Schweitzer Fachinformationen
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Der letzte Tag des Jahres
31. Dezember 1919
Dorset
Cristabel hebt den Stock auf. Er liegt ihr gut in der Hand. Sie ist im Garten und wartet mit dem Rest des Haushalts darauf, dass ihr Vater mit ihrer neuen Mutter zurückkehrt. Diener in Livree hauchen sich auf die kalten Finger. Saatkrähen krächzen halbherzig von den Bäumen, die das Haus umgeben. Es ist der letzte Dezembertag, der Bodensatz des Jahres. Der Nachmittag siecht langsam dahin, und der Rasen ist ein einziger Morast aus Schlamm und Schneeresten, über den die dreijährige Cristabel in ihren ledernen Schnürstiefeln trampelt. Ihren Stock trägt sie dabei wie ein Schwert vor sich her, eine Miniatursoldatin in einem Wintermantel mit Messingknöpfen.
Sie lässt den Stock durch die Luft pfeifen und genießt das zischende Geräusch, das er dabei macht. Wwtsch, wtsch. Sie spießt ein Stück schmutzigen Schnee auf und steckt es sich in den Mund. Der Schnee fühlt sich auf ihrer Zunge so kühl an wie die Eisblumen am Dachbodenfenster, mit dem einzigen Unterschied, dass er nicht an der Zunge kleben bleibt. Es schmeckt enttäuschend nach nichts. Irgendwo - zu weit weg, als dass sie sich wirklich darum kümmern würde - ruft ihr Kindermädchen sie beim Namen. Cristabel blinzelt das Geräusch einfach weg. Sie beobachtet die Schneeglöckchen, die am Rande des Gartens lächeln. Wwtsch wtsch.
Cristabels Vater, Jasper Seagrave, und seine frisch angetraute Braut sitzen in diesem Moment nebeneinander in einer Kutsche und fahren die Auffahrt zu Jaspers Familiensitz hinauf: Chilcombe, ein vielgiebeliges, vielschornsteiniges, efeubedecktes Anwesen, mit einer elefantösen Anmutung müder Größe. Sein Umriss ist eine Abfolge von absteigenden Dreiecken und hoch aufragenden Schornsteinen. Seit vierhundert Jahren kauert es auf einer bewaldeten Klippe über dem Meer, mit schmalen, bleigefassten Fenstern, die dem Seewind und dem historischen Fortschritt trotzen, und vermittelt den Eindruck allmählichen Versinkens.
Das Personal auf Chilcombe sagt, dass heute ein ganz besonderer Tag sei, aber Cristabel findet ihn langweilig. Dieses ständige Gewarte. Dieses ständige Gerade-stehen-Müssen. Das ist kein Tag, aus dem man eine gute Geschichte machen könnte. Cristabel mag Geschichten, in denen Donnerbüchsen und Hunde vorkommen statt Bräuten und Warterei. Wwtsch. Als sie die Überreste der Schneeglöckchen aufhebt, hört sie das knochenartige Knirschen von Kies unter Wagenrädern.
Ihr Vater steigt als Erster aus der Kutsche, so rund und zufrieden wie eine Pferdebohne, die gerade aus ihrer Schote gepult wurde. Dann erscheint ein einzelner Fuß in einem Knöpfstiefel, gefolgt von einem Samthut, der sich nach oben richtet, um das Haus anzuschauen. Cristabel beobachtet das schnurrbärtige Gesicht ihres Vaters. Er blickt jetzt ebenfalls nach oben, betrachtet die junge Frau mit dem Hut, die ihn immer noch um ein gutes Stück überragt, weil sie auf der ersten Stufe der Kutsche steht.
Cristabel marschiert durch den Schnee auf sie zu. Sie ist fast angekommen, als ihre Gouvernante sie packt und ihr zuzischt: »Was hast du da in der Hand? Wo sind deine Handschuhe?«
Jasper dreht sich um. »Warum ist das Kind so schmutzig?«
Das schmutzige Kind ignoriert seinen Vater. Es interessiert sich gar nicht für den mürrischen, bösen Mann. Stattdessen nähert sie sich ihrer neuen Mutter und hält ihr eine Handvoll Erde und Schneeglöckchen-Blütenblätter hin. Doch die neue Mutter ist geschickt im Annehmen ungeschickter Geschenke - immerhin hat sie ja auch den dröhnend vorgebrachten Heiratsantrag von Jasper Seagrave angenommen, einem rundlichen, hinkenden Witwer mit einem nicht zu bändigenden Bart.
»Für mich«, sagt die neue Mutter, und sie spricht es nicht so aus, als wäre es eine Frage. »Wie originell.« Sie tritt lächelnd aus der Kutsche und senkt ihre Hand langsam auf Cristabels Kopf, als stünde das Kind zu genau diesem Zweck da. Unter ihrem Samthut trägt die neue Mutter ein schickes Reisekostüm aus Wolle und ist in eine Nerzstola gehüllt.
Jasper wendet sich an die Dienerschaft und verkündet: »Gestatten Sie, dass ich Ihnen meine neue Frau vorstelle: Mrs Rosalind Seagrave.«
Vereinzelter Applaus.
Cristabel findet es komisch, dass die neue Mutter den Namen Seagrave trägt, das ist schließlich ihr Name. Sie schaut auf die Erde in ihrer Hand, dann dreht sie sie um und lässt sie auf die neuen Stiefel ihrer Mutter fallen, um auszuprobieren, was dann passiert.
Rosalind entfernt sich von dem Kind, das nicht lächelt. Ein mutterloses Kind, ruft sie sich in Erinnerung, dem die weibliche Führung fehlt. Sie überlegt, ob sie Bänder für sein zerzaustes schwarzes Haar oder einen Schildpattkamm hätte mitbringen sollen, aber dann ist auch schon Jasper an ihrer Seite und führt sie zur Tür.
»Endlich bist du da«, sagt er. »Chilcombe ist nicht gerade in Bestform. Früher hatten wir ein großartiges schmiedeeisernes Eingangstor.«
Als sie über die Schwelle treten, redet er über die Festlichkeiten, die sie an den nächsten Abenden erwarten. Er erzählt, dass die Dorfbewohner ganz entzückt seien über ihre Ankunft. Ein Festzelt sei hinter dem Haus aufgebaut worden, man werde ein Schwein grillen, und dann würden alle dem jung verheirateten Paar mit ihren Bierkrügen zuprosten.
Dann zwinkert er ihr zu, in seinem Tweedanzug, in dem er sich nicht so recht wohlfühlt, und sie ist nicht sicher, wie sie dieses Zumachen und Aufmachen seines Auges interpretieren soll, dieses bühnenhafte Zucken.
Rosalind Seagrave, geborene Elliot, dreiundzwanzig Jahre alt, die in der Tatler-Ausgabe vom April 1914 als »selbstsichere Londoner Debütantin« beschrieben wurde, betritt jetzt durch den steinernen Eingang von Chilcombe einen holzgetäfelten Flur, der sich nach oben erstreckt wie ein mittelalterlicher Rittersaal. Es ist ein hohler Trichter, dämmrig beleuchtet durch flackernde Kerzen, die in Messinghaltern stecken, die an der Wand befestigt sind. Die Luft erinnert sie an leere Kapellen an abgelegenen Orten.
Es ist ein seltsames Gefühl, ein fremdes Haus zu betreten und zu wissen, dass es ihre Zukunft enthält. Rosalind schaut sich um, versucht es zu erfassen, bevor es sie bemerkt. Am Ende des Flurs befindet sich ein Kamin: groß, gemauert, jedoch ohne Feuer darin. Darüber hängen gekreuzte Schwerter. Es gibt nicht allzu viele Möbel, und das Mobiliar spricht sie nicht so an, wie sie gehofft hatte. Eine geschnitzte Eichenholztruhe mit Eisenscharnieren. Eine Rüstung, die einen Speer in der Hand hält. Eine Standuhr, ein nadelnder Weihnachtsbaum und ein Flügel, auf dem eine Vase mit Lilien steht.
Der Flügel ist ein Hochzeitsgeschenk von ihrem Mann, wie sie weiß, aber er ist an die Seite geschoben worden, unter den ausgestopften Kopf eines Hirschs. An allen Wänden hängen weitere Tierköpfe, glasäugige Löwen und Antilopen, neben antiken Gobelins, auf denen Leute im Profil abgebildet sind, die mit Pfeilen herumfuchteln. Da Blau die letzte Farbe ist, die an einem Wandteppich verblasst, gleichen die einst so farbenprächtigen Kampfdarstellungen inzwischen traurigen Unterwasserszenen.
Rechts neben dem Kamin befindet sich eine geschwungene Holztreppe, die in die oberen Stockwerke des Hauses führt, während rechts und links von ihr ausgetretene Perserteppiche durch Torbögen in dunkle Zimmer führen, die zu weiteren Torbögen in weitere dunkle Zimmer führen, und so weiter und so fort, wie eine Illustration der Unendlichkeit. Der Absatz ihres Stiefels verfängt sich in einem Teppich, als sie einen Schritt vorwärts machen will. Wenn sie hier Feste veranstalten wollen, müssen sie vorher diese Teppiche entfernen, denkt sie sich.
Jasper erscheint neben ihr. Er spricht gerade mit seinem Butler. »Sagen Sie mal, Blythe, ist mein umherziehender Bruder schon eingetroffen? Es war für ihn offenbar zu viel verlangt, sich auf meiner Hochzeit zu zeigen.«
Der Butler antwortet mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln, denn so wird Chilcombe geführt, mit so vertrauten und abgenutzten Gesten, dass sie gar keine Gesten mehr sind - der Eindruck von etwas, was einmal da war, der Abdruck eines Fossils im Stein.
Jasper schnieft, dann wendet er sich seiner Frau zu. »Die Dienstmädchen werden dir dein Zimmer zeigen.«
Während Rosalind die Treppe hochbegleitet wird, kommt sie an einer Reihe von Gemälden vorbei, auf denen Männer mit Halskrausen zu sehen sind, die mitten in der Jagd innegehalten haben, um sich porträtieren zu lassen, und ihre bestrumpften Unterschenkel auf die noch warmen Körper von erlegten Ebern gestellt haben.
Cristabel beobachtet alles aus einer Ecke. Sie hat sich hinter einem Schirmständer aus Holz versteckt, der die Form eines kleinen Inders hat: Seine ausgestreckten Arme bilden einen Kreis, an den man Regenschirme hängen kann, aber auch Reitpeitschen und die Gehstöcke ihres Vaters. Sie wartet, bis ihre neue Mutter außer Sichtweite ist, dann rennt sie durch den Flur zur hinteren Treppe, die von der Haupttreppe versteckt ist. Sie führt ins Dienstbotenreich: Küche, Spülküche, Speisekammern und Keller. Hier, in den Wurzeln des Hauses, kann sie sich verstecken und ihre neuen Schätze untersuchen: den Stock und die Halbmonde von Dreck unter ihren Fingernägeln.
Heute ist im Reich der Dienstboten der Teufel los, die geflieste Küche vibriert nur so vor Geschäftigkeit. Die Dienerschaft ist aufgeregt wegen der Feier am Abend, nervös, weil sie die Hochzeitsfeier ausrichten müssen, und gleichzeitig tratschen sie genüsslich über die neue Gattin des Hausherrn. Cristabel...
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