Schweitzer Fachinformationen
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Das Blut der See
Hildur Rúnarsdóttir dachte, in ihr Leben als Kriminalpolizistin in den Westfjorden von Island wäre endlich Ruhe eingekehrt. Da werden auf dem elterlichen Anwesen am Meer vier Menschenskelette entdeckt. Hildur forscht nach, obwohl sie gerade eigentlich in einem Misshandlungsfall auf einem Kreuzfahrtschiff ermittelt. Im Sommer strömen Scharen von Touristen auf die Insel im hohen Norden. Und je mehr Hildur herausfindet, desto mehr muss sie feststellen, dass die Gier mancher Menschen tödlich sein kann. Ein engmaschiges Netz aus skandalträchtigen Machenschaften, die tief in die Vergangenheit reichen, tut sich auf.
"Ein bewegendes Leseerlebnis aus Island – Die Hildur-Reihe ist brillant." Viveca Sten
Juni 2022 Reykjavík
Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel. Es ging auf vier Uhr zu. Hildur schob die Sonnenbrille von der Stirn vor die Augen und schaltete das Autoradio ein. Die Ergebnisse der Leichtathletikmeisterschaften interessierten sie zwar nicht, aber die monotone Männerstimme entführte sie für einen Augenblick in eine andere Wirklichkeit. Sie brauchte Ablenkung von ihren Gedanken.
Es war ein sehr langer Tag gewesen. Nach ihrer Ankunft in Reykjavík hatten sie die trauernden Eltern zu ihrem Haus gebracht. Dort hatten Hildur und Jakob gewartet, bis die Schwester der Mutter kam. Sie hatten die Eltern in ihrer schwierigen Lage nicht allein lassen wollen. Hildur hatte der Schwester die Kontaktdaten der Krisenhilfe gegeben, wo die verwaisten Eltern Unterstützung bekommen konnten.
Das Zuhause der Familie befand sich in einem Vorort, nicht weit vom Ufer des Sees Elliðavatn. Die Gegend war Hildur bekannt: Als sie vor Jahren als Polizistin in Reykjavík gearbeitet hatte, war sie an den Wochenenden hergekommen, um Sport zu treiben. Rund um den See gab es gute Joggingpfade. Damals war das Gebiet nur spärlich besiedelt gewesen, inzwischen aber waren in Ufernähe geräumige Einfamilienhäuser entstanden. Etwas weiter oben standen Reihenhäuser und dahinter einige niedrige Etagenhäuser. Das Gelände um den See war schön. Es war kein Wunder, dass die ständig wachsende Hauptstadtregion ihre Straßen samt Straßenbeleuchtung und Busnetz bis dorthin ausgedehnt hatte. Nachdem Jakob und Hildur sich von den Eltern verabschiedet hatten, waren sie zum Pathologischen Institut im Stadtzentrum gefahren und hatten die Leiche dem Rechtsmediziner übergeben.
Dann hatte Hildur Jakob zum Flughafen gebracht. Jakob würde noch am selben Nachmittag zurückfliegen, um vor dem Abend wieder bei seinem Sohn zu sein. Zwar konnte Matias sich nach der Schule und dem Sport die Zeit an seinem iPad vertreiben, aber Jakob wollte nicht, dass er stundenlang allein war. Hildur verstand ihn. Matias hatte ohnehin Eingewöhnungsschwierigkeiten gehabt, und das war kein Wunder. Der Junge hatte im letzten Winter seine Mutter verloren und wieder einmal das Land, die Sprache und die Schule wechseln müssen, als er zu seinem Vater nach Island gezogen war. Es war sicher besser, dass Jakob noch heute nach Hause flog.
Hildur würde erst morgen zurückfahren. Sie wollte ihren freien Abend für einen Besuch bei ihrer Schwester im Gefängnis von Hólmsheiði am Stadtrand von Reykjavík nutzen. Dort wurden während der Untersuchungshaft auch Männer untergebracht, aber die Langzeitplätze waren ausschließlich Frauen vorbehalten. Die Eröffnung des Gefängnisses hatte die Haftbedingungen der Frauen erheblich verbessert, denn in gemischten Gefängnissen waren die weiblichen Häftlinge oft belästigt und auch sonst benachteiligt worden.
