Schweitzer Fachinformationen
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Das Doppeldorf
Auch in Groß Zicker grüßte der Lenz. Für Lilo Gondorf jedoch bedeuteten wachsende Pflanzen auch wachsende Mühe - und erinnerten sie an ihre drei großen Probleme: Sie hatte keinen grünen Daumen, keine Freude an der Gartenarbeit und kein Geld für Personal. Momentan kämpfte sie mit Vinca, zu deutsch Immergrün, aus der Familie der Hundsgiftgewächse. Ob das Gewächs tatsächlich ungesund für Hunde war, konnte Lilo nicht sagen, aber ganz sicher schadete es ihrer Laune: Den gesamten Vorgarten hatte sie letztes Jahr damit bepflanzt in der Hoffnung, dass der Bodendecker tat, was sein Name verhieß: den Boden immer zu bedecken. Doch im feuchtkalten Winter waren etliche Triebe abgefault, und zwischen den Pflanzen hatten sich kahle Stellen gebildet. Dort schlug nun Unkraut seine Wurzeln. Kurzum: Die Fläche zwischen Haus und Jägerzaun befand sich in einem unhaltbaren Zustand. Das war zwar nicht Lilos Ansicht - sie gönnte jedem Kraut ein Recht auf Wachstum -, wohl aber die Meinung des Kurdirektors. Und der musste es wissen. Neulich erst hatte er Lilos Anlage wieder mit fünf Seesternen ausgezeichnet. Höchstwertung! Und so sollte es bleiben. Lilo durfte keinen Stern verlieren, denn dann würden auch die Gäste ausbleiben - und das konnte sie sich noch weniger leisten als einen Gärtner. Die fünf Seesterne vergab die Kurverwaltung natürlich nicht nur für den Vorgarten, sondern für das gesamte Anwesen. Hinter Lilos Wohnhaus standen auf einem weitläufigen Grundstück zwei Holzbungalows mit Südterrassen und Boddenblick. Und ein solches Urlaubsdomizil brauchte nun mal auch einen gepflegten Garten.
Seit siebzehn Jahren lebte Lilo hier. Ursprünglich stammte sie aus Bielefeld. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie nach einem Neuanfang gesucht und war mit ihrer Tochter auf die Insel gezogen. Doch während Verena schon längst in Stralsund arbeitete, gehörte Lilo im Doppeldorf Groß Zicker/Gager mittlerweile längst zum festen Inventar - und wollte nie mehr weg. Die Landschaft ließ sie nicht mehr los. Der Bodden mit seinen sanftgrünen Verschlingungen von Land und Meer, da ging ihr das Herz auf - ganz egal wie nervtötend der Alltag auch war.
An diesem Morgen griff sie zur langstieligen Harke, setzte ihre Schritte ins Beet und schlug die Metallkralle in den Boden. Kurz darauf fluchte sie, denn die Aufgabe gestaltete sich schwieriger als erwartet. Wenn Lilo wirklich nur das Unkraut und nicht die lebenden Triebe des Immergrüns entwurzeln wollte, musste sie behutsam vorgehen. Wieder und wieder bückte sie sich, um den unerwünschten Teil der Botanik per Hand aus dem Erdreich zu ziehen. Dabei tröstete sie der Gedanke, dass Bewegung gesund ist - besonders in ihrem Alter. Schon volle sechzig. Andere Leute mit so vielen Kerzen auf der Torte verbrachten ihr Leben am Kachelofen, doch dafür reichte Lilos Rentenanspruch noch nicht aus.
Abgesehen vom Garten wartete in dieser Woche keine schwere Arbeit auf sie. Am letzten Samstag hatte sie ihre Ostergäste verabschiedet und die Bungalows gereinigt. Das Boddenhüsken, mit zwei Schlafzimmern der größere von beiden, sollte erst Ende des Monats neue Mieter empfangen. Für das kleinere Mövennest hatte sich zum kommenden Wochenende ein Ehepaar aus Regensburg angekündigt. Freundliche ruhige Leute, die schon ein paar Mal ihren Urlaub hier verbracht hatten.
Gerade richtete Lilo sich auf, um in schönstem Sonnenschein eine Pause einzulegen, da sah sie ihren Nachbarn Oskar. Er kehrte vom Einkauf in Gager zurück, an seinem Fahrradlenker baumelte ein gut gefülltes Netz.
»Und?«, rief sie hinüber. »Was gefangen?«
Er winkte. »Aal und Makrele von der Räucherbude. Ich lege das bloß in den Kühlschrank, dann komme ich rüber und helfe.«
Oskar verschwand mit dem Rad in der Garage. »Brauchst du nicht!«, rief sie zurück und wusste: Er würde es trotzdem tun.
Ach ja, Oskar. Auch kein leichtes Thema für Lilo. Im vorletzten Sommer hatten die ehemalige Kriminalkommissarin und der Arzt im Ruhestand einen Entführungsfall aufgeklärt - und dafür jede Menge Kommentare über sich ergehen lassen müssen. Da seht ihr mal, wie gut ihr zusammenpasst, hieß es im Ort. Was bei einem Verbrechen geht, funktioniert privat erst recht. Und ihr tanzt doch auch miteinander. Wenn solche Bemerkungen fielen, lächelten die beiden - und schwiegen. Die Dörfler blieben am Ball: Irgendwann werdet ihr doch noch ein Paar, lautete das Urteil. Aber Lilo kam nicht an gegen ihr Herz, und das sagte nun mal: Es sollte nicht mehr werden zwischen ihr und ihm. Auch nicht nach fast fünfzehn Jahren, die sie sich inzwischen kannten.
