Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ich habe neunzehn Jahre mit der Schwarzen Rosa zusammengelebt, ohne von ihr zu wissen, ohne diesen Namen aus einer früheren Epoche ihres Lebens zu kennen. Ich nannte sie tagaus, tagein, in allen Tonlagen, mal laut, mal leise, zärtlich, fordernd, trotzig, bettelnd: Oma.
Solange ich sie kannte, begegnete sie dem Leben mit ernster Miene. Seltsam, dass dennoch jeder, den ich später nach ihr befragte, seinen Eindruck von ihr mit einem Eigenschaftswort beschrieb, das von Herz abgeleitet war: herzlich, herzensgut, herzenswarm, aber auch beherzt und herzerfrischend. Diese Eigenschaften haben sich anders mitgeteilt als durch Lächeln: durch Taten. In der Nachbarschaft verließ man sich ganz selbstverständlich auf Oma Rosas Hilfsbereitschaft. Sie versorgte die Kinder, wenn eine Mutter krank war, sie besprach Warzen und linderte Krankheiten mit ihren selbstgesammelten Kräutern, sie pflegte den einen Nachbarn nach seinem Schlaganfall, sprach mit dem anderen, der seine Frau im Suff schlug, ein ernstes Wörtchen. Viele Worte machte sie jedoch nicht.
Ich wuchs bei ihr auf, weil meine Eltern beide berufstätig waren. An der Wand in Omas Wohnzimmer hing ein schwarzumrandetes Foto mit einer Hängevase davor. Dieser junge Mann in Uniform, in dessen ernst blickende Augen ich jeden Tag sah, war ihr Sohn Heinrich, der als 19-jähriger im Krieg gefallen war. Er tat mir furchtbar leid, weil er so früh hatte sterben müssen. Oft, wenn ich Löwenzahn oder Wiesenschaumkraut in die Vase quetschte, stand Oma neben mir und seufzte:
"Es sind immer die Besten, die jung sterben müssen."
Ich sah meine Großmutter jeden Tag, ohne sie wirklich sehen zu können. Sie war noch ganz Bestandteil meiner Innenwelt, war das, was seit Anbeginn meiner Wahrnehmung schon immer da war, die unverrückbare Konstante meines Lebens - keine Person, die ich von außen hätte betrachten können. Sie war meine Wärme und meine Sicherheit, mein Essen und Trinken, mein Halt und mein Wegweiser.
Außer mir gab es noch einen Menschen, der sie Oma nannte, - der Mann, den ich Opa nannte. Aus meiner kindlichen Sicht war er ein gutmütiger, alter, abgemusterter Seebär, der mit seinen strahlend blauen Hans Albers-Augen herrlich abenteuerliches Seemannsgarn spinnen konnte, morgens lange schlief und ab dem Nachmittag nie da war. Da ging er mal kurz an die Küste, was so viel hieß wie: in die nächstbeste Kneipe. Dass er ein Säufer und Spieler war, der auch nicht davor zurückscheute, den Ehering seiner Frau und ihren einzigen Mantel zu versetzen, um seine Spielschulden zu bezahlen, wusste ich als Kind nicht. Oma sprach nie darüber. Ich bekam nur mit, dass sie ihr Haushaltsgeld immer versteckte: in Kaffeekannen, Zuckerdosen, leeren Pralinenschachteln.
Meine Erinnerung sieht meine Großmutter nicht als Standbild, sondern als Film, weil sie immer in Bewegung war. Sie trug stets eine Kittelschürze, ihre langen Haare, die alle Abstufungen von Grau präsentierten, hatte sie zu einem Knoten geschlungen, ein Haarnetz darüber gestülpt und ihn mit Haarklammern am Hinterkopf befestigt. Erst als Tote habe ich sie ohne ihren Dutt gesehen. Sie war nicht sehr groß, schlank, ihr Gesicht durchzogen von Fältchen, die hohe Stirn, fast geteilt durch eine senkrechte Falte, wäre bei einem Mann als Denkerstirn beschrieben worden, die Augen schienen immer alles gleichzeitig im Blick zu haben.
Für mich veränderte sie sich nicht, obwohl sie neunzehn Jahre neben mir alterte. Für mich blieb sie von meinem Anfang bis zu ihrem Ende: eine alte Frau, deren Hauptaufgabe darin bestand, für mich zu sorgen. Dass sie auch einmal eine junge Frau gewesen sein musste und ihr Leben sich um etwas anderes als mich gedreht hatte, lag außerhalb meines Vorstellungsvermögens.
Omas beste Freundin war Liesbeth, die ich Tante Liesbeth nannte, obwohl wir nicht verwandt waren. Mit ihr teilte sie ihre kleinen Geheimnisse - und ein großes, wie ich dann sehr viel später herausfand.
Liesbeth lebte ganz in der Vergangenheit, weinte ihrem verlorengegangenen Pommernland nach, sprach immer wieder von den wogenden Weizenfeldern, vom Erntefest und den Osterbräuchen und was für eine fesche Magd sie doch gewesen sei, damals, auf dem Bauernhof von Oma Rosas Eltern.
"Da hausen jetzt die Pollacken", holte Oma sie dann in die Gegenwart zurück und wollte nichts mehr hören.
Für Zärteleien hatte Oma nur Verachtung über, aber sie schlug mich auch nie. Erst nachträglich begriff ich, wie außergewöhnlich dies in der Nachkriegszeit war. Ich war das einzige Kind in der gesamten Nachbarschaft, das nicht geschlagen wurde. "Aber Ohrfeigen kriegst du doch?", fragten die anderen Kinder, und wenn ich verneinte, schauten sie mich verständnislos an.
