Schweitzer Fachinformationen
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Abends habe ich Schwierigkeiten einzuschlafen.
Der Versuch, ein Buch zu lesen, ist kontraproduktiv. Ist das Buch gut, denke ich, dass ich niemals so ein Buch zustande bringen werde, warum sich also mit Schreiben herumschlagen? Warum sich mit irgendetwas herumschlagen? Man kann es genauso gut lassen, das Schreiben, das Lesen, das Rauchen, das Existieren, ewiges Vegetieren und basta, Schlafen für immer. Das wäre tatsächlich die einzig sinnvolle Lösung, wenn ich denn schlafen könnte.
Wenn das Buch schlecht ist, nervt mich sogar das Papier. Ich verwandle meine Genervtheit in einen tiefgründigeren Gedanken. Ich empfinde Mitleid für das unschuldige Zweiglein, das für diese Schandtat herhalten musste. Ich leide bei der Vorstellung, wie viele andere unschuldige Zweiglein ihr tagtäglich zum Opfer fallen. Ich denke an all die Buchhandlungen und Bibliotheken, an diese Gräbermeere von Zweigen, an die grausame Verbissenheit, schreiben zu wollen, um einen Splitter unserer Selbst in die Zukunft zu katapultieren und unsere Geschichten, unsere Erinnerung an die Nachwelt weiterzugeben. Wir sind bereit, Regenwälder niederzumetzeln, um unsere Worte gedruckt zu sehen, und die arme Nachwelt, unterernährt, entkräftet und zu ewiger Flucht zwischen flirrenden Kaktus-Fata-Morganas in der sengenden Wüste verdammt, muss beim letzten Röcheln nach ein wenig Kühle unsere bildlichen Vergleiche ertragen, die uns seinerzeit strahlend wie Kometen erschienen. So hält mich das Ende der Welt wach.
Wenn ich nicht schlafen kann, wälze ich mich nach einer ureigenen Choreografie im Bett herum. Weil ich mich unbeobachtet wähne, lasse ich sämtlichen Ticks, die ich tagsüber zu unterdrücken versuche, freien Lauf. Das entnervte Echo lässt nicht auf sich warten.
»Mensch, Vero, kannst du bitte mal aufhören, mit der Ferse auf die Matratze zu trommeln?«
»Könntest du versuchen, nicht ständig an das Kopfende des Bettes zu fassen?«
»Wie oft willst du noch mit dem Ellenbogen knacken?«
Alle in meiner Familie waren große Schnarcher. Ein volltönendes, wohliges Geräusch. Die stille Nacht hat es nie gegeben. Stille hat es sowieso nie gegeben. Irgendetwas lief immer: das Radio, der Fernseher, der Staubsauger, der Föhn, der Bohrer, die Kreissäge (Samstag war für meinen Vater Wändebautag). Durch die Rigipskonstruktionen, Spanplatten und Pseudotüren kam alles durch. Wir lebten umfangen vom phagozytierenden Surren unserer Körper und der Elektrogeräte. Wir waren ein einziger, verdichteter und in die Wohnung gezwängter Organismus, der mit dem Schwanz wedelte und gegen die Trennwände stieß. Wir unterhielten uns bei Lärm und im Lärm, was stets nützlich war, um später behaupten zu können, man sei nicht richtig verstanden worden.
Auch bei Tisch herrschte ständige Kakophonie. Ein an schiefen Kirchengesang erinnerndes Dauernuscheln. Während andere Eltern ihren Kindern beibrachten, nicht mit vollem Mund zu sprechen, pflegte man bei uns seelenruhig mit offenem Mund zu kauen, was meine Mutter bis heute tut. Inzwischen habe ich aus meiner Beklommenheit ein heimliches Vergnügen gemacht und überlasse das Unbehagen unseren jeweiligen Tischgenossen, die sich nicht trauen, einer über Siebzigjährigen zu sagen, dass der Anblick ihrer halbgekauten Bissen zwischen Zunge und Gaumen nicht schön ist. Obendrein findet es meine Mutter völlig normal, die faserigen Reste von Artischocken oder Fleisch in eine Serviette zu würgen, diese zusammenzuknüllen und wie selbstverständlich auf den Tisch zu legen. Ich beneide sie. So manches Mal im Leben bin ich tagelang in stumme Depression versunken, weil jemand mich auf ein Stückchen Rucola zwischen den Vorderzähnen aufmerksam gemacht hat, sie dagegen kann ein ganzes Silvesteressen mit dieser Gewölleskulptur neben ihrem Teller bestreiten. Wenn es Steak gibt, braucht sie mitunter mehr als eine Serviette. Ich weiß noch, wie sie im Restaurant einmal eine Packung Taschentücher aus ihrer Handtasche zog, um ihre durchgekauten Schmankerln darin einzuwickeln und in die Handtasche zurückzustecken, weil auf dem Tisch kein Platz mehr war.
