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"Am 11. Februar wirst du am Prater einen Mann namens Arthur Grimm töten. Aus freien Stücken. Und mit gutem Grund." Gerade ist die junge Journalistin Norah von Berlin nach Wien gezogen, um ihr altes Leben endgültig hinter sich zu lassen, als ihr eine alte Bettlerin auf der Straße diese Worte förmlich entgegenspuckt. Norah ist verstört, denn ausgerechnet in der Nacht des 11. Februar ist vor vielen Jahren Schreckliches geschehen. Trotzdem tut sie die Frau als verwirrt ab, eine Irre ist sie, es kann gar nicht anders sein - bis kurz darauf ein mysteriöser Mann namens Arthur Grimm in ihrem Leben auftaucht.
Bald kommt Norah ein schlimmer Verdacht: Hat sie tatsächlich allen Grund, sich an Grimm zu rächen? Was ist damals, in der schlimmsten Nacht ihres Lebens, wirklich passiert? Und kann Norah für Gerechtigkeit sorgen, ohne selbst zur Mörderin zu werden?
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Wien zeigte ihr die kalte Schulter. Als sie vor einigen Jahren mit Alex im Sommer in der Stadt gewesen war, da war sie ganz bezaubert gewesen von dieser eigensinnigen Metropole, die so anders war als jeder Ort, den Norah kannte. Das schien ewig her.
Nun wirkte alles so düster. Edvard Munchs Vision von einem Wien, ein Finsterwald aus Asphalt, verzerrt und bedrohlich. Norahs leere Wohnung, die Düsternis der Straßen. Die Passanten mit ihren Smartphones, die Melancholie, die wie ein schmieriger Film über allem lag, allumfassend und unsichtbar. Und die gottverdammte Kälte.
Im Kiosk schräg gegenüber kaufte Norah sich eine österreichische und eine deutsche Tageszeitung sowie eine Packung Zigaretten und setzte sich damit in das Eck-Bistro. Als sie den ersten Schluck Kaffee nahm, war die Wucht der Erinnerung, die sie beim Anblick von Theresa gestreift hatte, ein wenig geschwunden, und ihre Gedanken wandten sich wieder dem zu, was vor ihr lag.
Offiziell würde ihr neues Arbeitsverhältnis erst in zwei Wochen beginnen, doch Norah brannte darauf, endlich wieder an die Arbeit zu gehen. Weswegen sie auch begeistert gewesen war, als ihr neuer Chefredakteur sie vorab zu einem Gespräch in die Redaktion eingeladen hatte. Tatsächlich war es nach ausgiebigen Telefonaten das erste echte Kennenlernen. Ein wenig nervös war sie ja doch. Sie wusste, dass sie eine gute Journalistin war, sie hatte mit einigen ihrer Reportagen Preise gewonnen, und es hatte schon in der Vergangenheit Abwerbeversuche anderer Häuser gegeben. Aber das war alles vorher gewesen. Vor dem, was sie in ihrem Kopf nur die Katastrophe nannte. Danach war ihr das Jobangebot aus Wien wie ein grausamer Scherz erschienen. Es war viel zu gut, um wahr zu sein.
Dr. Mira Singh, die Verlegerin, hatte sie höchstpersönlich angerufen. Durch Norahs Reportage über Soldatinnen in Afghanistan sei sie auf sie aufmerksam geworden, habe anschließend alles gelesen, was sie in den letzten Jahren veröffentlicht habe und schätze ihre Arbeit sehr. Ihre Beobachtungsgabe, ihr Gespür für Themen. Man habe in Wien gerade ein neues Wochenmagazin gegründet und stelle sich eine top besetzte Redaktion vor, die sich - statt mit der Geschwindigkeit des Internets konkurrieren zu wollen - durch aufwändig recherchierte Geschichten von profilierten Autorinnen und Autoren von der Masse der Magazine absetzen wolle.
Für Norah hatte das regelrecht paradiesisch geklungen. Wo war der Haken? Sie hatte Singh gefragt, ob sie wisse, dass sie gerade eine Klage am Hals habe, und diese hatte nur gemeint, sie kenne den Text, um den es gehe. Sie suche eine Frau mit Haltung und glaube, sie in ihr gefunden zu haben. Einen Tag Bedenkzeit hatte sich Norah erbeten. Aus Prinzip. Dann hatte sie zugesagt. Was sonst hätte sie tun sollen?
