Schweitzer Fachinformationen
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EINS
Montag, 20. Januar, irgendwann nach Mitternacht bis mittags
Die Nacht war dunkel, die tief hängende, dichte Wolkendecke ließ kein Mondlicht auf die Erde fallen. Kräftige Windböen peitschten die dicken Regentropfen fast waagerecht durch die Luft. Nur die Laternen entlang des übermannshohen und mit Stacheldraht bewehrten Zaunes, der an der Neufelder Schanze das Gelände um Ports-of-Cux umspannte, spendeten diffuses Licht, das jedoch jeweils nur einen geringen Radius um die Laterne ausleuchtete. Alles, was hinter, neben oder vor diesem kleinen Kreis lag, verschwand in geisterhaftem Zwielicht.
Eine Gestalt stemmte sich gehüllt in eine lange schwarze Regenjacke gegen den Wind und trat in einem dunklen Abschnitt zwischen zwei der Laternen an den Zaun. Vielleicht fünfzig Meter entfernt vor der Gestalt waren die Umrisse abgestellter Lkws zu erahnen, ebenso die hinter dem Zaun dicht an dicht aufgereihten Autos, die auf ihre Verladung auf eines der am Pier festgemachten Autotransportschiffe nach England warteten.
Trotz des immer stärker werdenden Regens schob die Gestalt die Kapuze nach hinten, um besser in die Dunkelheit spähen zu können. Immer wieder schaute sie sich um und tänzelte von einem Bein auf das andere. Mit einer barschen Bewegung hob sie den Arm und warf einen schnellen Blick auf die Uhr am Handgelenk.
»Ganz ruhig. Immer entspannt bleiben«, sagte plötzlich eine tiefe, aber leise Stimme hinter dem Zaun.
Der Mann zuckte erschrocken zusammen. Ruckartig drehte er sich der Stimme zu und suchte den Sprecher in der nebeligen Dunkelheit. »Komm raus«, knurrte er, Selbstsicherheit vortäuschend. »Ich habe nicht ewig Zeit.«
Ein heiseres Lachen erklang, dann trat eine weitere Gestalt aus dem Regendunst. Von dem dunklen Overall aus wasserabweisendem Material perlten die Regentropfen ab, nur die schwarze Schirmmütze war vor Nässe durchweicht. Der Neuankömmling stellte sich breitbeinig vor den Zaun und wartete.
Der andere bekam seine Nervosität langsam unter Kontrolle. »Wo ist das Geld?« Er mühte sich, einen geschäftsmäßigen Ton anklingen zu lassen.
Der Mann im Overall lachte erneut. »Hast du das Produkt?«
»Selbstverständlich habe ich die neue Charge. Erst die Kohle.«
Der andere zog einen Briefumschlag aus einer Tasche des Overalls hervor. Sofort begannen die unaufhörlich niedergehenden Regentropfen das Papier zu durchnässen.
Der Mann in der Regenjacke kramte ebenfalls in seiner Jackentasche und hielt eine kleine, durchsichtige Plastiktüte in der Hand, in der sich ein rundes Plastikgefäß befand. Langsam trat er an den Zaun und streckte die Tüte zwischen zweien der Gitterstäbe hindurch auf die andere Seite.
Der Mann im Overall tat das Gleiche mit dem Briefumschlag. Gleichzeitig griffen die beiden Männer nach der Ware des jeweils anderen.
»Halt. Was ist hier los?« Eine neue Stimme durchbrach plötzlich die Dunkelheit und ließ beide Männer zusammenfahren. Ein Hund bellte.
»Scheiße, ein Wachmann«, jammerte der in der Regenjacke. Er wandte sich ab und lief mit schnellen Schritten die Straße hinunter.
»Stehen bleiben!«, rief die neue Stimme hinter ihm. »Raptor, fass!«
Ein Knurren war zu hören. Mit einem weiten Sprung setzte sich ein großer Hund in Bewegung und schoss wie eine Rakete dem Mann in der Regenjacke hinterher. In demselben Moment, in dem der Hund zum nächsten Sprung ansetzte, krachte ein Schuss. Der Knall ging durch Mark und Bein. Die Kugel traf den Hund auf dem Scheitel seiner Flugbahn in den Bauch. Anstatt den Mann in der Regenjacke anzufallen, stürzte das Tier wie ein Stein zu Boden.
Keuchend kam der Wachmann angelaufen. Er war völlig aus der Puste und verfluchte innerlich die zwölf Kilo Übergewicht, die er tagein, tagaus mit sich herumschleppte. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er den schwer verletzten, wimmernden Hund sah.
»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte er.
Der Mann in der Regenjacke löste sich langsam aus der Starre, in die er gefallen war, als er den Schuss gehört hatte.
»He, Sie da!«, rief der Wachmann. »Hiergeblieben, Freundchen.«
Doch bevor er noch ein weiteres Wort aussprechen konnte, knallte es erneut, und der Wachmann brach zusammen.
»Ach du Kacke«, stöhnte der Kapuzenmann entsetzt, als er im trüben Licht einer dicht am Wachmann stehenden Laterne die Blutlache entdeckte, die sich um dessen Kopf ausbreitete. Der Anblick ließ ihn auf die Knie sinken. Er begann zu würgen und erbrach sich.
Hinter dem Zaun ertönte erneut das heisere Lachen. »Mensch, was bist du für ein Jammerlappen? Reiß dich zusammen.«
Die harschen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Der andere erhob sich, wischte sich mit dem Handrücken Reste des Erbrochenen vom Mund und entfernte sich mit immer schneller werdenden Schritten in Richtung Baudirektor-Hahn-Straße.