In Wahrheit war meine Mutter schon immer der echte Punk der Familie. Was wollte ich als Fünfzehnjährige mit meinen zerrissenen Netzstrumpfhosen, wenn sie mit einem über dem Hintern klaffenden Rock herumlief? Wenn ich versuchte, sie darauf hinzuweisen, antwortete sie: »Ah, da kommt die Prinzessin auf der Erbse.«
Das Schlimmste an dieser Antwort ist, dass sie völlig daneben und trotzdem nicht ganz abwegig war. Das heißt, die Prinzessin auf der Erbse hatte eigentlich gar nichts damit zu tun, aber ein bisschen schon, und dieses Bisschen gab mir das Gefühl, eine piefige kleine Nervensäge zu sein.
Dafür brüllte mein Vater andauernd. Das war sein Tonfall. Ein Mensch wird Choleriker genannt, wenn er schnell cholerisch wird, aber wenn er durchweg cholerisch ist, tendiert der Effekt gegen null. Schließlich kann man einen Blinden nicht ständig daran erinnern, dass er nichts sieht. Wir hatten uns daran gewöhnt und merkten es gar nicht mehr, aber wenn mich eine Freundin besuchen kam, hatte sie immer das Gefühl, im ungünstigsten Moment hereingeplatzt zu sein.
»Soll ich wieder gehen? Ist Francesca am Telefon?«
Mein Vater kam von der Arbeit nach Hause und blaffte ihr ins Gesicht: »Und, wie läuft's?«, was ungefähr klang wie: »Was zum Henker hast du bei uns verloren?« Brachte sie ein verängstigtes »Gut, danke« zustande, reichte das herausgepolterte »Das freut mich!« meines Vaters für gewöhnlich aus, um sie in die Flucht zu schlagen.
Selbst im Schlaf ähnelte mein Vater einem schnarchenden Zeichentrick-Mastiff.
Wenn ich laut werde, sagt meine Mutter, den jähzornigen Charakter hätte ich von meinem Vater, und er von meinem Großvater, der ihn von meinem Urgroßvater habe, dem ich nie begegnet bin. Ich frage mich, warum diese genetische Eichung beschlossen hat, mit seiner männlichen Erblinie zu brechen, meinen Bruder zu überspringen und auf mich überzugehen.
Während ich mit dem Schlaf ringe und mich im Bett herumwälze, durchkribbelt der Erbzorn meine Muskeln und hält sie wach. Statt einem schnarchenden Mastiff ähnele ich eher einem nervtötenden Chihuahua.
Ich habe es mit Naturheilmitteln versucht. Kamille. Melisse. Baldrian. Passionsblume. Weißdorn. Fades, nach fauligem Gras schmeckendes Gebräu. Mit kleinen Tabletten, die drei Stunden vor dem Zubettgehen einzunehmen sind. Dann zwei Stunden vorher. Eine Stunde. Die letzten zwanzig Minuten vorher. Aber woher sollte ich wissen, wann ich ins Bett gehen würde? Die Natur war zu organisationsintensiv.
Ich verlegte mich auf die Chemie. Sämtliche Schlaftabletten, die ich geschenkt bekam, sammelte ich in dem Tütchen für die Filter meiner selbstgerollten Zigaretten. Ich war zur Heilmittelschnorrerin mutiert. Das war meine Methode, um mich an andere ranzumachen, mein Abschlepptrick. Auf Kneipenklos, bei Konzerten, bei Partys, nach einer mutwillig einschläfernden Theateraufführung, die leider trotzdem nicht wirkte. Es gab immer jemanden, der bereit war, mir eine Pille zuzustecken.
»Mit der schläfst du garantiert. Hast du heute Abend schon was getrunken? Wenn ja, nimm vielleicht nur eine halbe.«
Ich trank und schluckte zwei.
Mitten in der Nacht verschickte ich Nachrichten, um zu sagen: »Wirkt nicht, bin wach.«
Niemand antwortete.
Ich suchte einen Arzt auf. »Wie lange haben Sie schon den Eindruck, nicht schlafen zu können?«, fragte er. Was glaubte er, wen er vor sich hatte? Ich hatte gar keinen Eindruck. Leute mit Eindrücken, Ahnungen und Bauchgefühlen konnte ich noch nie leiden. Ich konnte nicht schlafen und basta. Mit einem Fläschchen Tropfen, deren Nebenwirkungen von Lähmung bis paroxysmale Steigerung der Libido reichten, ging ich wieder nach Hause.
»Und geben Sie mir unbedingt Bescheid.«
Um drei Uhr nachts schickte ich dem Arzt eine Nachricht.
»Hey, bin wach!« Dann um vier: »Noch immer wach!« Um fünf: »Hellwach!«
Er antwortete nicht. Unbedingt einen Scheiß, dachte ich. Wer weiß, vielleicht fürchtete er, aus mir spräche die Libido.
Manchmal versuche ich, zum Einschlafen zu masturbieren. Es ähnelt eher einer Fitnessübung, Auspowern für faule Sportverächter. Oder einer mentalen Übung, innerliches Sammeln für skeptische Meditationsverächter.
Männer schlafen normalerweise vor mir ein. Manchmal wachen sie von meinem Herumgefummel unter der Decke auf und nehmen es als Anmache. Sie sind unschlüssig, wem sie nachgeben sollen: Dem Sex oder dem Schlaf? Dann muss ich ihnen erklären, dass das keine Anmache, sondern eine Art Einschlaftee ist - Geschlechtsverkehr würde sowieso zu großen...
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