Ein paar Minuten später tauchte Oskar wieder auf, in Gummistiefeln und mit einem Karton voller Pflanzen. Lilo schaute genauer hin: Tatsächlich! Frisches Immergrün. Dabei hatten sie vorher keine Silbe darüber gewechselt.
Er stellte den Karton ab. »Bitte schön. Zwölf Stück. Sollte reichen.«
»Aber .«
Er hob die Hand. »Alles gut, min Deern. Ich habe doch den Schlamassel hier gesehen. Und ich war ja sowieso im Gartenmarkt.«
»Danke.« Eigentlich hätte sie ihm um den Hals fallen müssen, doch mit Umarmungen hielt sie sich zurück. Sie wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen.
Stattdessen wies sie auf den Spaten, der am Torpfosten lehnte. »Die setze ich sofort ein.«
»Wir zusammen!«, befahl er. »Und dabei erzähle ich dir was. Willst du graben oder pflanzen?«
»Lieber pflanzen.«
Lilo war keine große Freundin körperlicher Arbeit. Das ist was für Männer, fand sie, und störte sich nicht daran, die schlimmsten Klischees zu erfüllen. »Nun erzähl schon!«, mahnte sie und holte den Spaten, der am Mauerpfosten lehnte.
»Also: In Gager steppt der Bär. Die Leute stehen vor den Räucherbuden und quatschen sich die Köpfe heiß.«
Lilo grinste. »Mal wieder ein seltsamer Beschluss der Kurverwaltung?«
»Nein. Aber ein seltsamer Leichenwagen.«
»Wo? Bei Segert?«
»Ach, sieh mal an! Segert fällt dir also zuerst ein?«
»Na ja. Bei dem, was Heiko Raabe uns so erzählt hat, muss einen ja nichts wundern.«
»Was wundert dich nicht? Dass Segert tot ist?«
»Genau.«
»Ist er aber gar nicht.« Oskar nahm ihr den Spaten ab. »Und jetzt sag mir doch mal, wo ich bei dir graben darf.«
Lilo überhörte die Zweideutigkeit und wies auf eine Lücke im Beet. »Da zuerst, bitte. Aber lenk nicht ab: Der Leichenwagen war also gar nicht für Segert? Für wen dann?«
»Weiß keiner.«
»Keiner?«
»Na ja. Die Polizei wird das schon wissen. Und die Bestatter natürlich auch. Aber sonst weiß es keiner im Dorf. Darum reden die Leute ja so viel.«
»Also war die Polizei bei Segert? Wegen der Leiche?«
»Nein, zuerst wegen der Katzen.« Schmunzelnd rammte Oskar den Spaten in die Erde. »Ich will dich ja nicht ärgern, min Lev. Darum jetzt mal von vorne: Die Behörden haben in einer Riesenaktion die Katzen beschlagnahmt und dabei vermutlich eine Leiche entdeckt. Die Polizei hat Segert mitgenommen und bringt ihn in die Psychiatrie oder in den Knast. Und über den Leichenwagen gibt es großes Rätselraten.«
Lilo wollte eine Pflanze aus der Kiste nehmen, doch sie hielt inne. »Also hat Segert was mit der Leiche zu tun? Ist er tatverdächtig? Wegen eines Tötungsdelikts?«
»Du traust es ihm offenbar zu.«
»Berufskrankheit.« Beherzt griff Lilo zum Immergrün. »Am besten kommt gleich noch eins daneben. Ist doch eine ziemlich große Lücke.«
»Aber mit genügend Abstand, sonst behindern die sich beim Wachsen.«
»Hm.« Ideal schien ihr der Vorschlag nicht, aber mit Pflanzen verstand Oskar sich besser als sie. Dafür hatte sie mehr Ahnung von Mördern.
»Viel wissen wir ja nicht über Segert. Aber wenn das stimmt, was Heiko Raabe uns erzählt hat, dann ist er doch heftig neben der Kappe. Also nicht steuerungsfähig.«
»Und deswegen traust du ihm einem Mord zu?«
»Ja klar. Aber nun lass uns nicht wild spekulieren. Die Bestatter waren in Segerts Haus, aber er lebt noch. Das ist doch alles, was wir sicher wissen.«
»Ach, min Lev«, Oskar hob Erde aus, »zier dich nicht so. Segerts Katzen werden beschlagnahmt, und plötzlich rollt ein Leichenwagen an. Natürlich denken die Leute an ein Verbrechen - am liebsten natürlich mit dem Exminister als kaltblütigen Mörder.«
»Weil so was den Fremdenverkehr belebt?«
»Ja sicher, min Best. Haben wir doch erlebt vorletztes Jahr.«
Lilo stöhnte auf. An die Suche nach dem entführten Berliner Notar erinnerte sie sich mit gemischten Gefühlen. Bevor ihr eine passende Bemerkung einfiel, fuhr Oskar fort: »Und ich muss dir was gestehen. Eine Sache, über die ich bisher geschwiegen habe.«
»Ach?« Sie setzte ein Immergrün ins nächste Loch und trampelte die Erde fest. »Können wir das hier bereden, oder brauchen wir einen Beichtstuhl?«
»Geht auch hier. Die Pflanzen nehmen wohl keinen seelischen Schaden. Wo soll die nächste hin?«
»Da in die Lücke. Und nun sprich!«
Oskar wagte ein paar Schritte quer durchs Beet. »Ich habe dir das nicht erzählt, weil es unter meine Schweigepflicht fällt.«
»Oskar!«
»Ich weiß, ich weiß«, er hob die Hand, »es wäre bei dir gut aufgehoben gewesen. Aber vor allem habe ich es nicht erzählt, weil ich es unwichtig fand.«
»Aha? Und inzwischen ist es wichtig?«
»Ja, weil es Segert betrifft. Und wegen der Leiche auf seinem Grundstück. Also: Im August hatte...
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