Und nun war sie hier.
Die Redaktion befand sich unweit des Stephansdoms, im touristischsten Teil der Stadt, direkt an einer der riesigen Einkaufsmeilen mit ihren Fast-Food-Läden und Bekleidungsketten - ein Angebot, das in jeder größeren europäischen Stadt, die Norah bereist hatte, nahezu identisch war. Norah kannte die Gegend von einer ihrer früheren Reisen nach Wien. Von morgens bis abends war sie von Touristen und allen, die von ihnen lebten, bevölkert. Da waren die Reisegruppen auf dem Weg zum Stephansdom, die Trickdiebe, die Straßenmusiker, hier und da ein paar gestresste Städter, die versuchten, sich halbwegs effizient durch die Menschenmassen zu bewegen, die Teenager, die Selfies auf ihren iPhones machten. Und die Bettler. Die Obdachlosen. Wie Geister kamen sie ihr vor. Ihre Rufe hallten durch die Straßen, immer und immer wieder, wie die von Gespenstern. Hallo? Hallo? Und die Lebenden fröstelten, wenn sie ihre Stimmen vernahmen, und taten so, als hörten sie nichts. Vor vielen Jahren hatte sie einmal eine Reportage über minderjährige Obdachlose machen wollen, ihren damaligen Chef aber nicht dafür interessieren können. Vielleicht war jetzt die Zeit reif für so eine Story? Norah zündete sich eine Zigarette an und ging gedankenverloren die Straße hinunter. Mit der Zunge spielte sie an einem ihrer Backenzähne herum, auf dem ein seltsamer Druck lag, so, als sei der Zahn sich unsicher, ob er ihr nun wehtun wollte oder nicht. Das fehlte noch. Sie wollte am Abend einkaufen gehen, nicht zum Zahnarzt.
Vor dem H&M saß ein unscheinbares Mädchen. Höchstens Anfang zwanzig, kastanienbraunes Haar unter der schwarzen Wollmütze, Army-Parka, abgekaute Fingernägel, ein Schild vor sich. Ich habe Hunger. Daneben ihr Schäferhund. Ein Stück weiter: ein bebrillter Mann um die sechzig mit feinen Gesichtszügen. Dann war da noch der vermutlich psychotische Typ mit den blonden Dreadlocks, der die meiste Zeit über introvertiert vor sich hin murmelte und die Passanten anschnorrte, bisweilen aber ausfallend wurde und vorbeigehende Frauen mit erstaunlicher Phantasie und Ausdauer vulgär beschimpfte.
Und dann war da noch sie. Eine ältere Frau mit eindrucksvollen Falten und klaren, hellblauen Augen. Mit der Art von Gesicht, mit dem Fotojournalisten Preise gewannen, wenn sie es irgendwo in einem entlegenen Bergdorf entdeckten.
Sie saß oder kniete nicht auf dem Boden wie die meisten anderen Bettler. Sie stand, eine kleine, messingfarbene Schale vor sich, nicht etwa am Rand der Straße, die sich durch die Fußgängerzone zog, sondern genau in deren Mitte, völlig unbeeindruckt vom Gewühl um sie herum. Es war erstaunlich. Diese Frau, die Norah auf locker einen Meter und fünfundachtzig schätzte, stand im Weg, doch niemand rempelte sie an, die Hektik der Metropole umspülte sie wie das Wasser eine Flussinsel. Hin und wieder warf ihr ein Passant ein paar klimpernde Münzen in die Schale; sie bedankte sich nie. Stand einfach unbeweglich da, düster und aufrecht im stetigen Strom der Menschen. Ein Findling. Ein schwarzer Turm. Das Einzige an ihr, was sich bewegte, waren die Augen. Unwillkürlich fragte Norah sich, welche Geschichte diese Frau wohl zu erzählen hatte.
