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Will noch schnell etwas erledigen. Ehe du fährst.«
Torunn hatte nicht gehört, dass der Vater auf dem Hof hinter sie getreten war. Der Neuschnee dämpfte die Geräusche.
»Ist es nicht nett, am Küchenfenster zu sitzen und ihnen zuzusehen?«, fragte sie. »Sie kommen einfach nicht, wenn das Vogelbrett leer ist.«
»Wir wickeln sonst immer nur ein bisschen Bindfaden um einen Rest Speck und hängen den auf. Aber sie haben jetzt länger Hunger leiden müssen. Das hat immer... Mutter hat sich normalerweise um so etwas gekümmert.«
Sie war noch im Laden gewesen und hatte ein letztes Mal eingekauft, bevor sie und Erlend und Krumme sich auf den Weg machten; sie nach Oslo, Erlend und Krumme zurück nach Kopenhagen. Sie wollte, dass es im Haus gutes Essen gibt, Essen, das ihr Vater sich niemals leisten würde. Erlend hatte versprochen zu bezahlen. Carte blanche hatte er ihr ins Ohr geflüstert, bevor sie zu Coop in Spongdal gefahren war. Sie freute sich darüber, denn auf ihrem Konto war gerade genug Geld für die Januarrechnungen, auch wenn sie nun Mitbesitzerin einer Kleintierpraxis war. Onkel Erlend, dachte sie, es war seltsam, plötzlich einen Onkel zu haben, der nur drei Jahre älter war als sie selbst. Der kleine Bruder des Vaters, der den Hof zwanzig Jahre zuvor in trotziger Selbstbehauptung verlassen und der wohl nie damit gerechnet hatte, nach so langer Zeit zurückzukehren, um hier Weihnachten zu feiern, noch dazu mit seinem Lebensgefährten. Und dann war es gerade Erlend, der verlorene Sohn, der von den drei Brüdern sein Leben wohl am besten meisterte. Erlend war glücklich, er liebte und wurde geliebt, und er hatte finanziell keinerlei Probleme. Erlend hatte ihr erzählt, Krumme sei das, was man in Dänemark hovedrig nannte, »hauptreich«, und dieses Wort fand er wunderbar.
Margido konnte sie einfach nicht Onkel nennen, auch wenn er das war. Vielleicht machte sein Beruf ihn so unnahbar, die Tatsache, dass er alle Gefühle unter Kontrolle halten musste. Mit trauernden Menschen umzugehen und zugleich perfekte Beerdigungen von kürzlich Verstorbenen zu arrangieren, trug möglicherweise dazu bei, dass er sich daran gewöhnt hatte, mit seinen Gedanken allein zu leben. Allein die Tatsache, dass er schon seit Jahren gewusst hatte, was auf Neshov wirklich passiert war, dass so vieles auf Lügen aufbaute, dass der Mann, den sie Vater nannten, gar nicht ihr Vater war. Margido hatte es gewusst, hatte aber weder Tor noch Erlend etwas davon gesagt. Stattdessen war er ihnen nur ausgewichen. Er stellte sich diesem Teil der Wirklichkeit einfach nicht. Bis zum Heiligen Abend, da war er dazu gezwungen gewesen.
Sie dachte über alle nach, während sie zwischen den Regalen im Supermarkt hin und her ging, ihren Einkaufswagen schob und versuchte, sich zu erinnern, was noch im Kühlschrank lag. Und sie dachte an das Schweigen, das dann gefolgt war, an den ersten Weihnachtstag, die merkwürdig krampfhaften Versuche einer Normalisierung. Das Gerede über Wetter und Temperaturen! An diesem Tag war ihr aufgegangen, dass sie hier auf diese Weise überlebt hatten, sie hatten um den heißen Brei geredet, nur so hatten sie ihre eigene Wirklichkeit erschaffen. Das, worüber nicht geredet wurde, existierte nicht. Ihr Vater hatte den Alten weiterhin als Vater bezeichnet, und auch sie selbst hatte sich angepasst und an ihn als an ihren Großvater gedacht. Und der Großvater hatte nicht widersprochen, er hatte wohl das Gefühl, genug gesagt zu haben, vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben.
Sie füllte den Einkaufswagen mit Lebensmitteln, und als sie sich vorstellte, wie der Vater in wenigen Stunden allein am Küchentisch sitzen und über die weiße Halbgardine aus Nylon hinaus auf den Hofplatz blicken würde, kam sie auf die Idee, auch das Vogelbrett zu füllen.
Sie hatte vier Meisenkugeln in grünen Plastiknetzen und einige Tüten ebenso verpackte Vogelnüsse gekauft. Die Meisenkugeln befestigte sie nun mit Bindfaden und Heftzwecken am Baum mitten auf dem Hofplatz, ihre Finger waren schon benommen von der Kälte. Auf dem Vogelbrett hatte sie altes Brot zerkrümelt.
»Vergiss nicht, Brot nachzufüllen, wenn das hier weg ist«, sagte sie. »Die Spatzen wollen beim Essen aufrecht sitzen, nur die Blaumeisen bringen es über sich, mit dem Kopf nach unten um sich selbst zu wirbeln, während sie ihre Mahlzeit genießen.«
Sie lachte ein wenig, hörte selbst, wie ihr Lachen falsch und hohl klang. Sie würde nach Hause fahren, nach Hause, nach Oslo und zu ihrer Arbeit, sie würde diesen Hof in der Nähe von Trondheim verlassen, auf dem sie noch vierzehn Tage zuvor nichts verloren zu haben geglaubt hatte. Ein anderes Leben, eine andere Zeit, fast. Und übermorgen war Silvester, ein neues Jahr würde den Absprung wagen.
