Schweitzer Fachinformationen
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Dass er in seinem Leben noch mal auf einem Polizeifahrrad sitzen würde, hätte Adam Danowski auch nicht gedacht. Rechts der Deich, links die spätherbstlichen Felder mit Reihen von stillen Windrädern. Die einbeinigen Herrscher, dachte Danowski, denn sie waren überall und schienen schweigend auf den richtigen Augenblick zu warten. Er trat in die Pedale und kostete von der Geschwindigkeit. Die norddeutsche Herbstlandschaft flog links und rechts an ihm vorbei, irre, wie schnell man hier immer aus dem Ort raus war, die Knicks am Rande der Landstraße kahl, fast zweidimensional aus seinen Augenwinkeln, das Land dahinter grau und flach wie das ins Schweigen resignierte Antlitz einer Zeugin, die niemals was erzählen würde.
Mit maulfaulen Zeugen brauchte Danowski sich nicht mehr herumzuschlagen, er hatte einen neuen Job. Und im Moment ein nagelneues Polizeifahrrad unter dem Hintern. Acht-Gang-Nabe, Shimano-Bremsen, Alu-Rahmen, nichts Besonderes, aber alles picobello. Kein Vergleich zu der alten Möhre, die er seit Jahren im Keller hatte und die er um ein Haar beim Umzug gar nicht mitgenommen hätte. Nichts fühlte sich besser an als die erste Fahrt auf einem neuen Fahrrad.
Weil ihm Nieselregen über der Deichmarsch entgegenschlug und seine Zähne kalt wurden, merkte Danowski, dass er die Lippen geöffnet hatte: Er grinste, so viel Spaß machte ihm das hier.
Es war ein ungewohntes Gefühl. Sein neuer Job stresste ihn zwar nicht mehr so, wie es der alte getan hatte, seine Kopfschmerzen waren fast weg und die Dauererschöpfung nur noch eine gelegentliche. Aber schlechte Laune hatte er immer noch zu oft. Er dachte daran, was der Amtsarzt gesagt hatte, nachdem Danowski ihm gebeichtet hatte, dass er auch den zweiten Meditationskurs und die Gesprächstherapie geschmissen und die Selbsthilfegruppe für Hypersensible nie besucht hatte: «Wissen Sie, vielleicht ist es auch einfach nur das Leben.» Und das Leben brachte ihn selten zum Grinsen. Aber eben jetzt.
Beim ersten Kreisverkehr Richtung Industriegebiet oder Wesertunnel machte Danowski die volle Biege, schnittig lehnte er sich in den Wind und Richtung Straße, ihm war, als wäre sein Knie schon so gut wie auf dem Asphalt, absichtlich und kontrolliert, wie bei den Motorradrennfahrern, die er manchmal am Wochenende morgens mit seinen Töchtern guckte, wenn seine Frau Leslie am anderen Ende des Hauses ausschlafen wollte.
Dann eine Kindheitserinnerung, noch deutlicher als ebendie, zum ersten Mal ein neues Fahrrad zu fahren: wenn einem alles entglitt, wenn man das verlor, was für Danowski damals und heute bei den wertvollsten abstrakten Dingen immer ganz vorne in den Top Ten war - die Kontrolle. Die behielt er lieber bis zuletzt. Das ging immer damit einher, unmittelbar danach, aber eben doch im Nachhinein, zu merken, dass es zu spät war, dass man den Punkt überschritten hatte, an dem es noch die Möglichkeit gegeben hätte, die Kontrolle nicht zu verlieren, also den Mund zu schließen und nichts zu sagen, den Finger vom Abzug zu nehmen oder, in diesem Fall, vor der Kurve abzubremsen und nicht erst in dem Moment, wenn man die mit Laub bedeckte Ausfahrt aus dem Kreisverkehr schon erreicht hatte. Und noch eine Kindheitserinnerung: dieser Schlag in den Händen bis zu den Unterarmen, wenn man mit dem Vorderrad auf etwas Hartes, Unnachgiebiges wie einen Bordstein traf.
Dann war Danowski in der Luft. Richtung Straßengraben, wie er mit einer Art Erleichterung feststellte, während das Fahrrad und der Rest der Welt hinter dem unteren Rand seines Gesichtsfeldes verschwanden, als würde er aus der Landschaft gekippt. Das Letzte, was er sah, waren die auf den Kopf gedrehten Windräder am Horizont.
«Adam, du verfluchtes Arschloch, was hast du mit meinem Rad gemacht?»
«Es fährt sich nicht mehr ganz so gut wie vorhin, zugegeben.»
«Es fährt sich? Dafür, dass es sich fährt, gehst du ganz schön zu Fuß damit.»
«Wer sein Rad liebt, schiebt.»
«Wer mein Rad liebt, meinst du.» Finzi griff nach dem Lenker und nahm sein Dienstfahrrad wieder in Empfang.
«Tut mir leid», sagte Danowski. Er hatte in zehn Minuten seine Präsentation vor der Soko «Leuchtturm» und sah aus, als hätte ihn ein Trecker überfahren. Die Hosenbeine aufgerissen, die Ärmel schlammig, das Gesicht zerschrammt von dem, was der Herbst von den Brombeeren übrig gelassen hatte. «Ich hab die Kurve nicht gekriegt.»
«Kenn ich», sagte Finzi, während er das verbogene Vorderrad zu bewegen versuchte.
«Im Ortszentrum ist ein Fahrradladen», sagte Danowski matt. «Kannst mir gern die Rechnung schicken.»
«Ortszentrum», schnaufte Finzi verächtlich. «Unfassbar, in was für Scheißkäffer du dich schicken lässt.»
