Schweitzer Fachinformationen
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Schwarzes Hemd, dunkle Hose, Umhängetasche aus Stoff: Das ist Shekhar, den es durch die ausgestorbenen Nachmittagsstraßen treibt wie ein schwarzes Wölkchen, das sich am klaren Himmel verirrt hat. Er streunt durch eine Straße nach der anderen, mal in diesem Viertel, mal in jenem. Ich habe ihn in letzter Zeit ein paar Mal gesehen, immer in Eile. Schwer zu sagen, ob er schnell zum Ziel will oder vor etwas wegläuft. Oder ob ihm das Herumlaufen am Ende gar innere Ruhe verschafft.
Shekhars Haare lichten sich allmählich, wohl um der Schmach zu entgehen, andernfalls ergrauen zu müssen. Das schwarze Hemd wirkt an seinem nunmehr schmächtigen Leib seltsam fehl am Platz. Wie es so über die Schultern hin und her schlabbert, meinte man, es würde bei der erstbesten Gelegenheit die Flucht nach unten ergreifen. Schultern, die einem Hemd keinen Halt zu geben vermögen, sind zweifellos unter seiner Würde. Wie an der Wolkenfront, die über Shekhars glatten Wangen aufgezogenen ist, unschwer zu erkennen ist, hat er seit Tagen keine Zeit zum Rasieren gefunden oder es schlicht vergessen. Mag sein, dass er das Gestoppel absichtlich stehen lässt, weil ihm sein verschattetes Antlitz gefällt. Vielleicht findet er ja, das Dreitagetief im Gesicht sorgt für eine gepflegte Melancholie, die seinem bedeutungslosen Dasein das gewisse Etwas verleiht. Will er am Ende nur der eigenen Traurigkeit ins Gesicht sehen?
Kein Zweifel, sich selbst anzuschauen ist ein alter Tick von Shekhar. Das ist mir früher schon aufgefallen, als wir uns beinahe täglich abends bei ihm trafen. Wir lümmelten in einer Ecke des verqualmten Zimmers, während Shekhar kerzengerade auf einem Stuhl saß und rauchte. Sein Gesicht war spiegelglatt. Ich legte meine Hand auf seine Schulter, »Guck mal, wie der sich selbst vergessen kann!«, und zeigte auf Gopal, der auf den großen runden Tisch in der Ecke des Raums geklettert war und mit stampfenden Füßen tanzte. Gopal: Weil er so stämmig gebaut war, nannten wir ihn immer nur den »Ringer«. Unsere Freunde klatschten beschwipst-schwankend im Takt mit.
»Na, willst du dich nicht mal dem Tanz hingeben? Es guckt dir auch niemand zu!« stachelte ich ihn halb im Spaß an. Shekhar lehnte sich zurück und warf mir einen Blick zu, den ich nicht zu deuten wusste. »Ich gucke mir aber zu.« Er schaute hoch zum Kronleuchter direkt über uns, in dem hunderte Shekhars zurückgelehnt im Stuhl saßen.
Seitdem konnte ich von seinem Gesicht ablesen, wann er sich selbst anschaute. Egal was seine Augen zu welcher Zeit taten, selbst wenn sie wie Adleraugen in die Ferne blickten, waren sie doch immer auf sich selbst gerichtet. Sein Blick hätte es nicht gewagt, von dannen zu wandern. Als ich einmal zu Besuch in der National School of Drama war, hatte ich beobachtet, wie die Schauspieler im Schatten der Bäume ihre Sätze einübten. In ihren Gesichtern begegnete mir genau das wieder - ein grenzenloses Bemühtsein und diese auf sich selbst fixierten Augen. Mir wollte schier nicht einfallen, woher mir das nochmal bekannt vorkam. Schließlich platzte der Knoten: Shekhar! Möglich, dass das Bartkostüm Teil einer neuen Rolle war. Aber was bringt es, sich über solche Lappalien den Kopf zu zerbrechen?
Shekhar kreuzte jedenfalls öfters meinen Weg, meist wenn ich unterwegs zum Büro oder nach Hause war, oder wenn es tagsüber irgendetwas zu erledigen gab. Dann wechselte ich oft ein paar Worte mit ihm. Manchmal stellte ich mich aber auch blind. Wenn man so will, gestand ich mir damit nur meine Niederlage ein, denn obwohl ich ihn schon so lange kannte, kam ich nicht an ihn ran. Wann immer ich Shekhar ansah, wurde mir beklommen zumute. Irgendetwas hatte er an sich, das ich nicht zu fassen kriegte. Es war ja nun nicht so, dass alles an ihm seltsam gewesen wäre. Er war auch keine Kuriosität, für die ein besonderes Kunstverständnis vonnöten gewesen wäre. Trotzdem, wie auch immer die Saiten seiner Persönlichkeit gestimmt sein mochten, hatte ich immer den Eindruck, dass kein Ton richtig rauskam. Aus diesem Grund fiel es mir schwer, die ganze Melodie herauszuhören, und in mir blieb der Rest eines Zweifels zurück. Sein Anblick weckte Assoziationen, die aus meiner Sicht gar nichts mit Shekhar zu tun hatten. Der Gestank brennender Blätter, das Klirren von zerspringendem Glas, die ausgeleierte Saite eines Instruments. Nur, was bitte schön hatten diese Dinge mit Shekhar zu tun?
Als ich letzte Woche an der Kreuzung beim Safdarjang-Krankenhaus hielt, stand da direkt vor mir Shekhar. Er wartete wohl darauf, die Straße überqueren zu können. Als die Ampel auf Rot sprang, erstarrte die Autoschlange. Doch anstatt hinüberzugehen, blieb er wie angewurzelt stehen, so als wäre er plötzlich mit einem schwerwiegenden Problem konfrontiert. Offenbar stand er schon eine ganze Weile an der Ampel. Aber gerade in diesem Moment schien er wie von Zweifeln überwältigt, ob er wirklich über die Straße gehen sollte oder doch besser weiter geradeaus.
