Anton Storch, Bundesminister für Arbeit, am Schreibtisch seines Arbeitszimmers. 1. April 1952.
Historischer Rückblick auf die Sozialgesetzgebung
Ein Beitrag von Birgit Raab und Astrid Westermann
Norbert Blüm ("Die Rente ist sicher") kennen Sie bestimmt. Doch kennen Sie auch Anton Storch?
"Ich erinnere mich, dass der 1. April auch der Geburtstag Otto von Bismarcks ist, der den ersten Stein zur modernen Sozialpolitik in Deutschland gelegt hat. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Sie nun das Bauwerk in so großzügiger Weise haben weiterführen können ."
Mit diesen Zeilen gratulierte der niedersächsische Sozialminister Heinz Rudolph dem damaligen Bundesarbeitsminister Anton Storch zu dessen 65. Geburtstag am 1. April 1957. Und mit diesen Zeilen möchten wir unseren historischen Rückblick auf die Sozialgesetzgebung in der Bundesrepublik beginnen.
Warum mit Anton Storch?
Weil er als erster Bundesarbeitsminister im Kabinett von Konrad Adenauer von 1949 bis 1957 die soziale Neuordnung der Bundesrepublik Deutschland entscheidend mitgeprägt hat. So bewertet es die Konrad Adenauer Stiftung auf ihrer Homepage1.
Anton Storch (1.4.1892-26.11.1975) gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zu den "Männern der ersten Stunde". In Hannover war er 1945 sowohl an der Gründung der Christlich Demokratischen Union (CDU) als auch des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) beteiligt. Und übernahm 1946 die Leitung der sozialpolitischen Abteilung des DGB in der britischen Zone.
Die Einführung der Tarifautonomie in der gesamten Bundesrepublik geht ebenso auf ihn zurück wie der Abschluss eines Kriegsopferversorgungsgesetzes. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften konnte 1951 das Gesetz über die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie verabschiedet werden. Am 11. Oktober 1952 folgte das Betriebsverfassungsgesetz, das 1972 novelliert wurde.
In die zweite Amtszeit von Storch fiel die Errichtung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Nürnberg und die Gründung des Bundesarbeits- und des Bundessozialgerichtes in Kassel 1954.
Die Konrad Adenauer Stiftung bemerkt weiter: "Seinen größten Erfolg hatte Storch mit der Rentenreform2 von 1957. Es gelang ihm, das von seinem Ministerium erarbeitete Konzept der dynamischen Rente gegen alle Widerstände . durchzusetzen, wodurch das Rentenniveau an die allgemeine Lohnentwicklung gekoppelt wurde ."
Doch was Storch für uns erwähnenswert macht, liegt in der Einführung des Bundesschwerbeschädigtengesetzes.
Bonn, den 4. Juni 1952
An den Herrn Präsidenten des Deutschen Bundestages. In der Anlage 1 übersende ich den von der Bundesregierung beschlossenen Entwurf eines Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter (Schwerbeschädigtengesetz) nebst Begründung mit der Bitte, die Beschlussfassung des Bundestages herbeizuführen. Zuständig ist der Bundesminister für Arbeit. Der Deutsche Bundesrat hat zu der Vorlage gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes in seiner 79. Sitzung am 29. Februar 1952 Stellung genommen und die aus der Anlage 2 ersichtlichen Änderungen vorgeschlagen. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass das Gesetz seiner Zustimmung bedarf. Die Stellungnahme der Bundesregierung zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates ergibt sich aus Anlage 3.
Der Stellvertreter des Bundeskanzlers
Blücher3
Vorausgegangen war eine heftige Debatte. So schreibt etwa das "Hamburger Abendblatt" am 12. April 1952:
"An dem Entwurf, der in der nächsten Woche im Bundestag zur Sprache kommt, bemängelt der Reichsbund, dass in größeren Privatbetrieben nur sechs, in der Verwaltung nur zehn Prozent der Arbeitsplätze für Schwerbeschädigte vorgesehen sind. Als besonders ungünstig wird der Vorschlag einer Mindestzahl von sogar nur vier Prozent angesehen, da man befürchtet, dass die Minimalfestsetzung zur Regel werden könnte. Um die 70.000 arbeitslosen Schwerbeschädigten unterzubringen, fordert daher der Reichsbund einen acht- bzw. zwölfprozentigen Anteil an den Arbeitsplätzen."