«Trotzdem nett, dass du mich besuchen wolltest», sagte Danowski, der zu übersehen versuchte, dass von der anderen Straßenseite einer der älteren Kollegen von vor Ort ihm die bittere Pantomime eines Mannes, der auf seine Armbanduhr schaut, vorführte, jetzt bereits in der dritten Version.
«Hundertachtundfünfzig Kilometer», sagte Finzi stolz, «und nur eine Übernachtung. Aber zurück fahr ich wohl mit dem Zug, wenn ich mir das hier so angucke.»
«Laub auf der Straße», sagte Danowski.
«Na ja, dann muss man halt die Fahrgeschwindigkeit auch mal den Witterungsverhältnissen anpassen», bemerkte Finzi halblaut mit finsterer Miene. Davon abgesehen sah er gut aus. Seitdem Finzi in Hamburg bei der Fahrradpolizei war, hatte er zehn, fünfzehn Kilo abgenommen, seine Gesichtsfarbe war deutlich gesünder als früher, seine Hände zitterten nicht mehr. Plötzlich wurde Danowski angesichts seines vor ihm übers halbwegs geschrottete Rad gebeugten Kollegen Finzi von Rührung vielleicht nicht übermannt, aber doch angerempelt und aus dem Gleichgewicht gebracht. Erstaunlich, dass Finzi und er sich beide halbwegs aus der alten Scheiße gezogen hatten. Jeder auf seine eigene Weise. Finzi, indem er dem Alkohol und der Berufsunfähigkeit durch die Versetzung zur Fahrradstreife entgangen war, und Danowski, indem er den Stress der Ermittlungsarbeit hinter sich gelassen hatte. Keine verwirrten Zeugen mehr, keine frisch entdeckten Leichen mehr, keine Büropolitik, keine Grabenkämpfe mit anderen Abteilungen. Alles, was ihn über Jahre mürbe und erschöpft gemacht hatte, hatte er zurückgelassen und eingetauscht gegen die übersichtliche Personalstruktur und das Aktenstudium der Operativen Fallanalyse. Ganz nette Kollegen plötzlich. Am Ende des Sommers hatten sie sogar alle zusammen gegrillt, seine ganze neue Abteilung, sieben Leute mit Partnern im Garten des neuen Chefs. So was kannte Danowski eigentlich nur aus den Erzählungen anderer Leute und von den Lehrerkollegen seiner Frau Leslie, die verstanden sich auch immer alle so gut oder konnten zumindest so tun. Für ihn war das was Neues. Wie sein Chef mit einer Schürze, auf die Brüste gedruckt waren, Würste an alle verteilt hatte. Okay, die Schürze hatte Danowski peinlich gefunden, aber ansonsten fand er es den Versuch wert, sich daran zu gewöhnen. Wie ein Familienfest war das gewesen, nur fast ohne nervige Verwandte.
Manchmal vermisste er Finzi. Er merkte jetzt erst so richtig, wie sehr er sich gefreut hatte, dass sein alter Kollege ihn hier in der Einöde der Deichmarsch besuchte.
«Deicharsch», sagte Finzi mühsam beim Aufrichten, als könnte er Gedanken lesen, aber nicht besonders gut. «Ich versteh nicht, Adam, warum du zwei Jahre einen aufwendigen Lehrgang machen musst, damit es am Ende aussieht, als wärst du strafversetzt worden. Und zwar nicht an einen einzigen Ort, sondern alle paar Wochen an einen anderen Arsch der Welt. Wo warst du neulich? Schwerte? Pfaffenhofen? Erfurz? Was für ein Scheiß.»
Danowski gefiel genau das mit am besten an der Arbeit der Operativen Fallanalyse beim Landeskriminalamt Hamburg: dass sie von Dienststellen aus ganz Deutschland angefordert wurden und dass er immer mal wieder ein, zwei Wochen lang nicht zu Hause war. Es hatte ein paar Monate gedauert, aber jetzt musste er zugeben: Es tat ihm gut. Der Familie vielleicht sogar noch mehr. Oder ließ er die eigentlich permanent im Stich? Na ja, das war so ein Gedanke, den er dann vielleicht doch in altbewährter Manier lieber erst mal wieder verdrängte. Seit Leslie Schulleiterin war und sie in Finkenwerder südlich der Elbe wohnten, in einem kleinen Haus, aber größer als früher ihre Wohnung mit Blick auf die Aral-Tankstelle, kam sein Vater aus Berlin, um nachmittags auf die Kinder aufzupassen, wenn Danowski wochenweise unterwegs war. Leslie, das wusste er oder wollte es zumindest glauben, machte das Beste daraus. Die Kinder waren glücklich, aber zu denen war der Alte auch nett. Das übersprang immer eine Generation. Mein Vater starrt in meinen Kühlschrank, dachte Danowski. Na gut.
«Wir sind halt externe Dienstleister», sagte er.
«Du müsstest dich mal reden hören», sagte Finzi. «Und scheiße siehst du auch aus, nebenbei.»
«Ich kauf dir ein neues», sagte Danowski und zeigte mit dem Kinn auf das Fahrrad, das er fast einen Kilometer über die Landstraße zum Polizeirevier am Rande von Friederikenburg zurückgeschoben hatte, wo er jetzt seine Einschätzung zum aktuellen Fall vor der Sonderkommission «Leuchtturm» abgeben sollte. Bei größeren Fällen kamen sie zu zweit oder zu dritt, aber er war noch nicht lange dabei, darum übernahm er eher kleinere Sachen und reiste alleine. So wie jetzt. Denn auch das hier war nichts Großes, zumindest nicht nach ihren verzerrten Maßstäben: eine tote Frau. Mehr als genug, aber nicht genug für zwei Kollegen. Danowski war's recht, konnte er im Auto in Ruhe kein Radio hören. Nur...
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