Schweitzer Fachinformationen
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Zwei Wochen vergingen, und ich hatte noch immer keinen einzigen der Paläste am Canal Grande zu Gesicht bekommen, die zu retten unsere Aufgabe war. Ich hatte von der ganzen Stadt Venedig nichts anderes gesehen, als das Pflaster unter meinen Füßen, die rissigen Backsteinwände, an denen man im dichten Nebel entlanggehen musste, und verzierte, schwere Türen aus Edelholz. Überall war man von den Geräuschen des Wassers umgeben. Die feuchte Luft roch nach Meer, und die Schiffssirenen tröteten auf den Kanälen und in der Lagune, von der ich wusste, dass sie die Stadt umgab, denn ich hatte die Geographie der Umgebung auf Karten studiert.
Die versprochenen Büroräume waren uns noch nicht übergeben worden. Wir hatten sie allerdings besichtigt: drei Räume in einem Gebäude am Canal Grande, nicht weit vom Hotel entfernt. Der Name des Bauwerks war Palazzo Inverno, und es befand sich angeblich im Besitz der Stadt Venedig. Heikkilä sagte, der Name bedeute Winterpalast. Wie ein Palast sah es nicht gerade aus. Als Heizung waren Öfen beschafft worden, die mit einer Brennflüssigkeit funktionierten. Noch waren die Räume ziemlich feucht. Die Wände schwitzten wie eine Bierflasche, die man ins Warme stellt. Es roch ausgekühlt.
Man wartete noch auf einige Unterlagen aus dem Straßenbauamt, ohne die unsere Kontaktperson, ein redseliger und übertrieben freundlicher Beamter, uns die Räume nicht übergeben konnte. Ich fragte mich, wieso die Stadt Venedig ein Straßenbauamt hatte, wo es doch nicht einmal Straßen gab. Dozent Heikkilä wurde ungeduldig: Er konnte nur Latein und gab sich Mühe, das schnelle, heutige Italienisch des Beamten zu übersetzen. Er entschuldigte sich dafür, die italienische kommunalbürokratische Terminologie nicht ganz exakt wiedergegeben zu haben.
Außerdem müsse ich als Bürokrat wissen, dass administrative Benennungen oft nicht den Maßnahmen entsprachen, die im Schatten des Namensschildes entwickelt wurden. Was trieb denn zum Beispiel in Helsinki das Städtische Fiskalamt? Ich bestritt, Bürokrat zu sein. Heikkilä sagte, Bürokratie sei nichts Schlimmes, im Gegensatz zu dem, was die Leute behaupteten. Er hatte sich mit der Entstehung der Bürokratie befasst, sie war eine der Voraussetzungen für die Entwicklung der modernen Gesellschaft, so wie die Demokratie, der Rechtsstaat und die freie Marktwirtschaft. Ich sagte, ich sei kein Bürokrat. Der Dozent insistierte, alle, die im Dienste des Staates wirkten, seien Bürokraten. Ich teilte ihm mit, nicht im Dienste des Staates zu stehen.
Er behauptete, wir alle würden für das Bildungsministerium arbeiten und stünden somit formal im Dienst des Staates. Ich erklärte, für ein privates Ingenieurbüro zu arbeiten, bei dem sich das Bildungsministerium gegen Honorar Beratung hole. Heikkilä war erstaunt. Er erkundigte sich, wie hoch mein Honorar sei. Ich sagte ihm, man würde mir ein Monatsgehalt zahlen, das für einen Ingenieur mit meiner Erfahrung üblich sei.
Heikkilä wusste, dass die Gehälter auf diesem Sektor hoch waren. Er meinte, ich würde die Steuerzahler teuer zu stehen kommen. Darauf erklärte ich, der Staat käme nicht allein mit dem Zahlen meines Gehaltes davon. Mein Arbeitgeber stelle für die Beratungstätigkeit eine Entschädigung in Rechnung, die auch die Nebenkosten abdecke, die Fix- und Betriebskosten der Firma sowie den Unternehmensgewinn. Die Rechnung fiele wesentlich höher aus als mein Gehalt. Dennoch würde das die Steuerzahler sicherlich billiger kommen, als wenn das Bildungsministerium für sämtliche Entwicklungshilfeprojekte feste Ingenieurstellen einrichte.
Heikkilä wollte wissen, ob ich glaube, mich in einem Entwicklungsland zu befinden. Ich fragte ihn, wie ich bei diesem Nebel wissen solle, wo ich sei? Der Dozent wunderte sich: Wusste ich denn nicht, dass ich mich in Italien befand, in der Stadt Venedig? Italien sei ein Industriestaat, und in Mestre, gleich neben dem historischen Venedig, habe sich petrochemische Schwerindustrie angesiedelt. Er ermunterte mich, die Industriehölle von Mestre oder den Großhafen von Chioggia aufzusuchen. Dort könne ich mir dann zwischen all den in die ganze Welt auslaufenden Containerschiffen Gedanken darüber machen, ob ich mich in einem Entwicklungsland befände.
Wie hätte ich etwas über die Häfen und Fabriken von Venedig wissen können? Zwei Wochen lang hatte ich nicht weiter als eine Armlänge sehen können. Allerdings war ich tatsächlich in dem Glauben, dass die UNESCO eine Organisation für Zusammenarbeit in Fragen der Entwicklung darstellte, und was die Kosten anbelangte, die dem Gemeinwesen durch meinen Aufenthalt in Venedig verursacht wurden, so hatte ich die Absicht, sie möglichst gering zu halten. Ich hätte gern längst mit der Arbeit angefangen, wegen der es das Bildungsministerium für klug gehalten hatte, mich nach Venedig zu schicken. Heikkilä lachte.