Die heiße Jahreszeit stand kurz bevor, und die Bäume verloren ihr Blätterkleid. Punkt zwölf begann die Traurigkeit vom Himmel herabzuregnen. Die Stadt ergab sich dann den gelben Blättern, welche sie ganz bedeckten. Niedergestreckt erbebte sie in der Sonnenglut. Die Hitze nahm den Tag hinterlistig ein; nur der Wind bewahrte sich im Kern noch einen Rest Kühle. Trotzdem hatte die Hitze schon soweit den Sieg davongetragen, dass Shekhars schwarze Kleidung den Augen keine Linderung vom grellen Sonnenlicht verschaffte.
Ich streckte den Kopf aus dem Fenster: »Na Kumpel, wohin des Wegs?«
Er starrte mich eine Weile mit ausdruckslosen Augen an. Erkannte er mich etwa nicht? Als er mich hörte, ließ er die schwarze Umhängetasche mit einer raschen Handbewegung hinter seinem Rücken verschwinden, obwohl ich ihr gar keine Beachtung geschenkt hatte. Ich versuchte es nochmal: »Hallo Shekhar, kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«
Dieses Mal umspielte kurz ein vertrautes Lächeln seinen Mund. »Ach du bist's, Vimal!« Der Ton in seiner Stimme kam mir fremd vor. Prüfenden Blicks inspizierte er mein Gesicht, als versuchte er davon abzulesen, was ich wohl gerade über ihn denken mochte. Dann antwortete er zögerlich: »Danke, ich gehe zu Fuß weiter. Ich hab's nicht weit. Wie geht es dir?«
»Naja, es geht so! Sag, wenn du Zeit hast, können wir ja irgendwo einen Tee trinken gehen«, sagte ich fast überschwänglich.
Zum zweiten Mal huschte ein Schatten von Unsicherheit über sein Gesicht. »Nein, heute geht es nicht«, sagte er mit dünner Stimme.
»Wieso? Was gibt's denn Dringendes zu erledigen?« spöttelte ich.
»Ach, nichts Besonderes .« Er quetschte ein fades Lachen heraus, das nicht sein eigenes, sondern das eines anderen zu sein schien, und mit dem er nicht so recht umzugehen wusste. Dann fügte er hinzu: »So komme ich wenigstens mal raus. Du weißt ja, wer rastet, rostet.«
Wieder lachte er dieses durchsichtige Lachen, das verschwand, noch bevor es die Augen erreichte.
Ich hatte wohl den Finger in die Wunde gelegt. Kam man auf dringende Erledigungen zu sprechen, wurde Shekhar unruhig. Seine Augen suchten die Umgebung nach Halt ab, und er setzte alles daran, zu beweisen, dass er wirklich gerade etwas Wichtiges zu erledigen hatte. Mit dieser Angewohnheit waren wir, seine Freunde, wohl vertraut. Mehr noch, wir wussten, woher diese Marotte rührte. Shekhar hatte einen reichen Vater, und er hatte sich nie im Leben um etwas bemühen müssen. Eben weil er nicht darauf angewiesen war, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, hielt er es nicht für nötig, irgendeinen Beruf auszuüben. Alles, was er haben wollte, war immer zu ihm gekommen und nicht umgekehrt. Deshalb bestimmte er auch mit fünfunddreißig noch frei über seine eigene Zeit.
Obwohl ich seine Geschichte kannte, staunte ich immer wieder aufs Neue, wie Shekhars Leben, frei von jeglichem Stress oder Erwartungsdruck, einer Arbeit nachgehen zu müssen, seinen gemächlichen Gang ging. Während die Freunde und ich uns im reißenden Strom des Berufslebens gerade so über Wasser hielten, plätscherte Shekhars Leben, weit weg von der Nichtigkeit unseres Alltags, in ruhigeren Gewässern dahin. Wenn wir sahen, wie leicht sein Leben war, wurden die anderen und ich neidisch. Wir malten uns aus, welche Möglichkeiten uns offenstünden, wenn wir an seiner Stelle wären. Wie viele Träume dann in greifbare Nähe rückten! Auf Shekhar jedoch hatte dieses unbeschwerte Dasein eine gänzlich andere Wirkung. Anstelle eines gesunden Selbstbewusstseins hatte er einen Minderwertigkeitskomplex entwickelt, der sich in einem Schuldgefühl äußerte, jedem immerzu Rechenschaft darüber ablegen zu müssen, was er alles Wichtiges zu tun hatte.
Jetzt bereute ich es, nach der dringenden Erledigung gefragt zu haben. Damit hatte ich ihn unnötig verletzt. Seinen knittrigen Sachen nach zu urteilen hatte er in ihnen geschlafen. Seine Schuhe, die oben offen waren, mussten vor ein, zwei Jahren in Mode gewesen sein, aber sie hatten jegliche Ähnlichkeit mit dem Original verloren, so ausgelatscht, wie sie waren. Mir kam in den Sinn, wie verrückt Shekhar früher nach teuren Schuhen gewesen war. Immer wenn wir über den Bazar bummelten, zog es ihn wie von selbst in Richtung Schuhladen. Und wenn er dann in den neuen Schuhen umherflanierte, waren sie nicht mehr bloßes Mittel zum Zweck, sondern sie entfalteten eine einzigartige Aura. Das beeindruckte uns tief. Wenn wir neue Schuhe trugen, und mochten sie noch so teuer sein, so waren und...
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