Schweitzer Fachinformationen
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Wo bin ich?
Noch schlaftrunken blickt sich die Autorin um.
Fremdes Zimmer. Aber da, an der Wand, dieses große Schwarz-Weiß-Foto! Das ist mir vertraut. Wohlvertraut, wohlig vertraut. Das Wattenmeer, weichgezeichnet vom Abendlicht. Fotografieren ist Malen mit Licht, hast du immer gesagt, Giferto, und manchmal stundenlang auf den richtigen Pinsel gewartet.
Die Autorin lächelt und betrachtet die Rippeln im Watt.
Die Souvenirs der Strömungen im ewigen Strömen des Wassers, das kommt und geht, das dem Mond nachläuft und ihm wegläuft. Die Barfußspuren, die zu einem breiten Priel führen, zum Fluss im Meer, der bleibt, wenn das Meer seinen Boden für gestundete Zeit freigibt. Die Schatzkammer, ja, so hieß der Priel. Ein lockender Name. Und er versprach nicht zu viel. Dutzende Seehunde lagen an seinem Rand und schauten uns neugierig an, als wir ehrfürchtig schweigend an ihnen vorbeisegelten, weißt du noch, Giferto?
Die Autorin schließt die Augen und verweilt in der Vergangenheit, zögert den Augenblick hinaus, in dem ihre Augen wieder blicken müssen, die Gegenwart erblicken, in der die Schatzkammer längst verschlickt ist und der Mann, der das Foto gezeichnet hat, tot.
Dein Tod ist nicht nur eine verdammte Metapher wie in der postmodernen These vom Tod des Autors! Der ist inzwischen ja wieder quicklebendig. Kaum eine Buchvorstellung ohne Homestory beim Autor, selten Rezensionen, die nicht auf das Leben der Autorin verweisen. Dein Tod ist real und mein Leben ist schmerzlich real. Meine Blase drückt!
Zum zweiten Mal an diesem Morgen schlägt die Autorin die Augen auf.
Natürlich! Das ist mein Schlafzimmer. In meiner neuen Wohnung. Seniorengerecht, barrierefrei, mit Notruf und hinzubuchbaren Serviceleistungen. So langsam sollte ich mich daran gewöhnt haben. Ich bin nicht mehr in unserer gemeinsamen Wohnung, Giferto, in unserer Wohnung, in der wir fast ein halbes Jahrhundert gelebt haben. Dreieinhalb Zimmer im vierten Stock ohne Fahrstuhl. Altbau, Stuck, verbleite Rohre. Unsere Räume! Unser Lebensraum. Gefühlt ist er das immer noch. Aber die Zeit hat mir den Raum genommen, hat meine Gelenkknorpel aufgerieben, hat die vier Treppen, die ich als junge Frau mit Kind auf dem Arm und Einkauf im Rucksack mühelos bewältigt habe, in eine unüberwindliche Hürde verwandelt. Die Zeit ist die triumphierende Herrscherin über den Raum. Physikalisch betrachtet mag es ja so was wie die Raumzeit geben, doch für mich als sterbliches Wesen gilt immer noch: Die Zeit bestimmt den Raum, den ich einnehmen darf. The winner takes it all. Die Zeit hat mir alles genommen: unsere Altbauwohnung, meine Gelenkigkeit, dich, Giferto. Dich hat sie mir mit sadistischer Entschleunigung genommen, hat dich Tag für Tag ein Stück weiter von mir entfernt.
Die Autorin schaut wieder auf das Foto, auf dem die Wellen der Schatzkammer das Abendlicht eines lange vergangenen Sommertages spiegeln.
War es ein unbeschwerter Sommertag? Oder haben wir uns gestritten? War der Wind günstig? Oder mussten wir mühsam gegen ihn ankreuzen? Ich weiß nichts mehr von diesem Tag, außer, dass es unser Tag war, ein Tag unseres gemeinsamen Lebens. Und jetzt gibt es nur noch mein Leben. Jetzt gibt es nur noch .