»Vergiss unsere Abmachung nicht. In der nächsten Woche erwarten wir die nächste Charge«, rief ihm der Typ im Overall hinterher.
***
Am folgenden Morgen hatten sich die dicken, grauen Wolken, aus denen es in den vergangenen drei Tagen ununterbrochen geregnet hatte, endlich aufgelöst. Nur einige kleine Exemplare wurden von einem frischen Wind über den langsam heller werdenden Himmel geschoben. Mit jeder Minute, in der die Nacht in den Tag überging, veränderten sich die dunklen Konturen zu Hafenanlagen mit Gebäuden, Lagerhallen und Kaimauern. Für Januar waren die Temperaturen sehr mild. Die Wasseroberfläche des neuen Fischereihafens kräuselte sich im Wind. Kleine Wellen schlugen gegen die Bordwände der Fischkutter, die an den Fischhallen festgemacht hatten. Im Schwimmdock von Empting lag die »Jan Cux II« und wurde für die nächste Saison fit gemacht. Von den Dächern der Gebäude stoben ein paar Lachmöwen auf und zogen kreischend ihre Bahnen.
Im vorderen Bereich des Hafenbeckens, dort, wo gewöhnlich die Schiffe der Bundespolizei anlegten, herrschte trotz der frühen Morgenstunde hektische Betriebsamkeit. Bereits am Tag zuvor war dem Wetter zum Trotz ein Schwimmkran hierher verbracht worden. Der Ausleger ragte über das Wasser hinaus, und schwere Gurte, befestigt an einem riesigen Haken, senkten sich langsam bis auf die Wasseroberfläche hinab.
Noch bevor die Gurte ins Wasser eintauchten, öffnete sich das innere Tor der Seeschleuse, und der Schlepper »Wulf 4« schob sich langsam in das Hafenbecken. Das bullige Schiff hielt auf den Schwimmkran zu und machte kurze Zeit später direkt dahinter fest.
Auf der gegenüberliegenden Seite, wo der Lotsenversetzer »Döse« lag, drängte sich eine kleine Gruppe Schaulustiger, die, mit Kameras und langen Objektiven bewaffnet, auf die anstehenden Aktivitäten warteten.
Vor zwei Tagen war der hier schon seit Jahren liegende und langsam verrottende Krabbenkutter »Emma V« gesunken. Der alte Eigner des Kutters war lange tot, es gab keine Erben, und auch sonst hatte sich niemand für den einstmals stolzen Kutter interessiert. Nun lag das Wrack auf dem Grund des Hafenbeckens und blockierte gleich mehrere Liegeplätze. Da außerdem die Gefahr bestand, dass das Schiff auseinanderbrach, hatte die Hafenbehörde beschlossen, es schnellstmöglich zu heben und abwracken zu lassen.
Vom Schlepper ließen sich mehrere Taucher in das trübe, kalte Wasser gleiten und versanken unter der Oberfläche. Sie hatten die Aufgabe, zuerst die Hebesäcke am Rumpf anzubringen - lange Würste, die man später mit Pressluft aufblasen würde -, um dem Wrack Auftrieb und Stabilität zu geben. Anschließend würden sie die Gurte befestigen, an denen der Kutter aus dem Wasser gehoben werden sollte. Die Konzentration der Männer im Wasser und an Land war fast mit Händen zu spüren. Auch wenn Schiffsbergungen für alle Beteiligten nicht unbedingt etwas Neues waren, so war doch jeder Einsatz eine neue Herausforderung.
Hinter dem Schlepper war noch ein Schlauchboot der DLRG aus dem Schleusenbecken in den Hafen eingelaufen. Die Wasserretter waren zur Sicherheit da, sie würden eingreifen, sollte einem der Taucher etwas zustoßen.
Ein Mann mit leuchtend gelber Warnweste dirigierte auf dem Pier einige Mitarbeiter des Schwimmkrans zur Seite, um einem soeben eintreffenden Feuerwehrfahrzeug Platz zu machen. Dahinter rollten ein Krankenwagen und ein Fahrzeug der Polizei vor.
Die Wagen hielten, Männer und Frauen stiegen aus und sahen sich neugierig um.
»Moin«, begrüßte sie der Polizist in Zivil, kaum dass er selbst aus dem Polizeiwagen gestiegen war. Sein Kollege Martin Greiner saß noch im Auto und telefonierte.
Arne Olofsen war eigentlich Hauptkommissar im Fachkommissariat 1 der Polizeiinspektion Cuxhaven, und somit fiel die Aufklärung von Kapitalverbrechen wie Mord in seinen Aufgabenbereich, aber nicht unbedingt die Absicherung von Schiffsbergungen. Allerdings begeisterte ihn das maritime Leben der Stadt. Er hatte sich nahezu aufgedrängt, heute Morgen dabei sein zu können. Zusammen mit Martin Greiner bildete er ein eingeschworenes Team.
Olofsen schüttelte ein paar Hände, wechselte das eine oder andere Wort und machte sich dann eiligst auf die Suche nach dem technischen Einsatzleiter für die Bergung. Er fand ihn an Bord des Schwimmkrans. Der Mann saß gerade am Fahrstand des Krans und hielt eine Thermoskanne mit Kaffee in der Hand, als Olofsen eintrat. Fragend sah der Einsatzleiter seinen Besucher an.
»Mächtig was los hier am frühen Morgen«, sagte Olofsen gut gelaunt und streckte die Hand aus. »Olofsen, Polizei Cuxhaven.«
Der andere entspannte sich.
»Ah, ich dachte schon, einer der Zaungäste hätte einen Weg hinter die Absperrungen...
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