Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
HABE ICH MAMA GELIEBT? Das kann ich mich selbst fragen, wieder und wieder.
Wenn ich mich darüber freute, sie zu sehen, dann, weil ich geplant hatte, etwas für sie zu tun. Etwas, das ihr gefallen würde, etwas, über das sie sich freuen würde. Ich lebte mit dieser ewig langen Hoffnung, sie zufriedenstellen zu können, ihren Tag gut werden zu lassen, ihr eine schöne Erinnerung zu geben, mit der sie weiterleben könnte. Vor allem jetzt, wo sie älter wurde, war das so.
Als sie jünger war, war sie immer in Fahrt, immer war etwas los, und ich musste sehen, wie ich mit ihr Schritt hielt. Sie verlangte wenig, sie lebte ihr eigenes Leben, nach ihren eigenen Prämissen. Aber als sie damit aufhörte, so ungefähr mit sechsundsechzig, wurden andere Saiten aufgezogen.
Von nun an redete Mama über den Tod, sie war jetzt in Rente und in eine Sozialwohnung gezogen. Alles in Schränken und Schubladen war jederzeit sorgsam aufgeräumt und geordnet, und alles Überflüssige wurde weggeworfen.
»Dann wird es für dich und Elin einfacher, euch zurechtzufinden, wenn ich tot bin.«
Fünfzehn Jahre vergingen dann noch, ehe Elin und ich uns mit diesen Schränken und Schubladen befassen mussten. Fünfzehn Jahre lang war Mama bereit.
Sie warf immer wieder etwas weg und hatte ganz hinten in Schränken und Schubladen gar nichts liegen. Das Einzige, was sie nicht wegwarf, auch wenn sie es in der nächsten Zukunft nicht brauchte, waren Kleider für die verschiedenen Jahreszeiten, eine kleine Schachtel mit Christbaumschmuck und Bücher. Was Kleider angeht, ist das allerdings nicht die ganze Wahrheit.
Der Winter überraschte sie immer vollständig, die Winterkleider aus dem Vorjahr waren verschlissen, da sie immer nur das Billigste kaufte, von Stiefeln bis zu Jacken. Sie kaufte ihre Sachen nie im Winterschlussverkauf, so verdrängte sie den Gedanken an einen weiteren Winter und wollte nichts damit zu tun haben, bis sie im Herbst in Matsch und Schnee mehrere Paar Sommerschuhe ruiniert hatte. Erst dann griff sie mutlos und widerwillig zu den verschlissenen Kleidungsstücken aus dem Vorjahr, bis sie sich dann geschlagen geben und neue Stiefel und eine neue Jacke kaufen musste, die billigsten, die sie finden konnte.
Sie fror den ganzen Winter hindurch, weil ihre Neueinkäufe von so elender Qualität waren. Sie durchlitt jeden einzelnen Winter und lief fluchend in Stiefeln umher, die Wasser aufsogen wie ein Schwamm, hin und her zu den beiden extravaganten Solariumstunden der Woche, bloße Zehen in den Stiefeln, niemals Strümpfe oder Strumpfhose unter der langen Hose, bis das Thermometer unter zehn Grad minus sank. Es war einfach, ihre kleine Wohnung zu leeren, ihre Habseligkeiten zu verteilen, zwischen Müllcontainer, Kartons, die wir mit nach Hause nehmen wollten, und Nachbarn, Freundinnen und dänischer Verwandtschaft, denen sie etwas hinterlassen wollte.
Einen Teil des Hausrats gaben wir dem Hausmeister im Stovner Senter 14, er war auch zuständig für Nummer 16. Und er hatte gern einen kleinen Vorrat von notwendigen Dingen, da neue Bewohner oft eingewiesen wurden, ohne irgendetwas mitzubringen, nicht einmal eine Kaffeekanne, ihnen wurden die Wohnungen von Menschen zugeteilt, die verstorben oder im Krankenhaus oder in der Psychiatrie gelandet waren, hier wohnten Drogensüchtige und psychisch Kranke, und der Feueralarm lief fast ohne Unterbrechung.
Der Hausmeister sollte Tassen und Teller und Besteck bekommen, Bügeleisen und Bügelbrett, Kochtöpfe und Bratpfanne und Stövchen und Bettwäsche, um das alles weiterreichen zu können, er bekam sogar Mamas Bett. Er kam summend mit einer großen Schubkarre aus dem Fahrstuhl und lud sie voll, sorgfältig und umständlich, damit auf der langen Fahrt fünf Stockwerke nach unten nichts herunterfallen konnte.
Elin und ich hatten von allem genug. Und Mama besaß weder Dachbodenraum noch Kellerverschlag, nur einige kleine Schränke. Hier gab es für Elin und mich wahrlich keine Kartons voller Kindheitserinnerungen zu holen, keine alten Muttertagskarten oder Kinderkleider oder Puppen und Spielzeug, über die wir in Nostalgie versinken könnten.
Einmal hatte ich mehr Zeit als sonst gehabt, als ich beruflich in Oslo gewesen war, es war sicher aufgrund eines abgesagten Interviews zwischen vielen anderen gewesen, und ich kam mit dem Taxi zur unangemeldeten Stippvisite, ich brachte Sushi und Kuchen aus dem Deli de Luca mit. Neben dem Rollator stand auf dem Gang ein schwarzer Müllsack.
Ich schaute kurz hinein.
»Fotoalben?«, fragte ich.
»Hm .?«
»Du kannst doch keine Fotoalben wegwerfen!«
Ich nahm das oberste heraus. Es war von der Reise nach England, die Mama und Elin unternommen hatten, als Elin fünfzehn war. Mama hatte zwei Jahre lang gespart, sie brauchten nur die eigentliche Reise zu bezahlen, sie konnten bei Mamas Jugendfreundin Audrey in Southampton wohnen und essen.
