Schweitzer Fachinformationen
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»Sieh dir das an«, sagte Charlie Nolan und breitete den Arm aus wie ein Oberkellner, der seinen Gästen einen besonders guten Tisch zuweist.
»Ach, jetzt hör schon auf.« Nora Nolan blickte durch die schmale Öffnung auf den Parkplatz, an dessen Ende sie mit Mühe die vordere Stoßstange ihres Wagens erkennen konnte.
»Es ist ein Traum, Bun«, sagte Charlie. »Komm schon, es ist ein Traum, das musst du zugeben. Sieh. Dir. Das. An.« Das tat Charlie immer, wenn er sichergehen wollte, dass man ihn auch verstand: Er machte Wörter zu Sätzen. Mit Punkten dazwischen.
Ein. Super. Deal.
Der. Hat's. Drauf.
Und an dem Abend vor fast fünfundzwanzig Jahren, als sie sich in einer überfüllten Bar im Village kennenlernten, die inzwischen ein veganes Restaurant war: Du. Bist. Toll.
Richtig. Richtig. Toll.
Nora wusste nicht mehr genau, wann sie das erste Mal gedacht, wenn auch nicht gesagt hatte: Nur. Noch. Nervig.
Zwischen den schmalen Stadthäusern, die auf ihrer Straßenseite in Reih und Glied standen wie schlanke Soldaten mit makelloser Haltung und unbewegter Miene, befand sich eine unübersehbare Lücke, ein fehlendes Truppenmitglied, der hausbreite Eingang zu einer Brachfläche, die zu einem Freiluft-Parkplatz umfunktioniert worden war. Nur sechs Autos passten hin, und weil praktisch jeder Anwohner einen Stellplatz wollte, waren sie zur heißen Ware geworden, zu einer eigentümlichen Form von Statussymbol.
Ein Buch über Stadtgeschichte aus dem Archiv eines Museums, in dem Nora einmal zum Vorstellungsgespräch gewesen war, hatte ihr verraten, dass das Haus auf dieser Parzelle komplett ausgebrannt war und die Besitzer sich nie die Mühe gemacht hatten, es wieder aufzubauen. Das war Anfang der Dreißiger gewesen, als dem Land, der Stadt und der West Side von Manhattan das Geld fehlte, was sich in den Siebzigern dann wiederholt hatte und zweifellos auch in Zukunft wieder passieren würde, denn so war schließlich der Lauf der Welt.
Aktuell schien das allerdings fast undenkbar. Eine Straße weiter war gerade ein Haus für zehn Millionen Dollar weggegangen, nach einem regelrechten Bieterkrieg. Die bisherigen Besitzer hatten seinerzeit, als ihre Kinder klein waren, sechshunderttausend dafür bezahlt. Nora wusste das, weil ihre Nachbarn und sie sich ununterbrochen über Immobilien austauschten. Ihre Kinder, ihre Hunde und die Immobilienpreise - das war die Heilige Dreifaltigkeit der Gesprächsthemen in gewissen New Yorker Kreisen. Bei den Männern gab es noch Golfplätze und Weinhändler abzuhandeln, bei den Frauen Dermatologen. Wenn Nora an die Spielplatzgespräche von früher zurückdachte, als ihre eigenen Kinder klein waren, wurde ihr bewusst, dass nicht mehr der Name des besten Kinderarztes zählte, sondern der des besten Schönheitschirurgen.
Eine einzelne Straße inmitten der gefühlt bevölkerungsreichsten Insel auf Erden - in Wirklichkeit schafften sie es nicht einmal unter die Top Ten, wie Nora einmal von einem Geografieprofessor erfahren hatte -, und man kam sich doch vor wie in einer Kleinstadt. Wer hier ein Haus besaß, hatte nicht nur die eigenen, sondern auch die Kinder der anderen aufwachsen sehen, hatte die Hunde auf ihrem Weg vom Welpen bis zur Gebrechlichkeit und schließlich ins Krematorium auf dem Haustierfriedhof in Hartsdale begleitet. Jeder wusste, wer wann renovierte und wer es sich nicht leisten konnte. Sie hatten alle denselben Handwerker.