Am 16. Juni 1953 wurde das Gesetz (BGBI, I S.389) verabschiedet.
"Schon bald nach der Verabschiedung stellte sich jedoch heraus, dass bei stetigem Wachstum der Wirtschaft die Zahl der Pflichtplätze die Zahl der unterzubringenden Schwerbeschädigten beträchtlich überstieg. Am 31. Januar 1955 waren von rund 670.000 Pflichtplätzen nur rund 390.000 besetzt, 280.000 Plätze standen offen . Ende 1960 standen 6000 arbeitslosen Schwerbeschädigten 320.000 offene Pflichtplätze gegenüber. Und so kam es 1961 zur ersten Novellierung.
Wie bereits 1953 ging es erneut um die Frage, wer zu dem geschützten Personenkreis dazugehören solle. Und man bezog sich auch 1961 auf die Begründung von 1953, die da lautete: ,Das Schwerbeschädigtengesetz wurde in erster Linie erlassen, um die körpergeschädigten Kriegsopfer möglichst schnell und umfassend in das Wirtschafts- und Arbeitsleben einzugliedern.' In diesem Sinne ist es ein Kriegsfolgengesetz.
Durch die Einbeziehung aller Körperbehinderten mit einer erheblichen Minderung der Erwerbsfähigkeit würde das Gesetz einen völlig anderen Charakter erhalten und die Probleme aufwerfen, die im Rahmen dieser technischen Novelle nicht entschieden werden können4."
Und hier ein Überblick über weitere Meilensteine auf dem langen Weg hin zum heutigen Bundesteilhabegesetz5:
Am 1. Mai 1974 tritt das Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft in Kraft. Damit sind staatliche Unterstützungsleistungen erstmalig nicht mehr von der Ursache, der Art und dem Umfang der Behinderung abhängig. Damit wird das Schwerbeschädigten-gesetz durch das Gesetz zur Weiterentwicklung des Schwerbeschädigtenrechts zum Schwerbehindertengesetz modernisiert.
1974: Auch in der Krankenversicherung wird der Rehabilitationsgedanke gesetzlich festgeschrieben.
Am 1. Januar 1976 wird das Sozialgesetzbuch I (Regelung zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit) verabschiedet. Somit wird allen behinderten oder von einer Behinderung bedrohten Menschen unabhängig von der Ursache der Behinderung ein Recht auf notwendige Hilfe anerkannt.
1986 wird in einem zweiten Schritt die Beurteilung der Behinderung verändert: Statt nach dem "Grad der Erwerbsminderung" wird nun nach dem "Grad der Behinderung" eingestuft.
1994 wird der Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" in Artikel 3 des Grundgesetzes aufgenommen.
1998 fließt die Verabschiedung eines Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes in die Koalitionsvereinbarung ein.
Das am 1. Juli 2001 in Kraft tretende Sozialgesetzbuch 9 (SGB IX) überträgt das Benachteiligungsverbot gemäß Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes in die Sozialpolitik.
Das 2002 in Kraft tretende Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen gibt den Dienststellen des Bundes Rahmenbedingungen vor, die vor Benachteiligungen schützen sollen. Das Gesetz differenziert die Leitvorstellungen des Gesetzgebers zur Eingliederung Behinderter; aber es gewährt nicht selbst:
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
unterhaltssichernde und ergänzende Leistungen und
Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
2006: Das "Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen" (Convention on the Rights of Persons with Disabilities), ein Menschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, sowie das Fakultativprotokoll wurden am 13. Dezember 2006 verabschiedet; am 3. Mai 2008 traten sie in Kraft, nachdem die ersten 20 Staaten das Übereinkommen und zehn das Fakultativprotokoll ratifiziert hatten.
Die heute als UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bekannte Vereinbarung tritt in Deutschland am 26. März 2009 in Kraft.
"Ich begrüße die Änderungen im parlamentarischen Verfahren - Baustellen bleiben, aber das Gesetz ist eine Basis für die weitere Arbeit."
Verena Bentele
Das sagte Verena Bentele, die damalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, am
1. Dezember 2016, als der Deutsche Bundestag in zweiter und dritter Lesung das Bundesteilhabegesetz (BTHG) verabschiedete. Ein Punkt, den Verena Bentele damals kritisch sah, betrifft das Zusammenlegen von Leistungen (Poolen). "Aus meiner Sicht berücksichtigt das Gesetz das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen...