27. UND 28. SEPTEMBER 1994: KEIN TAG WIE JEDER ANDERE
Am frühen Abend des 27. September 1994, kurz vor 19:00 Uhr1, kämpften sich Carl Övberg und ein estnischer Geschäftspartner durch den zähen Straßenverkehr zum Hafen von Tallinn durch. Da Övberg dringend zurück nach Stockholm musste, wollte er die Fähre ESTONIA auf jeden Fall noch erreichen. Er wusste, dass er spät dran war, und deshalb ärgerte er sich sehr darüber, dass die Anfahrt zum Estline-Terminal von Uniformierten blockiert wurde. Mit dem Auto konnte man also nicht, wie normalerweise üblich, direkt an den Terminaleingang heranfahren. Kurz entschlossen verabschiedete er sich deshalb vor der Absperrung von seinem Geschäftsfreund und machte sich die letzten Hundert Meter im Laufschritt auf den Weg. Er habe Glück, so sagte man ihm am Ticketschalter, denn die ESTONIA habe Verspätung und würde erst gegen 19:15 Uhr abfahren.
Carl Övberg war also der letzte Passagier, der an Bord der ESTONIA ging.
Er gesellte sich erst einmal an der Rezeption im Empfangsbereich auf Deck IV zu anderen wartenden Fahrgästen, die auch keine Kabine im Voraus gebucht hatten. Auf früheren Reisen hatte Carl immer eine Kabinenreservierung gehabt, nur diesmal war dafür keine Zeit mehr gewesen. Durch seine häufigen Fahrten auf der ESTONIA wusste er aber, dass man mit etwas Glück auch noch direkt an Bord eine Kabine bekam. Carl war selbstständiger Kaufmann und handelte mit Maschinen. Er lebte und arbeitete seit einigen Jahren in Schweden, war aber auch an einer Maschinenbaufirma in Estland beteiligt. Deshalb hatte er viele Fahrten zwischen Stockholm und Tallinn und umgekehrt hinter sich gebracht, im Sommer wie im Winter, bei gutem wie schlechtem Wetter. Er kannte sich mittlerweile hervorragend auf der ESTONIA aus und hatte im Lauf der Zeit alle Restaurants und Bars besucht und diverse Kabinen bewohnt. Deshalb war er nicht allzu glücklich, als er an diesem Abend nur noch eine Kabine auf Deck I erhalten konnte. Deck I lag unterhalb des Autodecks. Instinktiv störte er sich daran, dass man auf diesem Deck praktisch unterhalb der Wasserlinie war. Er zögerte einen Moment. Sollte er vielleicht doch lieber oben auf Deck VI im Bereich der Liegesessel versuchen, etwas Schlaf zu bekommen?
Das Personal an der Rezeption reagierte gereizt auf seine zögerliche Haltung, sodass er sich nolens volens für Deck I entschied. Überhaupt fiel ihm an diesem Abend auf, dass die Leute von der Crew ziemlich nervös und gereizt schienen - im Gegensatz zu früheren Reisen. Er dachte, es läge an der bevorstehenden Schlechtwetterfahrt, denn schon in Tallinn hatte ein heftiger Wind geweht, und im Radio hatte es erste Sturmwarnungen für die Ostsee gegeben.
Für die wichtigen Verhandlungen am nächsten Tag aber musste er fit sein, und deshalb brauchte er jetzt Schlaf. Also nahm er Kabine Nr. 1049 auf Deck I. Das war im vorderen Drittel des Schiffes. Nachdem er sein Gepäck in der Kabine verstaut hatte, ging er in eines der Restaurants zum Essen, danach in die Bar. Aber schon beim ersten Bier wurde er sehr müde, kehrte in seine Kabine zurück und legte sich ins Bett. Doch richtig schlafen konnte er nicht.
Auch Per-Erik Ehrnsten, der finnische Marketingmanager einer deutschen Spirituosenfirma, war an diesem Tag an Bord der ESTONIA. Gemeinsam mit seinem Chef war er ziemlich spät an Bord gekommen. Die beiden hatten eine Verabredung mit dem Chef-Purser der ESTONIA, denn die Firma hatte bereits Verhandlungen mit der ESTONIA-Reederei Estline über die Belieferung mit alkoholischen Produkten aufgenommen. Alle trafen am Empfang auf Deck IV gegen 18:45 Uhr ein.
Per-Erik und sein Chef brauchten für das Einchecken rund 15 Minuten, und während sein Chef um Punkt 19:00 Uhr einen erwarteten Anruf über Handy entgegennahm, fiel Per-Erik auf, dass das Schiff immer noch mit Lkws beladen wurde.
Per-Erik bekam die Kabine auf Deck VI mit der Nummer 6304. Er ging noch in einen der Tax Free Shops, um etwas einzukaufen, und traf dann seinen Chef und den Purser im Seaside Restaurant, wo alle zusammen ein Abendessen einnahmen.
Man saß bis 20:30 Uhr in diesem Restaurant und ging danach in die Baltic Bar, die ebenfalls auf Deck VI lag.
Per-Eriks Chef war müde, verabschiedete sich bereits um 20:45 Uhr und überließ es Per-Erik, mit dem Purser die verschiedenen Bars des Schiffes aufzusuchen, um sich einen Eindruck über das Ambiente und den Alkoholkonsum an Bord zu verschaffen. Die Firma hatte einige Erfahrung mit dem Verkauf von Alkohol auf Fährschiffen, denn sie betrieb dieses Geschäft bereits seit vielen Jahren auf den meisten anderen Ostseerouten. Daher war Per-Erik die ESTONIA auch schon von ihren früheren Fahrten unter finnischer Flagge als VIKING SALLY und später als WASA KING vertraut.
