Kapitel 1
Feiner Nieselregen fiel auf ihre Brillengläser und ließ die Weihnachtsbeleuchtung vor ihren Augen verschwimmen. Auf den dunklen Straßen am Stadtrand von Hannover schien alles friedlich, und galant übersprang Malin die Pfützen auf dem Gehweg. Sie befand sich auf dem Rückweg.
Vor fast zwei Stunden hatte sie sich von ihrem Arbeitgeber verabschiedet, ihm einen schönen Abend gewünscht und war aufgebrochen. Während des gesamten Heimwegs hatte sie durch die Fenster der öffentlichen Verkehrsmittel hinaus auf die belebten Straßen geblickt und versucht, nicht auf diese besondere Weise an ihren Chef zu denken, die ihrer Meinung nach unangemessen, aber doch nahezu unvermeidlich war. Dominik Herbst mochte nicht im klassischen Sinne attraktiv sein, aber er besaß alles, was Malin von einem Mann erwartete.
Der Mann war stets höflich, sprach leise und kultiviert und roch nach einer Mischung aus Seife und Aftershave. Sein Lächeln war sanft, seine Kleidung langweilig, aber edel und gepflegt. Und wenn Malin seine Hemden bügelte, erfreute sie sich an den Markenlabels im Kragen und den gut verarbeiteten Stoffen.
Seit fast zwei Monaten war Malin für Dominik Herbst tätig. Er nannte sie seine Haushälterin, sie selbst bezeichnete sich als Wirtschafterin, was irgendwie eleganter klang und der Vielzahl ihrer Aufgaben auch eher gerecht wurde.
Wenige Wochen im Dienst dieses Mannes hatten gereicht, um Malin in Liebe zu ihm entbrennen zu lassen. Dass er deutlich älter war als sie, störte sie nicht. In der Traumwelt, die sie Abend für Abend in ihrem Kopf entstehen ließ, passten sie beide großartig zusammen, gingen gemeinsam in Restaurants, wo sie geistreiche Gespräche führten, besuchten Opern oder bereisten die Welt auf einer geräumigen Jacht. An sexuelle Fantasien mit ihm als Verführer hatte sich Malin noch nicht herangewagt. Sie wollte diesbezüglich lieber auf die Wirklichkeit warten, um sich eine Enttäuschung zu ersparen. Lediglich Küsse tauschte sie in Gedanken mit ihm aus und wartete begierig auf den Tag, da die Wirklichkeit ihre Träume überholte. Doch dies würde heute Abend wohl kaum der Fall sein, denn Malin hatte sich einen Schnitzer erlaubt.
Sie sah auf ihre winzige Armbanduhr, deren Zeiger im Licht der Straßenlaternen aufblitzten. Fast acht Uhr abends. Dominik Herbst saß vermutlich bereits bei seinem Freund, dem Historiker Gideon Wacker, und fragte sich verwirrt und verärgert, was wohl aus seiner Lesebrille geworden war. Jener Lesebrille, die Malin plötzlich schmerzhaft gedrückt hatte, nachdem es ihr doch noch gelungen war, in der Stadtbahn einen Sitzplatz zu ergattern.
Erst da war ihr jener Moment wieder in den Sinn gekommen, da sie die von Dominik auf der Fensterbank des Badezimmers liegen gelassene Brille entdeckt und eingesteckt hatte, nur um sie in der Tasche ihrer Schürze erneut zu vergessen.
Mit seiner Brille in der Hand war Malin augenblicklich umgekehrt und hatte die nächste S-Bahn in die Gegenrichtung bestiegen. Ihr Arbeitgeber gehörte nicht zu jenen Menschen, die eine ganze Batterie von Lesehilfen im Haus zu verteilen pflegten, um immer eine parat zu haben. Er besaß nur diese eine, welche dank Malin nun nicht auffindbar war. Was, wenn er sie noch heute Abend benötigte, während er mit Wacker zusammensaß und über Dinge sprach, die ihren eigenen Horizont überstiegen?
