Schweitzer Fachinformationen
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Das kleine Mädchen schrie, so laut es konnte. Tränen der Anstrengung liefen über ihre zarten Wangen. Der schrille Klang ihrer Stimme stoppte jegliche Aktivitäten in ihrer Umgebung, zog sämtliche Blicke magnetisch an.
Sofort eilte ihr älterer Bruder zum Ende der Rutsche, wo er den Sand seiner Schaufel ins Gesicht des Übeltäters spritzte, bevor er ihn seitlich zu Boden stieß. Noch einmal würde Luca seine Schwester nicht von der untersten Sprosse der Leiter schubsen.
Nun plärrte auch der Vierjährige, und die Erzieherinnen hatten alle Hände voll zu tun, die Knirpse zu beruhigen. Sophia dagegen schien von der Aufregung nicht das Geringste mitzubekommen. Schon kurz, nachdem sie der Vater am Morgen gebracht hatte, waren ihr die Augen zugefallen. Weder das Gebrabbel der anderen Kleinkinder noch der Gesang der Vorschulgruppe hatte sie aufgeweckt. Selbst als man sie in den Bollerwagen gelegt und diesen fernab der spielenden Kinder an einem schattigen Plätzchen hinter der großen Rosskastanie geparkt hatte, hatte sie keinen Mucks von sich gegeben. Immerhin träumte sie nun an der frischen Luft.
Schlapp und ungewohnt blass erschien Kommissarin Natascha Frey an diesem Montag an ihrem Arbeitsplatz in der Hansastraße. Ihre langen blonden Haare, sonst eine Augenweide, hingen lustlos an ihr herab. Wortlos bediente sie sich an der Kaffeemaschine, bevor sie an der Besprechung des Teams teilnahm.
»Diana hat heute früh angerufen, sie ist seit einer Woche wieder im Dienst«, berichtete Alois Schön, der Leiter der Mordkommission, zu Beginn des Meetings. »Ich soll euch schön grüßen.«
Weil ihr Mann seine Karriere in Hamburg fortsetzen wollte, hatte seine Stellvertreterin noch während ihres Erziehungsurlaubs einen Antrag auf Versetzung beim bayerischen Innenministerium gestellt. Und da sich die Hanseaten über eine gut ausgebildete Oberkommissarin aus München freuten, und Diana für ihren Sohn sogar einen Krippenplatz fand, jagte sie nun an Alster und Elbe Verbrecher.
»Wie gefällt's ihr im hohen Norden?«, meldet sich Julia Neubauer als Erste zu Wort.
»Gut.« Alois Schön machte eine kurze Pause. »Aber a bisserl vermisst sie uns schon.« Er schmunzelte. »Es ist halt doch eine andere Mentalität dort oben.«
»Mir gönners ja amol bsuchn«, schlug Martin daraufhin vor. Der Franke hatte wie Julia sein Studium an der Polizeischule in Fürstenfeldbruck im Frühjahr beendet und trug nun ebenfalls den Titel eines Kommissars. Er hatte sich sehr zu seinem Vorteil verändert: Kontaktlinsen statt Brille, dazu eine neue, flotte Frisur. Darüber hinaus hatte sein Schwärmen für Natascha aufgehört. »Is scho schood, Nadascha«, hatte er an ihrem Polterabend frech erklärt, »etzed wersd nie erfahrn, was du bei mir verbassd hosd.«
»Ich weiß«, hatte die Braut mit gespielt trauriger Stimme erwidert, »die Geheimnisse fränkischer Liebhaber werden mir für immer und ewig verschlossen bleiben. Ich hoffe, mein Hase wird mir über diesen unsäglichen Verlust hinweghelfen.« Anschließend hatte sie ihren Phil mit einem leidenschaftlichen, nicht enden wollenden Kuss beglückt.
Eine Szene, die allen im Gedächtnis geblieben war und im Team schon mehrfach für Neckerei und Heiterkeit gesorgt hatte.
Heute dagegen war Natascha überhaupt nicht gut drauf. »Sorry, Leute, mir ist schlecht.« Ohne eine Antwort der Kollegen abzuwarten, eilte sie aus dem Zimmer zur Damentoilette, in die sie ihr Frühstück entleerte.
»Am besten fährst du wieder heim und legst dich ins Bett!«, kommentierte Alois Schön die Leichenblässe seiner neuen Stellvertreterin nach ihrer Rückkehr. »Martin, bringst du die Kollegin bitte nach Hause?«
»Gehd gloar, Chef«, erwiderte der Franke, ehe er mit Natascha den Raum verließ.
Es dauerte viele Minuten, bis im Kindergarten sämtliche Tränen getrocknet und den beiden Jungen die Verwerflichkeit ihres Handelns bewusst gemacht worden war. Vor allem der Fünfjährige zeigte sich uneinsichtig. Schließlich hatten ihm Mama und Papa eingebläut, er müsse seine kleine Schwester beschützen. Und deshalb wollte er nicht einsehen, dass er etwas Falsches getan hatte.
Im Gegensatz zu den Erzieherinnen, die auf Anhieb erkannten, dass ihnen ein schwerer Fehler unterlaufen war. Weshalb die Leiterin sofort die 110 anrief, während ihre Kolleginnen versuchten, die Eltern der Zöglinge zu erreichen.
Die Dame vom Notruf informierte nicht nur die örtliche Wache, sondern ebenso Alois Schön und die Spurensicherung. Denn in München kümmert sich die Mordkommission auch um Menschenraub und Erpressung. »Delikte an Leib und Leben«, ist die offizielle Bezeichnung der zuständigen Dezernate.