Gegen 21:00 Uhr bemerkte Per-Erik zum ersten Mal, dass der Seegang stärker wurde. Kurz vor 23:00 Uhr hatte Per-Erik alles gesehen, was er sehen wollte, verabschiedete sich vom Purser, ging in seine Kabine und legte sich ins Bett. Da er nicht gleich schlafen konnte, las er noch in seinem Buch für circa 15 bis 20 Minuten, um dann aber doch in einen leichten Schlaf zu fallen.
Der Schwede Pierre Thiger war ungefähr 45 Minuten vor Abfahrt der ESTONIA an Bord gegangen. Er hatte eine Kabine auf Deck IV bekommen, doch hatte er nur seine Sachen verstaut und war sofort wieder losgezogen, um an Bord zu bummeln. Zuerst ging er zum Tax Free Shop und danach ins Restaurant. Gegen 23:00 Uhr verließ er das Restaurant wieder, hatte aber überhaupt keine Lust, sich schon zu Bett zu begeben. Unternehmungslustig streunte er ein wenig auf den Decks herum und traf dabei einen alten Bekannten, Alti Hakkanpää, einen Finnen, der aber schon seit mehreren Jahren in Schweden lebte.
Beide gingen schließlich zusammen in die Karaoke-Bar auf der Steuerbordseite im hinteren Teil von Deck V, um noch ein paar Gläser zu leeren. Die Stimmung war ausgezeichnet. Pierre Isaksson, ein bekannter schwedischer Sänger und Entertainer, hatte sein Publikum gut im Griff. Es gefiel auch Pierre Thiger und Alti Hakkanpää, und so setzten sie sich an die Bar.
Kurz vor 01:00 Uhr estnischer Zeit teilte Isaksson mit, dass er nicht pünktlich um 01:00 Uhr Schluss machen würde. Es war seine letzte Vorstellung auf dem Schiff, und er wollte so lange weitermachen, wie es dem Publikum gefiel. Daraufhin stieg die Stimmung noch mehr, und es wurde ausgelassen gelacht und gesungen und getanzt.
Genau zu dieser Zeit rief aus Stockholm Peter Barasinski seine Frau Carita an. Die junge Schwedin war kein Passagier an Bord der ESTONIA, sondern beaufsichtigte die Ausbildung von estnischem Restaurantpersonal. Sie teilte sich diesen Job mit ihrem Mann. Peter gehörte deshalb zur anderen Schicht und war daher an Land in Stockholm.
Peter und Carita waren beide mit der Gastronomie auf großen Fährschiffen vertraut, obwohl Peter früher als Funkoffizier auf den Schiffen der staatlichen polnischen Fischtrawler-Flotte gefahren war.
Er hatte vor Jahren in Schweden um Asyl gebeten und es erhalten. Dann hatte er sich zum Barmanager auf Fährschiffen hochgearbeitet und war vor zwei Jahren Carita begegnet: hübsch, blond, eine Schwedin wie aus dem Bilderbuch. Er hatte sich Hals über Kopf verliebt, und es gab für ihn vom ersten Tag an keinen Zweifel, dass er die Frau seines Lebens gefunden hatte. Dieses Traumpaar war immer noch verliebt wie am ersten Tag. Carita hatte vor ein paar Tagen eine kleine Operation am Augenlid gehabt und anschließend über Kopfschmerzen geklagt. Peter, der eigentlich seine Freischicht von 14 Tagen zu Hause verbrachte, hatte daraufhin angeboten, für seine Frau an Bord der ESTONIA einzuspringen. Aber im letzten Moment hatte sie es sich doch anders überlegt und war an Bord gegangen, um ihre Schicht, die noch bis zum 29. September dauern sollte, zu Ende zu bringen.
An diesem Abend turtelten die beiden wie üblich eine Weile am Telefon. Carita erzählte von der Geburtstagsparty einer Kollegin, die im Aufenthaltsraum der Crew stattfand, wohin sie vielleicht noch gehen würde. Peter war etwas besorgt wegen der gerade erst überstandenen Operation, aber Carita beruhigte ihn, da es ihr schon viel besser ging. Peter verabschiedete sich liebevoll von seiner Frau, schaute noch ein wenig ins Fernsehprogramm und schlief dann sehr bald ein.
Carl Övberg fand keinen richtigen Schlaf. Er neigte nicht zu Seekrankheit, aber die starken Bewegungen des Schiffes ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. So lag er im Bett und döste ein wenig. Plötzlich hörte er ein ihm sehr bekanntes Geräusch, wie er es von der Visierhydraulik her kannte. Danach folgten einige schwere Schläge wie mit einem großen Vorschlaghammer.
Er richtete sich in der Dunkelheit auf und lauschte. Eine Weile geschah nichts. Er stand auf und machte Licht. Dann setzte er sich aufs Bett und zündete sich eine Zigarette an. Er lauschte, und ein paar Minuten vergingen. Da er aber nichts weiter hören konnte, entspannte er sich und wollte sich schon wieder hinlegen. Doch da passierte es: ein mächtiger lauter Knall, gefolgt von einer starken Erschütterung, deren Vibration Carl...