»Lass das liegen. Können wir zum Sushi Tee trinken? Geht das? Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich doch eine Flasche Limonade gekauft. Oder Wein.«
»Mama! Du kannst doch nicht einfach ein Fotoalbum wegwerfen!«
»Ich werde nur traurig, wenn ich reinschaue. Und ich schaue ja auch gar nicht mehr rein, ich werde schon traurig, wenn ich die Alben nur da liegen sehe. Das Leben, das vergangen ist, wie munter wir waren, wie schön alles war.«
»Hast du Elin gefragt, ob sie das Album vielleicht haben will?«
»Nein.«
»Ich finde, das solltest du aber tun.«
»Sicher. Aber sie ist ja immer so beschäftigt, ich sehe sie so selten.«
Tatsache war, dass Elin sie fast jeden Tag anrief oder bei ihr vorbeischaute, sie wohnte nicht sehr weit entfernt. Elin und ich lachten oft darüber, am Telefon, das mussten wir, wir mussten einfach darüber lachen, uns blieb nichts anderes übrig, und es ist fast nicht zu fassen, dass Mama nicht begriff, dass wir ihren Bluff durchschauten, dass er für immer entlarvt war, jedes Mal, wenn sie das sagte.
Aus dem Taxi zurück zum Hotel rief ich Elin an und erzählte von den Alben, sie konnte einen Tag später einige retten, nahm sie mit nach Hause, aber nach Mamas Tod entdeckten wir, dass noch weitere Alben verschwunden waren.
Wenn Fremde in die Wohnung gekommen wären und hätten raten sollen, was für ein Mensch dort wohnte, dann hätten sie auf eine viel jüngere Person getippt. Mama besaß nicht mehr als eine gut ausgerüstete Bewohnerin eines Studentenheims, aber die Wohnung war gemütlich und einladend, mit ihrem eng stehenden Schatz an grünen Pflanzen vor dem einen kleinen Wohnzimmerfenster zum Balkon, und den Büchern vom Boden bis zur Decke. Bücher und Pflanzen und ein brauchbarer Fernseher, dessen Bild nicht schlingerte und dessen Ton nicht aussetzte, das war das Wichtigste für sie.
An Esstellern mit identischem Muster gab es höchstens drei, die Bratpfanne war unten verbeult und von der billigsten Sorte, Mama besaß drei kleine Kochtöpfe, aber sie konnte in einer Wohnung von achtunddreißig Quadratmetern auch keine großen Feste veranstalten. Die Fremden hätten sicher auch bemerkt, dass es eine ziemlich saubere Wohnung war, und daraus vielleicht geschlossen, dass hier doch kein ganz so junger Mensch wohnte.
Bücher waren das, wovon sie am meisten hatte. Sie waren ihr liebster Besitz, sie lebte und atmete für Belletristik, für Romane und Poesie. Sie liebte klassische Lyrik, ganz besonders Herman Wildenvey, Karin Boye, Emily Dickinson, Steen Steensen Blicher. Als ich eine Biografie über Sigrid Undset für Jugendliche schrieb, stellte ich fest, dass Steen Steensen Blicher auch ein Lieblingsautor von Sigrid Undset gewesen war, und Mama fühlte sich sehr geschmeichelt.
»Da siehst du, Anne«, sagte sie. »Mein Literaturgeschmack liegt doch nicht so ganz daneben, sie hat ja schließlich den Nobelpreis bekommen.«
Außerdem besaß und liebte Mama Sachbücher über alles vom Tal der Könige in Ägypten und Petra in Jordanien bis zu den Maya, aber in den Orten, über die sie las, musste es warm sein. Ihre Abscheu vor Kälte führte auch dazu, dass mehrere meiner Romane, die sie immer als Manuskript lesen durfte, ihr eine unerwartete Gänsehaut bescherten. Sie konnte nicht fassen, dass ich es auch nur über mich brachte, über Kälte zu schreiben, ganz zu schweigen davon, dass ich sie noch dazu aufsuchte, und sie deutete eine mögliche Vertauschung auf der Wochenstation an.
Sie sammelte auch Bücher über bildende Kunst. Marc Chagall war ihre große Leidenschaft, sie identifizierte sich stark mit ihm, immer ein Heimatloser zu sein, immer anderswo sein zu wollen, immer mit geräuschvollen Kindheitserinnerungen umgehen zu müssen. Als ich in den Neunzigerjahren einmal nach Berlin musste, während dort gerade eine große Chagall-Ausstellung gezeigt wurde, und als ich ihr erzählte, dass ich kehrtgemacht hatte, als ich die lange Schlange sah, die bei sengender Sonne vor dem Eintrittskartenschalter stand, knallte sie den Hörer auf die Gabel und ging tagelang nicht ans Telefon.
Sie räumte ihre Bücherregale in regelmäßigen Abständen um, neue Regale wurden dort angebracht, wo noch Platz war, und alle paar Monate wurde ein Buch nach dem anderen sorgfältig staubgesaugt und abgewischt. Dafür konnte sie mehrere Tage brauchen, sie vertiefte sich in einzelne Bücher und setzte sich damit hin und blätterte hin und her, bis sie die ganze Geschichte wieder klar im Kopf hatte. Sie warf Bücher niemals weg, aber oft verschenkte sie eins und sagte:
»Das habe ich viermal gelesen, jetzt kannst du es haben.«
Das passierte zum Beispiel mit Marc Chagalls »Mein Leben«.
Das war...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.