo zur Verfügung, wenngleich er als Jungjäger jagdlich völlig blank ist. Die Diskussion über den Sinn und Zweck eines Beihundes ist abendfüllend. Schlussendlich muss das jeder Schweißhundeführer für seine Einsätze selbst entscheiden. In wenig Worte gefasst kann ich für unsere Beihundeeinsätze sagen: Die Hatz wird kürzer, der Fangschuss schwieriger bis unmöglich, die Hunde unterstützen sich gegenseitig, aber der Bail wird häufig aggressiver. Da Henry zuverlässig Schwarzwild bis 50 Kilogramm (aufgebrochen) bindet, wird Dank seines Einsatzes manch gefährlicher Fangschuss und manche Hatz über Straßen vermieden. Das Einkleiden der Hunde und Anlegen meiner Ausrüstung ist nach so vielen Jahren der Schweißarbeit eine kurze Routine. Wir begeben uns zum Anschuss, den uns Timo zeigt, und finden immer noch den besagten Knochensplitter, der sich als Teil eines Röhrenknochens entpuppt. Kurz noch inspiziere ich den Anschuss, um anhand der weiteren Pirschzeichen eventuell zu erkennen, ob der Treffer höher am Vorderlauf oder vielleicht sogar auf der Keule sitzt. Die vier Anläufe des vor mir tätigen Gespanns haben aber alles zertreten. Schlussendlich reicht jedoch das Fundstück, um einen Lauftreffer zu diagnostizieren. Skeptisch bin ich jedoch, aufgrund der Wandstärke der Röhre, ob es sich tatsächlich um einen Überläufer handelt. Der Regen und die vorangegangene Suche des anderen Gespanns haben alle Trittsiegel eliminiert. Egal - es erwartet uns mit größter Wahrscheinlichkeit eine Hatz, also lege ich die wartende Hilde zur Fährte und übergebe ihr das Kommando.
Hilde untersucht akribisch den Anschuss und das Umfeld. Dafür benötigt sie meist nur wenige Augenblicke, bis sie die Wundfährte annimmt. Gelegentlich fällt ihr ein, dass sie noch nicht alles genau untersucht hat und geht dann nochmals zurück zum Anschuss - das ist eben Hilde. Da ich aber meiner erfahrenen Hündin das Kommando übergeben habe, folge ich ihr ohne zu murren. Im Augenwinkel sehe ich den verständnislosen Blick von Jungjäger Timo...