Ich sei ein typischer Mensch aus dem Norden: Mann und Ingenieur. Jetzt aber befänden wir uns in der Welt südlich der Alpen, in der apollinischen Kultur des Mittelmeerraums. Ich müsse mich an einen anderen Zeitbegriff gewöhnen. Ich sagte, ich sei bereits seit zwei Wochen damit beschäftigt, mich daran zu gewöhnen. In der Welt nördlich der Alpen, in einem finnischen Ingenieurbüro, hätte man in zwei Wochen bereits das ein oder andere zustande gebracht, zum Beispiel einen hundertsechzig Meter langen neuen Tunnelabschnitt vom Päijänne-See zum Stausee Silvola. Der Dozent fragte, ob hundertsechzig Meter viel seien. Ich entgegnete, das sei Weltrekord.
Noch immer lachend setzte mir der Dozent die Auftragskette auseinander, die mich nach Italien gebracht hatte: Das finnische Bildungsministerium hatte sich verpflichtet, eine Expertendelegation in die Stadt zu schicken, unser eigentlicher Auftraggeber sei aber die UNESCO, die keineswegs bloß eine Entwicklungshilfeorganisation sei, sondern auch eine Institution, die über das Weltkulturerbe wache, und damit hätten wir jetzt hier in Venedig zu tun.
Während des Studiums war uns die Bedeutung der Arbeitsteilung eingetrichtert worden. Auch jetzt hatte ich die Absicht, meine eigene Arbeit so gut wie möglich zu machen und mich nicht in die Bereiche der anderen Fachleute einzumischen. Ich wollte gar nicht erst anfangen, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, in wessen Dienst ich letzten Endes tätig war. Ich stand auf der Gehaltsliste meines Arbeitgebers und kümmerte mich um die Projekte, die mir übertragen wurden. Der Dozent triumphierte.
Seiner Meinung nach war es schwer, einen typischeren Vertreter der Technologiekultur und der geteilten Expertenmacht als mich zu finden. Er beabsichtigte, mittels der Methode der teilnehmenden Beobachtung zu verfolgen, wie ich mich in der lateinischen Kultur und unter Kollegen aus den humanistischen Fächern verhalten würde. Ich sagte ihm, er könne mit der teilnehmenden Beobachtung auf der Stelle beginnen. Denn ich würde mit den Basismessungen, die Voraussetzung für das Projekt waren, selbst anfangen, da die Italiener nicht in der Lage gewesen waren, innerhalb von zwei Wochen die Informationen zu beschaffen, um die ich sie gebeten hatte. Heikkilä dürfe als Dolmetscher und Führer mitkommen, denn er kenne die Stadt. Der Dozent bedauerte, nur das Venedig des 14. Jahrhunderts gut zu kennen. Darauf erwiderte ich, das Projekt werde mit den Ressourcen vorangetrieben, die zur Verfügung stünden. Ich gab ihm das Kommando, mir zu folgen, und wir schritten in den Nebel hinein.
Auf dem Weg durch die Gassen hielten wir uns an die Wände. An den Geräuschen konnte man hören, dass wir ab und zu einen kleinen Seitenkanal überquerten. Zwischenzeitlich wurden die Gassen so eng, dass man mit den Fingerspitzen die Häuserwände auf beiden Seiten berühren konnte, wenn man die Arme ausbreitete. Manchmal kam es einem so vor, als verlaufe die Gasse im Inneren eines Gebäudes. Ein mit schwarzer Farbe aufgesprühter Schriftzug tauchte aus dem Nebel auf: LEGA NORD. Dort hörte die Wand auf. Über die schwarze Schrift war ein Kreuz gezogen und daneben das Wort SERENISSIMA geschrieben worden. Heikkilä fragte, ob ich wisse, wo wir seien. Ich sagte, wir befänden uns auf dem Campo Sant' Angelo.
Für einen Moment verschwand der Dozent im Nebel. Als er wieder da war, wunderte er sich. Ich zeigte ihm den Plan, auf dem der Platz verzeichnet war. Wie war es mir gelungen, im undurchdringlichen Nebel so zielstrebig durch all die Gässchen zu gehen, geradewegs zu dem Platz, zu dem ich wollte?
Wir befanden uns noch gar nicht auf dem Platz, zu dem ich wollte. Ich wollte zu San Marco, ob der Herr Dozent zufällig wisse, in welcher Richtung der liege?
Heikkilä zog mich zur Ecke eines Gebäudes. Dort war ein gelbes Schild in Form eines Pfeiles angebracht, der Text darauf lautete: PER SAN MARCO.
«Der Platz ist dort.»
Er fügte hinzu, die von dem Pfeil angegebene Richtung würde uns nicht lange helfen, falls wir uns wieder in die vor Nebel dampfenden schmalen und kurvenreichen Gassen begeben würden. Ich erklärte, die wichtigsten Routen, die vom Hotel wegführten, abgegangen zu sein. Mit Plan und Kompass war ich losgegangen und hatte Straßenecken und Kanäle gezählt. So war ich zu Fuß zum Piazzale Roma gelangt, dem gewaltigen Parkplatz der Stadt, zum Bahnhof, zur Rialto- und zur Accademia-Brücke und auch zu San Marco. Heikkilä versicherte, meinen Orientierungssinn zu bewundern, doch konnte er nicht verstehen, welchen Nutzen diese Großtaten jetzt für uns hätten. Er jedenfalls habe keine Straßenecken und keine Kanäle gezählt, und ihm sei auch nicht aufgefallen, dass ich es getan hätte. Ich zeigte ihm mein GPS-Gerät. Heikkilä hielt es für ein Handy. Ich erklärte...
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