Ich bin zu Besuch in Bergen, in Møhlenpris, bei einem fünf Wochen frischen Geliebten, der sehr gut verdient, das meiste jedoch langfristig in Aktien und Fonds investiert hat, und deshalb in einer winzigkleinen Mietwohnung lebt, ohne Balkon oder eine nette Sitzbank vor der Sonnenwand. Ich bin erwachsen, die Sonne scheint. Ich sollte in der Wohnung sitzen und mein Notebook mit Betrachtungen über das Rentierkalb füllen, aber die Sonne ruiniert alles. Ich muss Wasser sehen. Wasser und Sonne gehören zusammen. Ich denke nicht an Treppen und Mauern, jetzt nicht, nicht, als ich die Wohnung verlasse. Doch als ich in einem scheinbar undurchdringlichen Dschungel aus Werkstätten, Lagerhäusern und anonymen Schuppen nach dem Puddefjord suche, ertappe ich mich beim Gedanken an – eben – Zement. An eine graubraune, sonnenwarme aus Zement gegossene Treppe, wo ich ganz oben sitzen kann; dieser Gedanke macht mich traurig, denn hier gibt es nur Werkstätten und Ufer vor den mit grünen Büschen bewachsenen Kanten, die steil in den drei Meter tiefer gelegenen Puddefjord fallen. Ich habe mir eine vulgäre 1,5-Literflasche-Mack-Sommerbier gekauft, die anderen Flaschen im Laden waren nicht gekühlt, und diese Flasche schwinge ich im Gehen hin und her, halte sie zwischen Mittel- und Zeigefinger. Der Asphalt brennt durch die Sohlen meiner Stoffschuhe, aus der Ferne höre ich das Schnattern der Kanadagänse im Nygårdspark, und ich denke mir, wie unüberlegt ich doch zu diesem Sommerbesuch bei einem Liebhaber aufgebrochen bin, der selber gar keinen Urlaub hat und dazu nicht einmal über Balkon oder Garten verfügt, und ich ärgere mich, weil ich ja eigentlich schreiben müsste. Doch dann erreiche ich eine offene Fläche, und an ihrem Ende: eine Mauer. Ein Eisengeländer. Eine Treppe, die zum Puddefjord hinunterführt. Und mir fällt alles wieder ein, und ich wage es, mich zu freuen.
Die Sonne knallt. Es sind bestimmt vierzig Grad, und ich finde keinen Schatten für mein Bier. Ich sitze. Ich rutsche mit dem Hintern auf dem Zement herum, halte mich am Geländer fest, schließe die Augen und lasse grünes Schimmern der Sonnenreflexe im Wasser durch meine Augenlider sickern, und das Glücksgefühl, das mich durchströmt, ist so total und alt, wenn ich die Zeitperspektive in meinem eigenen Leben in Betracht ziehe, dass ich das Gefühl habe, voll in die Kloake zu stürzen.
Das ist das hier nämlich. Ein Kloakenablauf. Die Treppe, auf der ich sitze, führt glatt ins Wasser, oder sollte ich sagen, ins Nichts? Aber alles ist einwandfrei vorhanden. Ohne, dass es etwas bedeuten würde. Ich kann es kaum riechen. Ich öffne die Bierflasche, hebe sie mit beiden Händen zum Mund, und der Geschmack vermischt sich mit den Sonnenreflexen, und alles ist pures Glück, und ich denke: Wer mag an einem solchen Tag schon Schriftstellerin sein! Wer mag an einem solchen Tag schon in einer düsteren, knallheißen Wohnung sitzen und lyrische Texte über Svalbard verfassen !
Das Geländer müsste angestrichen werden. Ich finde es schön, dass es nicht angestrichen ist, dass niemand hier eingreift, dass das vermutlich ein unberührter Flecken ist, vielleicht einer der letzten unberührten Flecken in dieser Stadt, so unberührt, dass niemand sich die Mühe gemacht hat, die zuständige Stelle auf das unangestrichene Eisengeländer hinzuweisen. Es fühlt sich genauso an, wie es sich anfühlen soll. Ich umfasse es mit meinen Fingern, und die Finger gehören einem kleinen Mädchen, so klein, dass sie das Leben nicht in Worte fassen konnte, aber trotzdem hoffte, es eines Tages zu schaffen. Und ich lasse meinen Blick zu meinen Fingern wandern und betrachte sie, stelle fest, dass sie endlich zu einer erwachsenen Frauenhand geworden sind, und dass ich es inzwischen schaffe, Sprache und Gedanken zu paaren, sogar in Situationen, in denen ich nicht ein einziges Wort schreibe.
Ich bin glücklich. Eigentlich muss ich das noch einmal sagen. Obwohl wir beim Schreiben die Dinge ja nicht sagen, sondern zeigen sollen, das haben wir von Hemingway gelernt. Und das Beste von allem: Ich bin pflichtvergessen weggelaufen und habe das hier gefunden! Ich hätte auch ausbüxen und eine lebhafte kleine Bierkneipe finden können. Dafür habe ich nämlich eine Nase. Vermutlich hätte ich dann vergessen, dass ich Sonne und Wasser suchte; ich hätte mich in der Kneipe amüsiert und mit alten alkoholisierten Bergensern gesprochen, die mit ihren Erlebnissen als Kriegsmatrosen prahlten, und ich hätte »gute Güte« und »meine Herrn, die Lerche«, und »einfach tierisch« gesagt und alles geglaubt, was sie über die Konvois nach England erzählten, und ihnen von meinem Stipendium einen Schnaps spendiert, und sie für einen Moment mit der Nachricht enttäuscht, dass ich Erik Bye nicht kenne, obwohl einer von ihnen schon geglaubt hat, mich im Fernsehen gesehen zu haben, und dann hätte ich ihnen abermals zugeprostet, und mir wäre vielleicht eine Idee für eine Novelle oder eine Glosse gekommen, und es wäre wunderschön gewesen. Aber stattdessen sitze ich hier. Das Bier findet keinen Schatten. Es muss getrunken werden. Der Puddefjord ist offen und liegt in der Sonne. Er muss betrachtet werden. Und die Treppe unter mir … nein, ich will nichts mehr über die Treppe sagen. Abgesehen davon, dass man in Bergen doch irgendwie anders schreibt als anderswo.