Ruckartig richtet sich die Autorin im Bett auf.
Bloß nicht den Tag mit Jammerei über die böse, böse Vergänglichkeit beginnen. Avanti dilettanti! Aufstehen! Blase entleeren! Duschen! Anziehen! Frühstücken! Mit vollem Magen jammert es sich gehaltvoller.
Die Autorin vollführt ein paar gymnastische Übungen, um ihre Gelenke auf Betriebstemperatur zu bringen. Vor allem das rechte Knie will mindestens zwanzig Mal gebeugt und gestreckt werden, bevor es bereit ist, von ihr mit 61 Kilo Lebendgewicht belastet zu werden.
Ich stehe! Und es tut gar nicht weh.
Doch die Autorin hat sich zu früh gefreut. Bei ihren ersten Schritten Richtung Bad senden ihre Hüftgelenke heftige Schmerzimpulse Richtung Gehirn.
Fieslinge! Aber sendet ihr nur! Mein Gehirn wird einfach die Annahme verweigern. Das hat schließlich ein Wörtchen mitzureden. Hat mein freundlicher Schmerztherapeut gesagt, und der muss es ja wissen. Ignorieren Sie den Schmerz, lenken Sie sich ab, denken Sie an etwas Schönes. Und wenn das nicht mehr funktioniert, gibt es ja heute schon sehr intelligente Gelenkprothesen.
Die Autorin kichert und stöhnt abwechselnd.
Intelligente Kühlschränke, intelligente Autos, intelligente Zahnbürsten, sehr intelligente Prothesen. Wenn doch die Menschheit ein bisschen intelligenter würde!
In ihrem Bad angekommen stützt sich die Autorin auf das Waschbecken und atmet tief durch. Der Hüftschmerz ebbt ab.
Geht doch! Mit Sich-Ärgern kann man sich offenbar genauso gut ablenken, wie mit diesem ewigen An-was-Schönes denken. Den Tipp sollte ich an den Schmerztherapeuten weitergeben.
Während die Autorin auf dem höhenverstellbaren Klo sitzt, das auf ihre 1,75 m Körpergröße eingestellt wurde, genießt sie den warmen Fußboden unter ihren bloßen Füßen.
Fußbodenheizung, was für ein Luxus! Dafür zahl ich aber auch für diese 40-qm-Wohnung fast das Doppelte, was wir für unsere 80-qm-Wohnung bezahlt haben, Giferto. Natürlich, die war nur so billig, weil wir so lange darin gelebt haben. Mit Balkon zur Südostseite und Holzfußböden, Hamburg-Eimsbüttel. Dafür stehen sie heutzutage Schlange und versuchen, die Vermieter zu bestechen. Du glaubst gar nicht, was für eine horrende Miete die jungen Leute berappen müssen, die jetzt in unserer Wohnung leben!
Eine Stunde später hat die Autorin ihre Morgentoilette endlich bewältigt, sitzt geduscht und in ihren Wohlfühlklamotten am kleinen Wohnzimmertisch und trinkt eine erste Tasse grünen Tee.
Ah, das tut gut! Doch mir fehlt der dazugehörige Kaffeeduft aus deiner Tasse, Giferto.
Sie prostet mit ihrer Teetasse dem Foto zu, das in einem hölzernen Rahmen am Rand des Tisches steht, eins der wenigen Fotos, die sie gemacht hat. Sie hat nicht mit Licht gemalt, hat einfach durch den Sucher geguckt und abgedrückt.
