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Das Konzept des autoritären Charakters und die These von der Schuldabwehr bestimmen seit Jahrzehnten den Diskurs über Antisemitismus in Deutschland. Aber sind sie überhaupt noch hilfreich und vor allem: zeitgemäß? In ihren aufsehenerregenden Adorno-Vorlesungen legt Ilka Quindeau aus psychoanalytischer Perspektive dar, warum das nicht der Fall ist. Beide Erklärungsmodelle aus dem Denkzusammenhang der frühen Kritischen Theorie dienen nämlich der psychischen Entlastung und lenken von der eigenen Involviertheit ab. Nach dem Motto: Antisemiten sind immer die anderen.
Anhand von Fallvignetten aus ihrer klinischen Praxis arbeitet Quindeau heraus, dass es sich bei jener latenten, bewussten Überzeugungen widersprechenden Form des Antisemitismus um eine kulturell vermittelte und transgenerationell übertragene Ausdrucksgestalt des Unbewussten handelt. Diese ist keineswegs an einen bestimmten Charakter gebunden und wird in folgenreicher Weise nicht psychisch, sondern vielmehr strategisch abgewehrt. Um ihr zu begegnen, ist der Vorwurf des Antisemitismus allerdings kein probates Mittel, wie Quindeau am Beispiel der hitzigen Debatten um die documenta fifteen und die Berlinale 2024 analysiert. Das Ziel einer produktiven Kritik des Antisemitismus ist nur mittels Selbstreflexion erreichbar. Nur auf diesem Weg, so zeigt dieses Buch, wird Solidarität möglich sowie ein Mitfühlen mit dem Leid der anderen.
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An die Zusammenarbeit von Psychoanalyse und Kritischer Theorie knüpften sich große Erwartungen. Vielversprechend und innovativ war vor knapp einhundert Jahren die Verbindung von Psychologie und Gesellschaftskritik, die im Frankfurter Institut für Sozialforschung vom damaligen Direktor Max Horkheimer programmatisch entworfen wurde. Paradigmatisch für diese Zusammenarbeit steht das Konzept des autoritären Charakters. Mit ihm sollte die Empfänglichkeit von Individuen für den Faschismus erklärt werden. Antisemitismus war nicht nur wissenschaftshistorisch ein zentrales Thema der Kritischen Theorie. Um ihn zu verstehen - als Leidenschaft und als Weltanschauung, wie Sartre es griffig formulierte -, bedarf es sowohl einer soziologischen als auch einer psychoanalytischen Perspektive. Denn nur so lässt sich das Zusammenspiel von gesellschaftlichen Semantiken und psychischen Dynamiken, aus dem sich der Antisemitismus speist, in den Blick nehmen. Die großen sozialpsychologischen Studien der Kritischen Theorie, die in den 30er-, 40er- und 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden sind, lassen einen engen Zusammenhang der drei Schwerpunkte Autoritarismus, Faschismus und Antisemitismus erkennen: Das Autoritarismus-Theorem gehört nach wie vor zu den zentralen Annahmen der Antisemitismusforschung. Doch so überzeugend dies damals auch gewesen sein mag: Heute könnte uns die enge Beziehung von Autoritarismus und Antisemitismus den Blick auf den gegenwärtigen Antisemitismus verstellen. Das ist die leitende These 8dieses Buches, das aus den Adorno-Vorlesungen hervorgegangen ist, die ich 2023 in Frankfurt gehalten, für diese Publikation aber grundlegend überarbeitet und auch erweitert habe.
In Teil I, »Wozu Antisemitismus?«, lasse ich die vielversprechende Verbindung von Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie Revue passieren und lege einen Schwerpunkt auf die Kritik des »autoritären Charakters«. Dieses bis in die Gegenwart für die Antisemitismusforschung zentrale Konzept stelle ich aus psychoanalytischer Perspektive infrage, um andere Möglichkeiten zu entwickeln, die die psychische Empfänglichkeit für Antisemitismus und seine psychodynamischen Funktionen verstehbar machen. Dazu werde ich die einschlägigen sozialpsychologischen und psychoanalytischen Konzeptualisierungen heranziehen und kritisch diskutieren. Zuerst wird in Kapitel 1 schlaglichtartig das Verhältnis von Kritischer Theorie und Psychoanalyse beleuchtet; dabei werde ich den Visionen und Problemen dieser Zusammenarbeit nachgehen, insbesondere anhand einer kritischen Rekonstruktion der ursprünglichen Konzeptualisierung des autoritären Charakters durch Erich Fromm und der späteren Reformulierung durch Theodor W. Adorno im Zusammenhang der im US-amerikanischen Exil durchgeführten Studien zur authoritarian personality. Von psychoanalytischer Seite aus wurde die Verbindung von Kritischer Theorie und Psychoanalyse fortgeführt durch die Arbeiten von Alfred Lorenzer und Klaus Horn und ihre Entwürfe zu einer Kritischen Theorie des Subjekts. Wegweisend dafür erscheint die Etablierung von Psychoanalyse als epistemologischer Disziplin, um die sich Horn und Lorenzer ebenfalls verdient gemacht haben. Es geht dabei nicht - wie in der frühen Kritischen Theorie - um die Anwendung psychoanalytischer Theoreme auf gesellschaftliche Problemlagen. Vielmehr soll die spezifische Hermeneutik, die unter den Begriffen »Tiefenhermeneutik« oder »Szenisches Verstehen« firmiert, über das klinische Setting hinaus zur Erhellung gesellschaftlicher Probleme nutzbar gemacht werden.