»Sie leben tatsächlich in dieser Sackgasse?«, war Nora vor vielen Jahren einmal bei einer Vernissage gefragt worden. »Ein Freund von mir hat da ein Jahr zur Miete gewohnt. Er meinte, das sei wie eine Sekte.«
Kein Mensch, der in dieser Straße ein Haus besaß, interessierte sich für die Mieter. Sie kamen und gingen, mit ihren Schlafsofas, ihren nachgebauten Designklassikern und den Ikea-Umzugskisten am Randstein. Sie waren jung, ungebunden. Sie hängten an Weihnachten keine Kränze an die Tür, stellten keine Blumenkästen auf die Fensterbank.
Die Hausbesitzer hingegen taten das, und sie blieben.
Von Zeit zu Zeit klapperten Immobilienmakler die Straße ab, schoben ihre Visitenkarten durch die Briefschlitze, darauf hingekritzelt eine Mitteilung wegen dieser eigenartigen Brachfläche am oberen Ende der Straße, die Nachfrage, wem sie gehörte und ob sich dort wohl ein neues Stadthaus bauen ließ. Einstweilen blieb sie ein kleiner, schlecht gepflegter Parkplatz von kurioser Form, wie in einer dieser Geometrieaufgaben, die nur dazu dienten, angehenden Studierenden bei der Uni-Aufnahmeprüfung einen Strich durch die Rechnung zu machen: Bestimmen Sie die Fläche dieses Rhombus. Und auf dem schlechtesten Stellplatz, in die letzte Lücke hinter dem angrenzenden Haus geklemmt, stand jetzt Charlie Nolans Volvo Kombi, im Farbton Sherwood Green. Nach Noras Schätzung konnte er dort seit höchstens fünf Stunden stehen, aber die Windschutzscheibe war bereits mit dem kreidig-weißen Konfetti der Tauben-Hinterlassenschaften gesprenkelt.
Am Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, hatte Charlie das Deckenlicht im Schlafzimmer angemacht, strahlend, wie er das sonst nur tat, wenn er an einem großen Abschluss beteiligt gewesen war, seinen Bonus zu niedrig geschätzt oder für eine Flasche Wein weniger bezahlt hatte, als sie seines Erachtens wert war.
»Ich habe einen Stellplatz!«, krähte er.
Nora stemmte sich auf die Ellbogen hoch. »Bist du noch zu retten?«, fragte sie.
»Sorry, sorry, sorry!« Charlie machte das Licht sofort wieder aus, verharrte aber im Türrahmen. Es gab eine altgediente Abmachung in ihrer Ehe: Außer in absoluten Notfällen durfte Nora an den Wochenenden ausschlafen. Sie sah sich als Mensch mit wenigen Grundbedürfnissen, aber Schlaf gehörte eindeutig dazu. Das halbe Jahr, in dem ihre Kinder mitten in der Nacht gefüttert werden wollten oder zumindest wach wurden, zählte zu den schwierigsten Phasen ihres Lebens. Hätte sie nicht gleich Zwillinge bekommen, sie hätte es wahrscheinlich bei einem Kind belassen, so schrecklich war der Schlafentzug.
Charlie wusste das. Er stand früher auf als Nora, um zur Arbeit zu gehen, und seine Kommode, das Bad und sein Schrank waren allesamt mit Lämpchen ausgestattet, damit er sich schnell etwas anziehen und später noch einmal die Kleidung wechseln konnte, nachdem er den Hund ausgeführt und, wieder zu Hause, geduscht hatte. Meistens setzte sich Nora dann im Nachthemd zu ihm an den Küchentisch - wo er, bereits in Anzug und Krawatte, seine All-Brans löffelte -, obwohl sie morgens gern so wenig wie möglich redete.