»Du rufst sicher an«, sagte er plötzlich mit belegter Stimme. Sie hörte sehr gut, dass die Sache mit den Vögeln ihm jetzt egal war. Ohne dass sie sich umzudrehen brauchte, wusste sie, dass er mit dem einen Holzschuh im Schnee scharrte, vermutlich mit dem rechten und dass er so fest zutrat, dass der Neuschnee sich flaumleicht an die grauen Wollsocken heftete, die er immer in Holzschuhen und in Stallstiefeln trug.
Sie drückte die letzte Heftzwecke fest und hatte plötzlich das Gefühl, Bäumen das Leben zu nehmen, indem sie ihnen Kupfernägel in den Stamm schlug, wodurch sie an Vergiftung starben. Vielleicht enthielten auch Heftzwecken ein wenig Kupfer, und dann ermordete sie hier soeben den Schutzbaum von Neshov, und den Hofwichtel gleich mit, denn der wohnte unter dem Baum, und wenn der Baum starb, dann starb auch der Wichtel.
»Natürlich rufe ich an. Ich rufe an, sowie ich zu Hause bin«, sagt sie, obwohl sie sehr gut wusste, dass er es nicht so gemeint hatte.
»Haben Dreckswetter gemeldet. Und du musst doch fliegen«, sagte er.
»Es wird schon gut gehen. Keine Sorge.«
Die Meisenkugeln hingen still und grün dicht nebeneinander. Sie musste sich umdrehen, und er stand so da, wie sie erwartet hatte. Ein Halbkreis aus Neuschnee war vor seinem rechten Holzschuh gezogen, seine Hände steckten in den Taschen einer karierten Wollhose, die Strickjacke baumelte schlaff und locker um einen dünnen Körper, einen Körper, der in vier Jahren sechzig werden würde, ihr Vater, es war nicht zu fassen.
»Bist du schon mal geflogen?«
»Sicher doch«, sagte er.
Er ging zum Vogelbrett und zerbröselte die Krümel noch weiter, ließ einige in den Schnee fallen, die Krümel verschwanden und hinterließen winzige blauweiße Löcher. Seine Ellbogen zeichneten sich spitz unter der Jacke ab, die vorne lang und hinten kurz war. Die Wollmaschen an den Ellbogen waren abgenutzt und zeigten das karierte Flanellhemd darunter. Ein Pullover, vielleicht sollte sie ihm einen warmen Wollpullover stricken und darauf bestehen, dass er ihn im Alltag trug. Aber was würde es schon helfen, wenn sie sich am Telefon aus Oslo vor Anstrengung den Mund fusselig redete, dachte sie, hier auf dem Hof wird ja doch das Schöne weggelegt und aufgespart, für Tage, die niemals kommen.
Er würde so entsetzlich allein sein, nur mit dem alten Mann im Fernsehzimmer zur Gesellschaft. Aber er hatte ja die Schweine im Stall. Die hat er immerhin, dachte sie. Sie musste die Sprache auf die Schweine bringen, darauf, dass sie im Stall standen und auf ihn warteten.
»Bin doch nach Nordnorwegen und zurückgeflogen, als ich beim Militär war«, sagte er.
Er wühlte nun nicht mehr in den Krümeln herum, wischte sich die Hände ab, steckte sie wieder in die Hosentaschen und schaute zum Himmel hoch.
»Das hatte ich vergessen. Da musstest du natürlich fliegen«, sagte sie.
»Mit einer Hercules. Verdammter Krach in so einer Maschine. Wäre auch fast erfroren. Flog so langsam, ich dachte, wir würden gleich zu Boden gehen.«
Dazu könnte sie mehr sagen, gerade jetzt, sagen, dass er sie dort oben gezeugt hatte, auf Urlaub in Tromsø, zusammen mit einem Mädchen, das Cissi hieß, und das danach die lange Reise nach Neshov angetreten war, schwanger, nur um zu erleben, wie die Frau, die es für seine angehende Schwiegermutter gehalten hatte, es wieder wegschickte.
»Ich habe auch für euch viel gutes Essen gekauft, nicht nur für die Vögel«, sagte sie.
Er schwieg eine Weile. Da standen sie nun und glotzten in unterschiedliche Richtungen. Sie atmete tief durch, über den Bergen und dem Fjord unten im Süden lag das Morgenlicht, die Sonne verbarg sich hinter einem rosablauen Frostschleier. Sie wünschte, sie säße schon im Auto, mit ihrem Gepäck im Kofferraum, unterwegs nach Værnes und Gardermoen und Stovner.
»Schade, dass du fährst. Der Januar ist immer schrecklich lang. Dieses Jahr wird er besonders lang.«
»Da bist du nicht der Einzige. Niemand kann den Januar leiden«, sagte sie.
»Rechnungen und Jahresbilanzen und der ganze Mist. Auch wenn Erlend und der Däne ... Ach, dass das nötig sein muss.«
Erlend und Krumme hatten ihm Geld gegeben, hatten es ihm aufgedrängt, obwohl er sich heftig geweigert hatte und fast wütend geworden war. Es war am Abend des dritten Weihnachtstages gewesen, nach der Beerdigung, und Erlend hatte zu viel Bier getrunken und gesagt, er wolle zwanzigtausend hinterlassen. Er hätte bis zum Tag danach warten können, aber Erlend war einer, der sofort drauflosquasselte, wenn ihm etwas einfiel, und er hatte doch nur nett sein wollen. Dann hatte Krumme die erlösenden Worte gesprochen, dass das Geld nicht für die Leute vom Hof sein sollte, sondern für den Hof. Tor sollte es nur gut und richtig verwalten.
»Denk daran, dass es um den Hof geht«,...
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