Im Gefängnis verbüßten momentan etwa vierzig Frauen in zwei Abteilungen längere Haftstrafen. Die Abteilungen waren anhand der Nationalitäten gebildet worden. Die Isländerinnen saßen ihre Strafe in dem einen Trakt ab, die Ausländerinnen in dem anderen. Es gab drei eingezäunte Freiluftbereiche, außerdem gut ausgestattete Sporthallen, und das Gefängnis bot Möglichkeiten, zu studieren und zu arbeiten. Björk machte wie die anderen Häftlinge Handarbeiten und kleine Holzarbeiten, die im Webshop der Haftanstalt verkauft wurden.
Hildur warf einen Blick auf ihr Handy, während sie zum Haupteingang des rostbraunen Gebäudes ging. Anton hatte eine Textnachricht geschickt.
Hallo, schöne Lady! Wie geht's? Bei uns werden bald die Rentierkälber markiert. Die Mückenzeit hat begonnen.
Es amüsierte Hildur, dass Anton sie in seinen kurzen englischsprachigen Textnachrichten immer Lady nannte. Und er schrieb praktisch nur über seine Rentiere. Hildur steckte das Handy ein. Sie würde später antworten.
Die Häftlinge mussten den Wächtern eine Liste der Personen vorlegen, deren Besuch sie akzeptierten. Björk hatte nur zwei Namen angegeben: Rósas und Hildurs. Hildur erkannte den Wächter am Empfangsschalter. Kári trieb Kraftsport und hatte oft einen Proteinriegel oder einen Proteinshake vor sich stehen. Diesmal sogar beides. Der stiernackige Mann nickte kurz zum Zeichen, dass er Hildur erkannt hatte. Trotzdem zeigte sie der Form halber ihren Personalausweis.
Anschließend ging sie zur Sicherheitskontrolle, wo der nächste Wächter die Tüte mit ihren Mitbringseln überprüfte. Sie hatte ihrer Schwester etwas zum Lesen mitgebracht. Der Wächter blätterte in den vier Büchern, um sich zu vergewissern, dass zwischen den Seiten nichts Verbotenes steckte. Auch Besucherinnen, die selbst bei der Polizei arbeiteten, bekamen keine Sonderbehandlung.
Im Zimmer setzte Hildur sich hin, und bald kam Björk herein. Der Wächter nickte Hildur grüßend zu und ging hinaus. Den Gefängnisregeln nach fanden die ersten drei Besuche in einem Besuchsraum statt, in dem Häftlinge und Besucher durch Panzerglas getrennt waren. Da alles gut verlaufen war, durften sie sich jetzt in einem privaten Zimmer treffen.
»Hallo, Schwesterchen. Wie geht's?«, fragte Hildur und beugte sich über den Tisch, um Björk über die Schulter zu streichen.
Björk schüttelte die Hand ab und zog ihren Stuhl ein paar Zentimeter zurück.
»Ich mag keine Umarmung.«
Hildur erkundigte sich, wie es mit den anderen inhaftierten Frauen lief. Bei ihrem vorigen Besuch hatte Björk erzählt, sie sei am liebsten für sich allein.
»Hier gibt es nur eins, was uns verbindet.«
Die Wanduhr knackte, als der Minutenzeiger vorrückte. Hildur sah ihre Schwester fragend an.
»Jede von uns ist wegen einem Mann hier. Ansonsten haben wir nichts gemeinsam. Es gibt keinen Gesprächsstoff.«
Hildur ließ die Sache auf sich beruhen. Sie holte die Bücher hervor und legte sie auf den Tisch.
Björk wirkte erfreut.
»Das sind die neuesten von Arnaldur, Yrsa und Ragnar.«
Hildur hatte die Bücher in einer Buchhandlung im Zentrum von Reykjavík gekauft. Björk liebte Kriminalromane und Fernsehkrimis. Im Gefängnis hatte sie keinen eigenen Fernseher, aber Bücher durfte sie frei lesen.
