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Hauptkommissar Adam Danowski war enttäuscht von der Rosine. Ja, er fühlte sich von ihr im Stich gelassen. Er hatte sich das besser vorgestellt mit ihr, so, dass da was passieren würde zwischen ihm und der Rosine.
Jetzt saß er hier und sah, wie die anderen abgingen mit der Rosine, die waren richtig vertieft in die, die liebkosten die Rosine mit den Fingern, die drehten und drückten sie ganz nah an ihren Ohren und lauschten der Rosine, die schnüffelten mit geschlossenen Augen an der Rosine, als berge deren Aroma wortlose Antworten auf alle Fragen. Er kriegte irgendwie nichts mit von der Rosine. Er dachte stattdessen an seinen Kollegen Finzi, der nach einem Alkoholrückfall im Koma gelegen hatte und jetzt im Pflegeheim war. Und auf Ansprache nicht reagierte. Der saß nur da und starrte vor sich hin. Eigentlich die perfekte Meditation. Der brauchte keinen Kurs mehr.
Er müsste seinen alten Partner und, ja, Freund Finzi dringend besuchen. Wie lange war das jetzt her? Fünf Monate? Wie konnte es sein, dass jemand fast ein halbes Jahr lang keine Gelegenheit fand, einen kranken Freund im Pflegeheim zu besuchen? Wobei: krank. Was hieß schon krank. Sein Vorgesetzter Behling sagte: Der sieht eigentlich ganz gesund aus. Besser als vorher. Vielleicht, weil sie ihn bei Wind und Wetter nach draußen schieben, der hat ordentlich Sonne gezogen diesen Sommer. Aber der sitzt nur da und sagt nichts und starrt vor sich. Unheimlich. Und wenn Behling schon «unheimlich» sagte, dann wusste Danowski: Es musste die Hölle sein.
Aber die Freundschaft. Und die Pflicht. Nur, heute war es natürlich auch schon wieder zu spät. Bis er hier raus war, war es 21 Uhr durch, die hatten längst keine Besuchszeit mehr im Pflegeheim, und morgen musste er die Kinder nach der Arbeit zum Fußball und zum Tanzen fahren, das war knapp genug, vor allem, wenn Behling ihn vorher wieder in irgendein Psychogespräch verwickelte über .
Scheiße, dachte Danowski. Konzentrier dich auf die verdammte Rosine. Die Kursleiterin Franka hatte sie verteilt, damit sie sich «einließen» auf die Rosine, sie wirklich «erfuhren», ein erster Anfang, um achtsam im Moment zu leben. Warum war er der Einzige hier, der nichts anfangen konnte mit der Rosine? Ihm war klar, dass die Rosine ja nur eine Art Platzhalter war, hier ging es gar nicht um die Rosine an sich, die Rosine war nur ein Anlass, sich wirklich nur auf das zu konzentrieren, was man unmittelbar vor sich hatte, die Gegenwart, den Augenblick.
Leslie liebte Rosinen. Sie mochte Rezepte, in denen Rosinen vorkamen. Seine Frau war der einzige Mensch, den er kannte, der nicht aus dem Apfel- oder Kranzkuchen, den der Backshop hochgejagt hatte, die Rosinen rauspulte. Für ihre Kinder und ihn sahen die Rosinen im Kuchen aus wie Wasserleichen von Stubenfliegen. Leslie mochte auch Couscous mit Rosinen und so was. Salat. Er würde mal was für sie kochen mit Rosinen, wenn sie Schulleiterin war und er auf Teilzeit. Wenn. Wenn, wenn, wenn. Falls. Da mussten sie jetzt auch mal dringend drüber reden. War das die richtige Entscheidung? Die aktive Ermittlungsarbeit endgültig an den Nagel zu hängen, damit seine Frau Karriere machen konnte? Es gab so viel, worüber er mit allen möglichen Leuten dringend reden musste.
Die anderen waren alle schon viel weiter mit der Rosine, die rollten das Ding neben ihrem Ohr und horchten und lächelten, und er saß hier und dachte an seinen alten Kollegen und seinen verdammten Chef und seine erfolgreiche Frau.
«Na, Adam», sagte Franka, die Kursleiterin. «Bei dir dreht sich ja wieder das Gedankenkarussell, oder?»
Danowski lächelte schuldbewusst. Nachdem der Amtsarzt ihn evaluiert und nichts bei ihm festgestellt hatte, als das, was Danowski schon wusste, hatte er ihm einen Meditationskurs empfohlen. Achtsamkeits-Meditation, ein «gangbarer Weg», um mit dem Stress klarzukommen, den Danowskis Hypersensibilität ihm verursachte. Obwohl, empfohlen war vielleicht der falsche Ausdruck: Der Amtsarzt hatte vor Danowskis Augen bei der Kursleiterin angerufen und ihn angemeldet.
«Ich kenn doch meine Pappenheimer», hatte der Amtsarzt gesagt, «ihr büxt mir immer aus, wenn's an die Achtsamkeits-Meditation geht. Ihr sitzt hier bei mir aufm Amt und lächelt und nickt, und dann meldet ihr euch nicht an. Darum mach ich das jetzt immer gleich selbst. Die Franka ist eine Gute, die kenn ich schon lange, bei der war ich auch mal. Ja, auch Amtsärzte geraten in Stress. Also, das ist eine gute Sache: Achtsamkeit, da lernen Sie, im Moment zu leben, sich nicht zu viele Sorgen zu machen, und vor allem, Sie lernen, sich selbst von Ihren Gefühlen und Eindrücken unabhängig zu machen. Sie sind nicht der Stress, Sie sind nicht Ihre Gefühle, Sie können sich im Alltag Freiräume zurückerobern, die .», und so weiter und so fort, der Amtsarzt redete viel, und Danowski nickte dazu.