Ich höre sie, noch ehe ich sie sehe. Ich habe die Augen noch geschlossen, und das Glücksgefühl ist noch immer sehr stark; es liegt nicht an der Kloake, dass ich sie nicht öffnen mag.
»Hier, Tövchen. Hier kommen wir ans Wasser.«
Die Stimme eines älteren Mannes. »Hiiiiier, Tööövchen«. Schnarrendes R und gedehnte Vokale, die sich trotz ihrer Breite vornehm anhören.
»Ja, du hast Recht. Und es gibt auch eine Treppe.«
Heisere Frauenstimme. Vom Rauchen heiser. Ich drehe mich nicht um, hoffe noch immer, dass die beiden in meinem Klosterdasein nur ein kleines Intermezzo darstellen, aber ihre Schritte kommen leider immer näher.
Also trinke ich noch einen Schluck Bier, um klarzustellen, dass ich nun einmal hier sitze und mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt bin, und mir ist nur zu bewusst, dass ich die ganze oberste Treppenstufe besetze und damit den Weg zum Wasser und zu den anderen Stufen versperre, aber daran will ich auch nichts ändern, ich war ja schließlich zuerst hier.
Plastikgeräusche, Gepäckgeräusche, Tüten, wie nach einem Einkaufsbummel, und jetzt hilft alles nichts mehr, ich schaue mich kurz um. Und mit der Fähigkeit der Schriftstellerin, in Sekundenschnelle ein breites Szenario zu erfassen, starre ich abermals in die Kloake und frage mich, warum ein älterer Mann und eine jüngere Frau mit zwei riesigen Einkaufstüten von Tybring-Gjedde und einer kleineren Tüte ohne Werbeaufdruck sich dermaßen über einen Zugang zum Wasser freuen. Sie sind nicht einmal mit dem Auto gekommen, sondern haben offenbar ihre Tüten von der Bushaltestelle bis hierher geschleppt. Und da sie nur vier Meter von mir entfernt sind, überlege ich jetzt, ob es unhöflich ist, sie nicht anzusprechen. Das ist so, als ob einem mitten im Hochgebirge Leute begegnen. Wir begrüßen sie, obwohl es Fremde sind, wir reden sogar mit ihnen und trinken vielleicht eine Tasse Thermoskaffee. Und dieser unberührte Flecken am Puddefjord wird zum Hochgebirge, es führt kein Weg daran vorbei, ich drehe mich um und lächele und sage hallo.
Die Frau streicht sich die Haare aus der Stirn, sie hört nichts, denn sie bückt sich gerade und zieht zwei große, farbenfrohe Teile aus den Tüten. Ihr Hintern steckt in dunkelblauen Shorts, auf die die Sonne brennt, an ihrer Nasenspitze hängt ein Schweißtropfen. Der Mann lächelt und nickt mir langsam zu. Er ist elegant angezogen. Weißes Hemd, helle Hose, helle Schuhe und eine jugendliche Schirmmütze, die seine Augen in Schatten taucht. Er hilft der Frau nicht beim Auspacken, sondern sieht mich lange an. Sein Blick ist wachsam, wach.
»Schön ist’s hier«, sagt er.
Ich kann keine Antwort geben, ich bin mit Glotzen beschäftigt: Das, was die Frau aus den Tüten zieht, sind zwei plattgedrückte Gummiboote. Und eine Pumpe von der Sorte, mit der Gummimatratzen aufgepumpt werden. Sie macht sich an einer transparenten Öffnung zu schaffen und presst das Mundstück der Pumpe hinein, richtet sich auf, sieht den Mann an, der plötzlich kleiner ist als sie, und sagt:
»Jetzt drück schon!« Sie hat ein fleischiges Gesicht mit dicken Lippen. Sie sind nicht geschminkt, aber etwas an ihrer Farbe verrät mir, dass sie regelmäßig mit wütendem Rot gefärbt werden.
Der Mann zeigt keine Reaktion. Sie stößt ihn an. »Mit dem Fuß. Na los!«
Loooooous! Er wendet seinen Blick von mir ab und macht mit dem Knie in einem lächerlich scharfen Goofy-Winkel eine langsame Pumpbewegung. Die Frau faltet das zweite Gummiboot auseinander. In den Booten, die nicht größer sind als ein mittelgroßes geschlachtetes Schwein, sollten eigentlich Kinder unter erwachsener Aufsicht am Strand herumplatschen. Das Seesicherheitsamt würde sie in dieselbe Sicherheitsklasse einsortieren wie einen Joghurtbecher.
Ich schaue auf das Wasser. Es ist ganz ruhig. Beruhigend ruhig und sonnenweiß. Aber trotzdem kann ein Schiff kommen, dessen Schraube die Wassermassen in einen wilden Sog verwandelt.
Ich schaue wieder den Mann an. Er pumpt und erwidert meinen Blick. Inzwischen hat auch er sich eine schweißnasse Stirn erarbeitet. Sein Fuß bewegt sich auf und ab. Ich trinke einen Schluck Bier und frage: »Wollen Sie einen Bootsausflug machen?«
Der Mann nickt und lächelt. »Es ist so schönes...