»Danke«, sagte sie, zog den Stapel näher heran und begann zufrieden nickend in den Büchern zu blättern.
Hildurs Verhältnis zu Björk und Rósa war immer noch nicht ganz unkompliziert. Bei den jüngeren Schwestern kochte gelegentlich Verbitterung auf, weil sie in ein fremdes Land zu einer fremden Verwandten gebracht worden waren, während Hildur in der Nähe ihres Zuhauses bei Tante Tinna hatte bleiben dürfen. Keine von ihnen verstand, weshalb die beiden Jüngsten auf die Färöer verfrachtet worden waren. Was hatte ihre Mutter sich dabei gedacht? Wieso war alles so gekommen?
Nun waren sie endlich auf derselben Insel, aber es war nicht leicht, die Verbindung zwischen ihnen wieder aufzubauen. Alle drei waren irgendwie verloren.
»Coole Sommerfrisur«, versuchte Hildur ein Gespräch zu beginnen.
»Ach, das ist nichts Besonderes«, sagte Björk und fuhr sich über die millimeterkurzen Stoppeln.
Björk war ein schweigsamer Mensch. Oder war sie nur bockig?
»Wie steht es mit der Ausbildung, hast du schon angefangen?«
Auf den Färöern hatte Björk eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Nachdem sie ins Gefängnis gekommen war, hatte sie sich für eine Spezialausbildung in der Arbeit mit psychisch Kranken und Drogenabhängigen beworben. Sie räusperte sich und drehte die Bücher hin und her.
»Ganz okay. In einem Jahr habe ich den Abschluss.«
Sie sah sich das oberste Buch auf dem Stapel genauer an und las den Text auf dem hinteren Einband. Es war Yrsa Sigurðardóttirs Roman Nacht.
»Am abgelegenen Walfjord kommen die grauenvollen Geheimnisse einer Familie ans Licht«, las Björk vor und lachte trocken. »Genau wie bei uns«, sagte sie und ließ das Buch auf den Tisch fallen.
Verdammt, dachte Hildur. Sie hatte überhaupt nicht darauf geachtet, welche Themen die Bücher behandelten, sondern einfach alle Neuerscheinungen gekauft, von denen sie wusste, dass Björk sie gern lesen würde. Björk zwang eine Art Lächeln auf ihr Gesicht. Hildur hatte schon gelernt, es als ein Zeichen für Versöhnungsbereitschaft zu erkennen.
»Yrsa ist gut. Ich war im letzten Winter bei ihrem Krimi-Stadtrundgang in Reykjavík dabei«, erklärte Björk und bedankte sich für die Bücher. Ihre aufrichtige Begeisterung freute Hildur.
Sie wollte Björk erzählen, wie es Rósa ging.
»Rósa mag ihren neuen Job bei der Telefongesellschaft. Sie kann im Homeoffice arbeiten.«
Björk zog die linke Augenbraue hoch.
»Sie kommt nächstes Mal mit. Diesmal musste sie in Kotsdalur bleiben, um die Grabungsarbeiten zu überwachen. Die Klärgrube soll diese Woche fertig werden«, fuhr Hildur fort.
Björk nickte, sagte aber kein Wort.
»Ich soll dir aber liebe Grüße ausrichten«, fügte Hildur noch hinzu.
Björk wandte den Blick ab und konzentrierte sich darauf, ihre Nagelhäute zu mustern.
»Lüg mich nicht an. Rósa ist nicht der Typ, der Grüße ausrichten lässt«, sagte Björk trocken.
Hildur betrachtete die Kreuzsticharbeiten an den Wänden. Über der Tür hing eine helle Stickerei mit dem Text Gott segne dieses Haus. So eine Handarbeit hing in fast jedem isländischen Haus.
»Hey, ich möchte jetzt wieder in mein Zimmer«, verkündete Björk mit lauter Stimme, stand auf und klopfte an die Tür.
Hildur ärgerte sich. Ihre Besuchszeit war noch nicht abgelaufen.
»Ich bin doch gerade erst...
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