Ich wurde auch nicht ständig von ihr ermahnt, dies zu tun und das zu lassen. Ich durfte meine eigenen Erfahrungen sammeln. Nur an eine einzige eindringliche Mahnung erinnere ich mich überdeutlich. Am Tag meiner Einschulung gab sie mir ihr Geleitwort fürs Schulleben mit auf den Weg:
"Du gehörst jetzt zu einer Klassengemeinschaft. Du musst alles tun, was die Lehrerin sagt, verstanden? Aber wenn einer von deinen Klassenkameraden was Schlechtes getan hat, egal was, und du sollst sagen, wer das war - das darfst du nicht tun, hörst du, niemals! Einen Kameraden zu verraten, das ist das Schäbigste überhaupt!"
Ich gab leichthin mein großes Ehrenwort, niemals eine Petze zu werden.
Je älter ich wurde, desto mehr rückte Oma für mich in den Hintergrund. Sie war immer da, sie sorgte für mich, aber sie mischte sich kaum in mein Leben ein. Ich beschäftigte mich mit meinen Freundinnen, mit der Schule; sehr früh wurden Bücher für mich wichtig und mit der einsetzenden Pubertät natürlich die Jungs. Während viele Mütter ihre heranwachsenden Töchter eindringlich vor den Gefahren warnten, die von diesen Wesen ausgingen, warnte Oma mich vor etwas anderem:
"Wenn ich dir einen Rat für dein Leben geben darf: Lass die Finger von der Politik! Ich weiß wohl, es sind immer gerade die Weltverbesserer, die es in die Politik zieht, aber die Welt wird es dir nicht danken. Die Welt will nicht verbessert werden, die Welt will betrogen werden. Überlass die Politik den Lauen! Die Lauen schwimmen in dieser morastigen Brühe immer obenauf. Die ehrlichen Seelen saufen ab. Tu mir die einzige Liebe und halte dich von der Politik fern! Die hat genug Unglück in unserer Familie angerichtet."
So viele Worte aus ihrem Mund hatte ich bis dahin noch nie gehört. Verblüfft fragte ich nach:
"In unserer Familie? Wieso das denn?"
Sie bewegte die Lippen, als ob sie etwas sagen wollte, doch dann griff sie zu ihrer abgekauten Zigarettenspitze, zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und schaute nicht mehr mich an, sondern den Abreißkalender an der Wand.
Als ich elf war, bauten meine Eltern ein Haus in einem kleinen Dorf, in das meine Großeltern und ich mit einzogen. Gleich nach meinem Abitur ging ich zum Studium nach Hamburg und von da an sah ich meine Großmutter nur noch bei meinen Besuchen zu Hause. Im Gegensatz zu meinen Eltern störte es sie überhaupt nicht, dass ich in einer Kommune hauste. "Junge Menschen müssen sich die Hörner abstoßen", war ihr Kommentar.
Am 2.7.1975 blieb sie in ihrem Lehnstuhl sitzen und stand nicht wieder auf. Ich war vollkommen verwirrt, als meine Mutter es mir am Telefon berichtete, und konnte es nicht fassen, dass Oma einfach so aus meinem Leben verschwand. Aber mein Leben ging weiter und ich behielt meine Großmutter in dankbarer Erinnerung.
Erste Kratzer bekam mein Oma-Bild erst zwölf Jahre später, einen Tag nach der Beerdigung meines Großvaters. Ich saß bei meiner Mutter im Wohnzimmer und sie überreichte mir einen Schuhkarton. Als ich den Deckel abhob, sah ich als Erstes in die ernsten, ein wenig traurigen Augen, die über meine Kindheit gewacht hatten. Heinrich sah mich aus dem schwarzgerahmten Foto an, Omas ewiger, in ihrem Herzen unsterblicher Sohn. Ein leises Schuldgefühl regte sich in mir, denn ich hatte ihr leichtfertig versprochen, dieses Bild nach ihrem Tod entweder bei mir aufzuhängen oder es zu vernichten. "Außer mir bedeutet es sowieso niemandem etwas", hatte sie gesagt und ich hatte ihr widersprochen:
"Doch, mir! Du hast mir so viel von ihm erzählt, dass es mir vorkommt, als hätte ich ihn gekannt."
Aber dann fand ich an der Wand in einer meiner Wohngemeinschaften keinen Platz für ihn. Wie hätte ich den jungen Mann mit den Hakenkreuzen auf den Uniformaufschlägen neben Che Guevaras Porträt und Picassos Guernica hängen können? Vernichten mochte ich das Bild aber auch nicht. So überließ ich es erstmal meinem Großvater, er legte es zu den nachgelassenen Dokumenten und es wartete im Dunkel dieses Schuhkartons auf mich.
Ich legte das Foto auf den Tisch und sah die weiteren Unterlagen durch. Viel war es nicht:
Familienstammbuch, Ariernachweis, Vertriebenenausweis, Kondolenzschreiben der NSDAP zum Tode Heinrich Krauses, Lastenausgleichsbescheinigung, einige Postkarten, ein Zeitungsartikel.
Ich blätterte im Familienstammbuch und stellte meiner Mutter verblüfft einige Fragen:
"Wieso ist Oma im Harz geboren? Ich denke, sie stammt aus Pommern?"
"Nein, dahin ist die Familie Klapproth erst viel später übergesiedelt."
"Und hier sind noch Geburtsurkunden von sieben Geschwistern!"
"Ja, ja, die Klapproths waren eine große Familie. Damals hatten die Leute noch...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.