9Zur Vertiefung einer Zusammenarbeit von Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie schlage ich in Kapitel 2 einen Ansatz aus der französischen Psychoanalyse vor. Um den Aporien der Freud'schen Triebtheorie zu entgehen und zu einer stabilen Grundlegung der Freud'schen Psychoanalyse zu gelangen, hat Jean Laplanche die klassischen Konzepte des Triebs und des Unbewussten neu interpretiert. Ich nenne seinen Ansatz »alteritätstheoretische Psychoanalyse« aufgrund des Primats, den Laplanche dem Anderen darin einräumt, und halte ihn für überaus geeignet, um Erklärungsmodelle zu entwickeln, mit denen sich die Empfänglichkeit der Subjekte für Antisemitismus näher beschreiben lässt. Eine zentrale Rolle spielen dabei das Ödipale als Kernkonflikt von Vergesellschaftung und Subjektkonstitution sowie die daraus entstehende Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz. Laplanche versteht die Psychoanalyse als »Anti-Hermeneutik«; ihr Ziel sei nicht die Gewinnung von Sinn, sondern die Dekonstruktion bestehender Sinnstrukturen. Auch wenn dies auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag, lässt sich seine Auffassung trefflich mit Lorenzers Ansatz der Psychoanalyse verbinden: Dekonstruktion und Szenisches Verstehen stehen in einem dialektischen Zusammenhang und wechseln sich im psychoanalytischen Erkenntnisprozess beständig ab.
In Kapitel 3 werde ich die Grundzüge einiger psychoanalytischer Antisemitismustheorien rekonstruieren, um psychodynamische Motive des Judenhasses vorzustellen. Freuds Verständnis von Antisemitismus, der zentrale Bezugspunkt psychoanalytischer Deutungen in diesem Zusammenhang, ist zentriert um die religiöse Differenz von Judentum und Christentum, aus der die unbewussten Motive des Judenhasses resultieren. Diese Motive des christlichen Antijudaismus setzen sich im säkularen Antisemitismus in leicht veränderter Form fort. Während Freud die unbewusste Tiefenstruktur des Antisemitismus erklärt, aber nicht die Psyche der Antisemiten, suchen seine Nachfolger den psychischen Grundkonflikt von Antisemiten zu bestimmen. Un10terschiedlich wird die Frage beantwortet, ob es sich beim Antisemitismus um eine Form der (Massen-)Pathologie handelt. Der Konflikt von Obrigkeitsdenken und Rebellionsneigung, den Otto Fenichel und Erich Fromm konzipieren, bildet schließlich die Grundlage für das Konzept des autoritären Charakters. Neuere Ansätze untersuchen den Antisemitismus mithilfe einer Theorie des Narzissmus. Der postnazistische Antisemitismus wird wesentlich unter dem Aspekt der Schuldabwehr konzipiert.
Zum Abschluss dieses Teils werde ich in Kapitel 4 die bisherigen Überlegungen in der Frage nach der psychischen Funktion, dem »Wozu« des Antisemitismus, bündeln. Anhand kurzer Fallvignetten aus der klinischen Praxis stelle ich dar, auf welches verpönte Begehren Antisemitismus antwortet und worin die psychischen Konflikte - in traditioneller psychoanalytischer Terminologie: die Triebkonflikte - bestehen können, für die Antisemitismus als Ersatzbefriedigung fungiert. In der analytischen Arbeit tritt Selbstreflexion an die Stelle der »pathischen Projektionen«. Auf diese Weise dient Psychoanalyse als epistemologische Disziplin, genutzt wird ihre Methode und nicht ihr Theoriekorpus wie in der frühen Kritischen Theorie.
Neben dem Autoritarismus-Theorem besteht das zweite zentrale Konzept der Kritischen Theorie zur Erklärung des Antisemitismus in der Annahme einer psychischen Abwehr von Schuld. Diese These durchzieht den erinnerungspolitischen Diskurs im Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart hinein und ist das Zentralthema von Teil II dieses Buches. Verbunden mit der These der Schuldabwehr ist die Annahme einer spezifischen Form von Antisemitismus, des sekundären Antisemitismus, der es Jüd:innen anlastet, an Auschwitz zu erinnern. Theodor W. Adorno widmete diesen Fragen den berühmten Text »Schuld und Abwehr« aus dem Jahr 1955, der auf einer breit angelegten empirischen Studie des Instituts für Sozialforschung basiert, dem sogenannten »Gruppenexperiment«. Ich werde das Schuld11abwehr-Theorem in diesem Kontext rekonstruieren und seine Plausibilität aus psychoanalytischer Perspektive reflektieren.
Dazu werde ich in Kapitel 1 dieses Teils kurz das »Gruppenexperiment« und die zentralen Thesen der qualitativen Auswertung Adornos vorstellen sowie kritische Punkte herausarbeiten. Im Fokus steht dabei seine Annahme eines unbewussten Schuldgefühls aufgrund der Verbrechen des Nationalsozialismus, insbesondere der Shoah. Rekonstruiert wird der von Adorno verwendete Schuldbegriff ebenso wie sein Abwehrkonzept.
In den teilweise brillanten und nach wie vor zutreffenden Beobachtungen und Interpretationen Adornos vermischen sich die Ebenen der Semantik und des psychischen Geschehens, wie ich in Kapitel 2 darlegen werde. In den empirischen Projekten der...
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