Und trotzdem ist es jetzt mein Lieblingsfoto von dir. Wie du braungebrannt und mit windzerzausten Haaren am Ruder unseres Jollenkreuzers sitzt, den Blick in die Ferne gerichtet. Ja, das bist du, Giferto! Nein, verdammt noch mal, das ist nur ein Foto. Warum sitzt du nicht mit mir am Frühstückstisch, isst dein Müsli und trinkst den Kaffee, den du dir immer mit dem alten Porzellanfilter aufgebrüht hast? Du musst auch gar nichts sagen. Nach so vielen Jahren des Zusammenlebens hat man sich nicht andauernd was zu sagen. Wir hören die Nachrichten im Radio und meist genügt ein Heben der Augenbrauen, ein kurzes Stöhnen, ein verzweifeltes Auflachen, um uns über die Weltlage zu verständigen. Aber nein, du sitzt nicht da und trinkst auch nicht deinen Kaffee. Auf ewig steuerst du unser Boot hinaus auf See und ich sitze hier und kann nicht mitfahren. Du hast dich im Elbwasser vor Neuwerk aufgelöst. Die Urnen für die Seebestattung sind umweltfreundlich und zersetzen sich schnell, hat der Schipper des kleinen Kutters gesagt, der uns hinausgefahren hat in die Elbmündung, wo du mit dem Läuten der Schiffsglocke für immer von Bord gegangen bist. Der Tod gehört zum Leben, das war deine Standardantwort, wenn ich mal wieder rumgejammert hab, dass unsere Zukunft nur noch so kurz ist und das Ende näher rückt. Haben wir nicht ein verdammt gutes Leben miteinander gehabt, hast du gefragt. Ja, das haben wir. Viel zu gut! Das dicke Ende kommt noch, das wusste ich schon in jungen Jahren. Irgendwann stirbt einer von uns beiden, der Wahrscheinlichkeit nach zuerst du als der Ältere, habe ich geklagt, und dann? Dann kannst du die Erinnerung an unser Leben genießen, war deine schlichte Antwort, gefolgt von der Mahnung, über der Erinnerung niemals die Gegenwart zu vergessen. Ja, ja, origineller Vorschlag, pflücke den Tag im Hier und Jetzt, habe ich gespottet, aber etwas Besseres ist mir auch nicht eingefallen. Bis heute nicht.
Die Autorin prostet dem Foto noch einmal zu, auch wenn ihre Teetasse längst leer ist. Sie zögert, doch dann kann sie es nicht länger für sich behalten.
Ich habe ein neues Projekt, Giferto!
Sie wartet einen Moment, als könne sie eine Antwort erhalten, bevor sie ihre stumme Ansprache fortsetzt.
Das müsste dir doch gefallen? Wie oft hast du mich unerträglich genannt, wenn ich ein Manuskript abgeschlossen hatte, aber keine neue Idee in Sicht war. Ehrlich, ich fand mich auch unerträglich. Immer dasselbe Muster: Manuskript fertig, hin zum Verlag, endlich geschafft. Freude! Euphorie! Und zack: Ab in den Keller. Was jetzt? Was Neues anfangen? Mir fällt nichts mehr ein. Alles schon gesagt, gedacht, geschrieben. Warum noch eine Variation hinzufügen? Warum ich? Wer bin ich denn? Warum überhaupt schreiben, den Bücherberg vergrößern? Sowieso alles Schall und Rauch im Angesicht der Ewigkeit und der Weite des Kosmos. Ad infinitum. Nein, zum Glück nicht bis ins Unendliche, sondern für Wochen, Monate, manchmal Jahre. Und siehe! Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo eine Idee her. Ein Gedanke, ein Bild, eine Szene, ein Konflikt, ein erster Satz. Was auch immer, nur kein Lichtlein. Das hat nichts mit göttlicher Eingebung zu tun, ist nur eine Entladung der neuronalen Gewitter im Gehirn. Die lässt mich innehalten: Moment mal! Da ist was. Was ist da? In den meisten Fällen gefolgt von Ernüchterung. Ach nee, da ist nichts. Aber irgendwann gefolgt von: Da könnte was sein. Vielleicht lohnt es sich, das mal näher zu beleuchten? Oft lohnt es sich nicht, aber einmal dann doch. Trara! Tusch! Ich arbeite an einem neuen Manuskript. Mein Seelenfrieden ist...
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