Pech für Malin, dass sie nun noch einmal in den Rehwinkel zurückkehren musste. Hingegen konnte sie von Glück sagen, das Heim des besagten Gideon Wacker zu kennen. Zwischen den Häusern der Herren Herbst und Wacker standen nur zwei weitere Wohngebäude, ihr aktuelles Ziel befand sich somit lediglich einen Steinwurf von ihrem Arbeitsplatz entfernt.
Schon fiel ihr Blick auf die Hecke aus Kirschlorbeer, die Wackers Grundstück vor den Blicken Vorübergehender schützte, und sie öffnete das nur angelehnte Gartentor und lief mit schnellen kleinen Schritten über die Steinplatten zur Vordertür. Gerade als sie den Messingknopf über dem Namensschild drücken wollte, wurde ihr unerwartet geöffnet, und die Gestalt einer Dame im Pelzmantel, deren grau meliertes Haar einen betont jugendlichen Haarschnitt aufwies, trat heraus.
«Oh, Frau Wacker.» Malin deutete einen Knicks an, weil es ihr angesichts dieser sehr viel älteren und kultivierten Dame angebracht erschien. «Ich bin hier, um Herrn Herbst seine Lesebrille zu bringen. Ganz aus Versehen habe ich sie vorhin eingesteckt und nach Feierabend mitgenommen. Und weil er doch ohne seine Brille nicht zurechtkommt, bin ich gleich, als ich es bemerkt habe, hierhergeeilt.»
Die Ältere nickte wohlwollend, während sie gleichzeitig versuchte, einen verstohlenen Blick auf ihre Uhr zu werfen, wobei ihre teure Handtasche sich als hinderlich entpuppte.
«Gleich acht Uhr, gnädige Frau», gab Malin, die sich an die gerade erst abgelesene Zeit gut erinnerte, bereitwillig Auskunft.
Frau Wacker lächelte freundlich und antwortete mit ihrer wohlklingenden Stimme: «Was täten wir nur ohne Sie, meine Liebe? Die beiden Herren sitzen im Arbeitszimmer, die zweite Tür auf der linken Seite. Ich würde Ihnen diesen Gang ja abnehmen, aber ich bin auf dem Sprung und schon sehr spät dran. Wären Sie also so lieb, die Brille selbst abzuliefern?»
«Selbstverständlich.» Malin genoss es, für ihre Zuverlässigkeit gelobt zu werden. Anerkennung bedeutete ihr mehr als vieles andere, und Frau Wacker hatte stets ein freundliches Wort für sie, wenn sie einander auf dem Gehweg oder beim Bäcker an der Ecke begegneten.
Eilig schritt sie durch die von Frau Wacker offen gehaltene Haustür, zählte und wählte die zweite Zimmertür zu ihrer Linken, so, wie man es ihr aufgetragen hatte. Sie klopfte an. Erst zaghaft, dann lauter. Als niemand öffnete, blieb sie unschlüssig im Flur stehen. Schließlich entschied sie sich, leise zu rufen.
«Herr Wacker? Dominik? Ich bin es, Malin. Ich bringe die Lesebrille.»
Doch als auch weiterhin alles still blieb, wurde sie nervös. Hatte Frau Wacker sich geirrt? Waren die beiden Herren ausgegangen? Schien das nicht wahrscheinlicher, als dass beide Männer ihr Rufen überhört hatten?
Schon erwog sie, das Haus leise wieder zu verlassen und sich selbst bei ihrem Brötchengeber einzulassen, um ihm die Brille einfach aufs Kopfkissen zu legen, als sie ein ganz eigenartiges Gefühl überkam. Es war eine Vorahnung, davon war Malin augenblicklich überzeugt. Dieser plötzlich aufkommende Gedanke, dass etwas in diesem Haus nicht in Ordnung war und möglicherweise ihre Hilfe gebraucht wurde, gab ihr den Mut, die Klinke niederzudrücken und einen vorsichtigen Blick in das Arbeitszimmer zu werfen.