Sebastian Berger, Norahs neuer Chef, war ein großer, kräftiger Mann in den Fünfzigern, mit zurückgekämmtem, immer noch dunklem Haar. Er trug Jeans und ein braunes Jackett aus Tweed, das ihm, so fand zumindest Norah, etwas leicht Professorales verlieh. Vor allem aber trug er einen Gesichtsausdruck, der sagte: Sie habe ich mir aber ganz anders vorgestellt. Das war Norah gewohnt. Selbst mit Mitte dreißig wurde sie wegen ihres fein geschnittenen Gesichts und ihres zierlichen Körperbaus bei Terminen noch häufig für die Praktikantin gehalten. Als sie die Fotos von sich hatte anfertigen lassen, die auf verschiedenen Online-Portalen unter ihrem Autorenprofil auftauchten und die sicher auch Sebastian Berger gesehen hatte, hatte sie auf dunkle Kleidung und einen ernsten Gesichtsausdruck geachtet und letztlich die Bilder ausgesucht, auf denen sie am erwachsensten aussah. Im echten Leben standen ihr solche Tricks nicht zur Verfügung, und ihr war schon früh in ihrem Berufsleben klar geworden, dass sie härter arbeiten und tougher sein musste als die meisten, um sich Respekt zu verschaffen. Berger immerhin fing sich schnell, bot ihr einen Kaffee an, und sie setzten die Konversation über potenzielle Magazinthemen, die sie in den vergangenen Wochen bereits am Telefon begonnen hatten, fort. Als Norah gute zwei Stunden später im Aufzug nach unten fuhr, schwirrte ihr der Kopf vor lauter Ideen. Wie gut, zurück an die Arbeit zu gehen.
Draußen war es wärmer als am Morgen, die Temperaturen waren gestiegen. Norah wollte heute noch aufs Amt, ihr Auto ummelden, und falls die Wartezeit nicht den ganzen Tag in Anspruch nahm, konnte sie sich anschließend nach neuen Möbeln umsehen. Sie knöpfte den grauen Wintermantel auf, den sie über ihrem schwarzen Wollkleid trug, es war beinahe frühlingshaft mild, Sonnenschein, dunkelblauer Himmel. Keine Schatten in dieser Stadt, nirgendwo. Kurz hielt sie inne, als sie die Menschenmassen sah, die sich, vom herrlichen Wetter ins Freie gelockt, durch die Fußgängerzone walzten. Sog alles auf, was sich um sie herum tat.
Der Geruch von Frittierfett, Passanten, Touristen, Streifenpolizisten, Leuchtreklame, Tauben, Zigarettenkippen, Coffee-to-go-Becher, Absatzgeklapper. Ein Mann, der Touristen Rosen aufschwatzte, Hufgetrappel in der Ferne, Springbrunnen, Ballonverkäufer, Eistüten und Popcorn und Smartphone-Zombies und Trickdiebe. Norah wurde geschluckt, mit Haut und Haar, versuchte, schneller voranzukommen, vergebens. Wurde sogar ein Stück zurückgeworfen, als ihr eine riesige Reisegruppe entgegenkam. Norah ließ alle Höflichkeit fahren und kämpfte sich, die Tasche mit ihren Unterlagen für das Amt fest an den Körper gepresst, ohne Rücksicht auf Verluste voran. Sie war gerade so einem Rikschafahrer ausgewichen, der es aus unerfindlichen Gründen für eine gute Idee hielt, Fahrgäste durch dieses Gewimmel zu chauffieren, als ihr klar wurde, dass ihr Telefon klingelte. Sie fischte es aus der Tasche, warf einen Blick auf das Display, zuckte zusammen. Alex. Seit Norah erst ins Hotel und schließlich nach Wien gezogen war, hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Keiner von ihnen hatte sich beim anderen gemeldet. Norah starrte auf das Display, ihr war kalt. Sollte sie den Anruf annehmen oder ihn auf die Mailbox laufen lassen? Und dann war es zu spät. Alex hatte aufgegeben. Norah ließ das Handy in die Manteltasche gleiten, hob den Blick.
Die alte Bettlerin von vorhin stand direkt vor ihr. Sie war so hochgewachsen, dass Norah zu ihr aufschauen musste. Instinktiv griff sie in ihre Handtasche und nach ihrem Portemonnaie, um der Frau ein paar Euro zu geben.
»Du bringst den Tod«, sagte die Frau.
Ihre Stimme klang ruhig und rau....
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