Hypersensibilität bedeutete, dass zu viele Eindrücke ungefiltert auf ihn einstürmten und er Mühe hatte, sie zu ordnen und zu verarbeiten. Darum war er schneller überfordert und gestresst als andere. Und deshalb saß er jetzt hier. Und immer, das hatte Franka ihnen gleich erklärt, fing es damit an, eine Rosine zu erforschen. Sich einzulassen auf eine Rosine. Sie wirklich wahrzunehmen.
«Lass es laufen», sagte Franka. «Nimm die Gedanken zur Kenntnis, aber häng ihnen nicht nach.»
«Gar nicht so einfach», sagte Danowski konstruktiv, und die anderen, durch ihn aus ihrer Rosinenbetrachtung gerissen, nickten zustimmend.
«Darum üben wir das ja auch. Und wir haben ja gerade erst angefangen», sagte Franka. «Du kannst hier nichts falsch machen. Hier kann keiner gewinnen oder verlieren.»
Na gut, dachte Danowski. Franka war nicht viel jünger als er, vielleicht Ende dreißig, sah aber deutlich frischer aus und hatte eine phantastische Körperhaltung in ihrem dunkelgrünen ärmellosen Yoga-Dress. Er war ein bisschen verknallt in ihre Schultern, die gefielen ihm am besten am Meditationskurs. Besser jedenfalls bei weitem als die Rosine. Und so eine Haltung wie Franka wollte er auch. Unwillkürlich richtete er sich auf seinem Meditationskissen auf.
«Lasst euch einfach noch mal fünf Minuten ein auf die Rosine», sagte Franka. «Und schmeckt sie auch am Ende.»
Die anderen lächelten, als freuten sie sich darauf. Danowski betrachtete die Rosine und schob alles weg von sich, erst aktiv, dann schien es ihm, als könnte er in den kakerlakenbraunen Runzeln der Trockenfrucht wirklich nichts anderes mehr sehen als Rosinenfalten. Und der Geruch war einfach nur Wald, süßer Boden, ausblühende Lilien, was Dunkles, und nicht mehr zuerst die Erinnerung daran, dass Rosinen die einzige Süßigkeit waren, die sein Vater ihm und seinen Brüdern erlaubt hatte. Er spürte, dass er ganz tief drin war in der Rosine. Dann sah er aus den Augenwinkeln, dass die anderen dabei waren, die Rosine endlich zu essen. Er hob die Hand an den Mund und konnte es nicht. Er mochte Lebensmittel, die frisch aus der Packung kamen, nichts, was er zehn oder fünfzehn Minuten in der Hand und zwischen den Fingern gewendet hatte, am Ohr und unter der Nase. Er tat, als steckte er die Rosine in den Mund und als kaute er sie, in Wahrheit verbarg er sie jedoch in der Handfläche.
Franka schlug die Zimbel, um das Ende der Übung zu markieren. Danowski schämte sich ein bisschen fremd für das Geräusch, weil es so ungeschützt und freundlich war. Dann richtete er sich auf wie Franka und presste die Rosine in seiner rechten Hand. Wohin jetzt damit?
«Und, wie ist es euch ergangen?»
Tja, dachte Danowski ratlos und schwieg wie die anderen. Aber Franka hatte kein Problem damit, Stille auszuhalten. Die Frau auf der Wolldecke schräg gegenüber von Danowski machte ein unverbindliches Ich-glaub-ich-sag-gleich-was-Geräusch dicht unterhalb eines Räusperns, und im Raum breitete sich Erleichterung aus wie Plätzchenduft in der Vorweihnachtszeit.
Warum bin ich eigentlich der einzige Mann hier?, dachte Danowski. Sind außer mir nur Frauen gestresst, oder geben es nur Frauen zu? Verdammt, jetzt hatte die gegenüber schon zu Ende geredet, und er hatte nicht zugehört. Bei der Nächsten nahm er sich fest vor, besser aufzupassen, das war die Studentin, aber warum war die eigentlich gestresst? In dem Alter hatten Leslie und er sich abends schön einen Joint geteilt, den die Kollegen von der Streife mitgebracht hatten, das war deutlich weniger zeitintensiv gewesen, als sich hier einmal die Woche ins Nachbarschaftsheim Bahrenfeld zu schleppen. Nach der Schicht.
«Und bei dir, Adam?» So eine Runde war doch ganz schön schnell rum. Das war ihm schon am Anfang beim Vorstellen so gegangen: Kein bisschen zugehört, weil zu beschäftigt, sich zurechtzulegen, was er gleich sagen würde, und, zack!, war er auch schon dran gewesen. Seine Arbeit bei der Mordbereitschaft hatte er verschwiegen, für die Frauen im Meditationskurs hier war er in der Personalplanung bei der Kripo, er hatte das ganz vage gelassen, und irgendwie stimmte es ja auch: Danowski plante, wie es mit der Personalie Danowski weitergehen sollte, kam nur zu keinem rechten Ergebnis dabei.
Alle Augen ruhten auf ihm. Er merkte, wie seine Knie heiß wurden unter der Decke, die er sich in einem Anflug von Rentnertum über die Beine gelegt hatte wie Opa vorm «Blauen Bock». In seiner Handfläche machte die Rosine ungerührt ihr Ding und klebte vor sich hin.
«Also, ganz ehrlich», sagte er und war selbst gespannt, was jetzt seine große Ehrlichkeitsoffensive sein würde, «nachdem ich mich drauf eingelassen hatte, fand ich's ganz toll.»
Franka sah ein bisschen enttäuscht aus, aber vielleicht bildete er sich das nur ein: Wo, wenn nicht hier,...
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