Zuallererst bemerkte Malin den Pfeifengeruch und erkannte sofort das an Vanille erinnernde Aroma des Tabaks wieder. Dominik war ohne Zweifel hier gewesen.
Darüber hinaus deutete alles darauf hin, dass sich jemand in diesem Zimmer aufhielt oder es doch zumindest bis vor Kurzem getan hatte. Im Kamin schwelten die Reste eines Feuers, eine Stehlampe aus Messing spendete goldgelbes Licht. Und doch konnte sie niemanden entdecken.
Gerade wollte Malin den Rückzug antreten, als sie die Hand bemerkte. Mit gekrümmten Fingern, an denen zwei auffällige Siegelringe schimmerten, lag dieses menschliche Körperteil dort auf dem beigefarbenen Teppich. Der Arm, zu dem sie hoffentlich gehörte, wurde durch eine Sitzgarnitur aus glänzend braunem Leder verdeckt.
Malin zögerte keine Sekunde länger. Sie stürmte in den Raum hinein, umrundete die Couchlandschaft und ging vor dem reglosen Körper des Hausherrn auf die Knie.
Wie sie es in ihrem Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte, sprach sie Gideon Wacker zunächst laut an und prüfte dann, als sie keine Antwort erhielt, seinen Atem.
Statt eines Spiegels hielt sie ihm einfach eine an den eigenen Lippen angefeuchtete Fingerkuppe unter die Nase - und spürte überhaupt nichts. Kein Hauch verließ noch diesen Körper. Auch der Brustkorb schien sich nicht mehr zu heben, und wenn sie ganz ehrlich zu sich war, dann hatte die Haut des Mannes bereits einen wächsernen Glanz angenommen. Ein schwacher Geruch von Urin lag in der Luft.
Malin erhob sich und sah auf den Toten hinab. Erst jetzt bemerkte sie den verdächtigen dunklen Fleck auf dem Teppichboden nahe Wackers linkem Ohr und darüber hinaus den schweren Glasaschenbecher, der nicht, wie es sich gehörte, auf einem Tisch stand, sondern auf dem Läufer vor dem Kamin lag.
Den Atem anhaltend, schlich Malin leise hinaus, schloss die Zimmertür hinter sich und überlegte fieberhaft, was nun zu tun war. Für sie gab es nicht den geringsten Zweifel, dass Gideon Wacker Opfer einer Gewalttat geworden war und auch sie selbst in großer Gefahr schwebte, falls der Mörder sich noch im Haus befand.
Sie musste sofort von hier verschwinden. Hilfe kam ohnehin zu spät, und wichtiger, als die Polizei zu informieren, erschien ihr der Gedanke, sich in Sicherheit zu bringen. Wie ärgerlich, dass sie Handys stets als neumodischen Unsinn abgetan hatte, jetzt wäre eines dieser Dinger sinnvoll gewesen.
Da entdeckte sie das schnurlose Telefon auf dem Sideboard, gleich unter dem Garderobenspiegel. Nun, wenn man es ihr so einfach machte, würde sie den Mut aufbringen und den Anruf doch noch von hier aus tätigen, bevor sie das Weite suchte. Lautlos huschte sie quer über den Flur und nahm das Gerät aus der Ladestation. Das Freizeichen klang erschreckend laut in ihren Ohren. Hastig drückte sie das Telefon an ihre Brust und lauschte. Im Haus blieb alles still. Womöglich war der Mörder bereits geflohen und sie doch allein? Allein mit der Leiche von Gideon Wacker, der, so wie sie den dunklen Fleck neben seinem Kopf interpretierte, einen Schlag auf den Kopf erhalten hatte?
Mit zitternden Fingern tippte sie die...