Und trotzdem weckte ihr Mann sie jetzt, am Samstagmorgen, mit einer vollen Ladung Licht.
»Ich habe einen Stellplatz«, wiederholte er, wenn auch nicht mehr ganz so aufgedreht, als wollte er seine Gefühlstemperatur etwas mehr auf ihr Niveau herunterregeln.
Jetzt sah sie den Wagen also in der unzugänglichsten Ecke des Parkplatzes stehen, wohin er bereits aus der bewachten Garage zwei Straßen weiter befördert worden war. Charlie summte vor sich hin. Als sie in die Straße gezogen waren, hatte er sich bei den anderen Parkern erkundigt, ob er vielleicht den Stellplatz erben könne, den die Vorbesitzer des Hauses frei gemacht hatten. Die unmissverständliche - und wie alles, was man in der Straße erfuhr, quasi osmotisch kommunizierte - Antwort lautete, dass die Stellplätze auf dem Parkplatz ein Privileg und kein Anrecht seien, und Charlie meldete sich zähneknirschend bei der nahe gelegenen Garage an, nicht ohne dieses Scheitern insgeheim auf seine Liste der »Dinge, die bei Charlie Nolan nicht nach Plan liefen« zu setzen - eine Liste, von der Nora befürchtete, dass sie im Lauf des letzten Jahres zu einem Buch, wenn nicht gar zu einer Enzyklopädie angewachsen war.
Obwohl sich Charlie häufig bei Nora beschwerte, dass die Miete für die Garage kaum niedriger sei als die für ihre erste Wohnung, stand es doch nie zur Debatte, auf der Straße zu parken. Ein bezahlter Parkplatz schaffte zumindest Abhilfe für eines jener belanglosen Ärgernisse, die ständig wie Wasser auf den Stein des Egos tröpfeln, bis man eines Tages feststellt, dass sie eine faustgroße Höhlung im eigenen Kopf hinterlassen haben. Für Charlie bedeutete das Leben in der Stadt ein stetigeres Tröpfeln und härteres Wasser, das wusste Nora. Er rief es ihr schließlich oft genug in Erinnerung. New York war nicht Charlies natürlicher Lebensraum.
Nora hoffte, dass der heutige kleine Triumph, der für ihren Mann offenbar gewaltig war, ihn zumindest ein wenig dafür entschädigen würde. Seit Jahren wurmte es Charlie jedes Mal, wenn er an der Brachfläche vorbeiging, und nun hatte er dort endlich einen Platz ergattert. Auf dem Esstisch lag die handgetippte Benachrichtigung, die durch den Briefschlitz geschoben worden war und Charlie darüber in Kenntnis setzte, dass der ehemals den Dicksons vorbehaltene Stellplatz jetzt ihm gehöre, falls er ihn haben wolle. Und auf dem Stellplatz stand ihr Volvo. Es war ein Auto wie ihr Leben - erfolgreich, unaufdringlich, ordentlich, ohne Essensreste, ohne Kindersitze, weder irgendwelches Kleingeld noch Krümel im Fußraum. Wenn der Leasingvertrag auslief, würde eine einfache Inspektion genügen, bevor sie sich ein anderes, praktisch identisches Auto zulegten. Charlie dachte ständig laut über andere Hersteller, andere Modelle, andere Farben nach. Nora war das gleichgültig. Sie benutzte den Wagen so gut wie nie.
In einer kurzatmigen Sommerbrise wirbelte eine weiße Plastiktüte um Noras nackte Knöchel, streifte sie, kitzelte sie, umspielte ihre rosa lackierten Zehen. Sie schüttelte sie ab, und die Tüte wanderte weiter die Straße entlang, hob und senkte sich wie ein kleines Gespenst, bis sie zwischen zwei parkenden Autos verschwand. In der Straße...
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