Natürlich hatte das silbergrüne Polizeiauto das Interesse der Kinder geweckt. Ein Junge hatte sich sogar von der Hand der Großmutter losgerissen, um seinen Freunden von der Ankunft der Polizei zu berichten. Und als der Polizist den Gruppenraum betrat und sämtliche Fragen bis hin zur PS-Zahl seines Wagens ausführlich beantwortete, waren alle zufrieden. Die Kriminaltechniker konnten in Ruhe im Garten arbeiten, das Eintreffen der Beamten in Zivil wurde nicht bemerkt.
»Der Täter hat den Zaun mit einer Drahtschere von oben bis unten durchgeschnitten und zur Seite gebogen«, erhielt Alois Schön gleich zur Begrüßung eine Schilderung des mutmaßlichen Tathergangs. »Danach hat er sich vermutlich zum Baum geschlichen, die Kleine auf den Arm genommen und leise einen Abgang gemacht. Die Fußspuren im Gras deuten darauf hin, dass er sehr vorsichtig und auf Zehenspitzen gegangen ist.«
»Könnt ihr die Art der Schuhe bestimmen oder die Schuhgröße?«
»Tut mir leid, Alois. Das Einzige, bei dem wir sicher sind, ist, dass nur eine Person die Wiese betreten hat. Was jedoch nichts zu bedeuten hat.«
»Stimmt.« Alois Schöns Blick glitt über das unbebaute Grundstück, das an den Kindergarten grenzte. Die letzte Parzelle in einer Seitenstraße, die als Sackgasse in einer Wendehufe endete. »Ein Komplize könnte im Auto gewartet haben.«
Zu Fuß dagegen konnte der Täter durch den schmalen Weg und das dahinter liegende Wohnviertel geflüchtet sein.
Der Leiter der Mordkommission sah den Kollegen von der Spurensicherung an. »Wie sieht's mit DNS aus?«
»Bis jetzt Fehlanzeige, weder am Bollerwagen noch am Zaun. Ein paar Fasern von der Wolldecke, aber die bringen uns kaum weiter«, stellte der Spezialist fest.
»Warum hat das Mädchen nicht geschrien?«, wollte Julia wissen.
Der Experte zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist es betäubt worden.«
Der Leiterin des Kindergartens war die innere Anspannung nach wie vor anzusehen, als sie die Tür ihres Büros schloss. »In unseren neuen Kitas wäre das niemals passiert, die haben stabile Umzäunungen aus Schmiedeeisen um ihre Grundstücke und nicht so lumpige Hasenzaun-Maschendrahtgitter wie wir!« Mit zittrigen Händen fingerte sie nach einem Papiertaschentuch in ihrer Rocktasche. »Aber das Allerschlimmste ist, wir haben die Eltern von Sophia noch nicht erreicht!« Als sie es fand, schnäuzte sie hinein. Anschließend setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Mit einem verkrampften Lächeln deutete sie auf die beiden freien Stühle ihr gegenüber. »Nehmen Sie Platz.«
»Geben Sie uns die Adresse, wir kümmern uns darum.« Alois Schön rief den Vertreter der örtlichen Wache, der sofort losfuhr.
Nachdem der Polizist gegangen war, erkundigte er sich freundlich: »Was können Sie uns über Sophias Familie berichten?«
»Nicht so viel«, begann die Kindergartenleiterin nun wesentlich ruhiger. »Sophia ist erst seit Anfang Mai bei uns, sie ist die Jüngste in der Gruppe.«
»Wie alt ist sie?«
»Knapp elf Monate, eine süße Maus!« Die Erzieherin holte eine Mappe aus der Schreibtischschublade hervor. »Hier sehen Sie, dieses Foto haben wir letzte Woche von ihr gemacht.«
»Eine schöne Aufnahme, wirklich gut gelungen. Dürfen wir sie mitnehmen?«
»Von mir aus gerne.«
»Selbstverständlich werden wir die Eltern nachträglich um Erlaubnis fragen.« Alois Schön steckte das Bild in die Innentasche seiner Jacke. Anschließend sah er die Kindergärtnerin fragend an. »Wie schätzen Sie die finanzielle Situation der Familie ein?«
»Das wage ich nicht zu beurteilen«, erwiderte diese rasch. Offenbar zu schnell, denn kaum hatten ihre Worte den Mund verlassen, entfernte sich ihr Oberkörper einige Zentimeter vom Schreibtisch. Ihr rechter Zeigefinger berührte ihre Backe, ihre Augen wanderten zur Decke. Jeder im Raum konnte erkennen, wie sie über ihre Äußerungen nachsann. »Einen Antrag auf Ermäßigung unserer Gebühren haben sie jedenfalls nicht gestellt. Hätte mich allerdings auch gewundert, das Haus, in dem sie wohnen, ist ziemlich groß, um nicht zu sagen, protzig.« Wie sie offensichtlich bemüht war, der Polizei nützliche Tipps zu geben. »Aber ich weiß nicht einmal, ob sie es gekauft oder gemietet haben«, fügte sie mit jammernder Stimme hinzu.
»Was machen die Eltern beruflich?«
»Die Mutter ist meines Wissens nicht berufstätig. Der Vater ist Anwalt. Seine Kanzlei befindet sich in bester Lage von München, in der Nähe vom Marienplatz.« Die Gesichtszüge der Erzieherin versteinerten sich. »Heute hat er Sophia gebracht.« Als sie den Satz beendet hatte, biss sie sich auf die Unterlippe.
»Ja und?«
»Hingestellt ist wohl der bessere Ausdruck«, erläuterte sie sichtlich verärgert. »Er setzte Sophia einfach auf den Boden im Gruppenraum und war sofort wieder weg.«
Alois Schön lächelte...
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