Kapitel 1
Das fahle Leuchten des Mondes passte zu ihm.
In dem silbernen Licht, das die Wiese erhellte, wirkte Gabriel Banner, Graf von Wylde, so geheimnisvoll und gefährlich wie der zum Leben erweckte Held einer Legende.
Phoebe Layton brachte ihre Stute am Rand des Wäldchens zum Stehen und beobachtete mit angehaltenem Atem, wie Wylde auf sie zugeritten kam. Sie versuchte, ihre zitternden Hände zur Ruhe zu bringen, als sie die Zügel anzog. Dies war nicht der richtige Augenblick, um die Nerven zu verlieren. Sie war eine Lady auf einer heiligen Mission.
Sie brauchte einen Ritter, der ihr zur Seite stünde, und die Zahl der geeigneten Kandidaten war nicht gerade groß. Tatsächlich war Wylde der Einzige, der ihres Wissens nach über die erforderlichen Qualitäten verfügte. Aber erst einmal musste sie ihn dazu überreden, diese Rolle zu übernehmen.
Seit Wochen hatte sie daran gearbeitet. Bis jetzt hatte der eigenbrötlerische, zurückgezogen lebende Graf sämtliche ihrer geheimnisvollen Briefe ignoriert, mit denen sie versucht hatte, sein Interesse zu wecken. Also hatte sie verzweifelt beschlossen, eine andere Taktik anzuwenden. In dem Versuch, ihn endlich aus der Reserve zu locken, hatte sie den einzigen Köder ausgelegt, dem er garantiert nicht widerstehen konnte.
Die Tatsache, dass er heute Abend hier auf diesem einsamen Feldweg mitten in Sussex war, zeigte ihr, dass es ihr endlich gelungen war, ihn zu einem Treffen zu bewegen.
Wylde wusste nicht, wer sie war. Ihre Briefe hatte sie als die »verschleierte Lady« unterzeichnet. Phoebe bedauerte diese kleine Täuschung, aber sie war unumgänglich gewesen. Hätte Wylde gleich zu Beginn des Unternehmens ihre wahre Identität gekannt, hätte er sich mit größter Wahrscheinlichkeit geweigert, ihr zu helfen. Sie musste ihn zu dieser Mission überreden, ehe sie es wagen durfte, ihm ihren Namen zu nennen. Phoebe war sicher, dass er die Gründe für die anfänglichen Heimlichkeiten verstehen würde, wenn er erst einmal die ganze Geschichte erfuhr.
Nein, Wylde kannte sie nicht, aber Phoebe kannte ihn.
Sie hatte ihn seit fast acht Jahren nicht mehr gesehen. Mit sechzehn hatte sie ihn für eine lebende Legende gehalten, für einen edlen, tapferen Ritter aus einer mittelalterlichen Liebesgeschichte. In ihren jungen Augen hatten ihm nur die schimmernde Rüstung und das Schwert gefehlt.
Obwohl Phoebe sich deutlich an ihre letzte Begegnung erinnerte, wusste sie, dass Gabriel ganz bestimmt nichts mehr davon wusste. Er war damals viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Flucht mit ihrer Schwester Meredith zu planen.
Phoebe beobachtete neugierig, wie er näher kam. Dummerweise machten der dichte Schleier, den sie trug, und das fahle Mondlicht es unmöglich, genau zu erkennen, inwieweit er sich in all den Jahren verändert hatte.
Ihr erster Gedanke war, dass er noch imposanter war, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Größer. Schlanker. Irgendwie härter. Seine Schultern wirkten breiter unter dem Mantel, den er trug. Die enganliegenden Reithosen betonten die starken, muskulösen Umrisse seiner Schenkel. Der geschwungene Rand seines Hutes warf einen bedrohlichen, undurchdringlichen Schatten auf sein Gesicht.
Einen beunruhigenden Moment lang fragte sich Phoebe, ob dies vielleicht der falsche Mann war. Vielleicht sah sie sich auch gerade einem echten Bösewicht gegenüber, einem Straßenräuber oder Schlimmerem. Sie rutschte nervös in ihrem Sattel hin und her. Wenn ihr diese Nacht etwas passierte, hätte ihre arme, geplagte Familie bestimmt das Gefühl, es sei durchaus gerechtfertigt, folgende Worte in ihren Grabstein eingravieren zu lassen: Schließlich zahlte sie den Preis für ihren Leichtsinn, ja das wäre passend. In den Augen ihrer überfürsorglichen Sippe hatte Phoebe ihr gesamtes Leben damit zugebracht, von einer Klemme in die nächste zu rutschen. Und dieses Mal war sie vielleicht tatsächlich ein zu großes Risiko eingegangen.
»Die geheimnisvolle verschleierte Lady, wie ich annehme?«, fragte Gabriel kühl.
Phoebe atmete erleichtert auf. Ihre Zweifel an der Identität des Mannes waren wie ausgelöscht. Diese dunkle, feste Stimme erkannte sie auch nach acht Jahren wieder. Was sie überraschte, war die Freude, die sie bei ihrem Klang verspürte. Sie runzelte die Stirn.
»Guten Abend, Mylord«, sagte sie.
Gabriel brachte seinen schwarzen Hengst nur wenige Fuß vor ihrer Stute zum Stehen. »Ich habe Ihre letzte Nachricht erhalten, Madam. Ich fand sie höchst ärgerlich, ebenso wie die anderen Schreiben.«
Phoebe schluckte, als ihr klar wurde, dass er nicht gerade bester Stimmung war. »Ich hatte eigentlich gehofft, Ihr Interesse zu wecken, Sir.«
»Ich habe eine starke Abneigung gegen Täuschungsmanöver jeglicher Art.«
»Ich verstehe.« Phoebes Mut sank. Eine starke Abneigung gegen Täuschungsmanöver jeglicher Art. Plötzlich fragte sie sich, ob es nicht vielleicht ein ernsthafter taktischer Fehler gewesen war, sich mit Wylde einzulassen. Umso besser, dass sie sich heute Abend verschleiert hatte. Auf keinen Fall sollte er wissen, wer sie war, falls ihre Verhandlungen scheiterten. »Trotzdem freue ich mich, dass Sie beschlossen haben, meine Einladung anzunehmen.«
»Meine Neugier hat mich getrieben.« Gabriel lächelte schwach im Mondlicht, aber sein Lächeln enthielt keine Wärme, und seine dunkle Miene verriet keine Regung. »Sie sind mir seit zwei Monaten ein Dorn im Auge, Madam. Ich nehme an, das ist Ihnen durchaus bewusst.«
»Das tut mir leid«, sagte Phoebe mit ernster Stimme. »Aber ich war wirklich verzweifelt, Mylord. Es ist recht schwierig, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Sie haben meine ersten Briefe nicht beantwortet, und da Sie nur selten in der Öffentlichkeit auftauchen, wusste ich nicht, wie ich sonst Ihre Aufmerksamkeit erregen sollte.«
»Also haben Sie beschlossen, mich derart zu provozieren, dass ich mich schließlich doch dazu entschied, Sie zu treffen?«
Phoebe atmete tief ein. »So in etwa.«
»Es gilt allgemein als gefährlich, mich zu verärgern, meine geheimnisvolle verschleierte Lady.«
Daran zweifelte sie nicht einen Augenblick, aber jetzt war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Sie war bereits zu weit gegangen, um nun das nächtliche Unternehmen abzublasen. Sie war eine Lady auf einer heiligen Mission, und sie musste Mut beweisen.
»Ach ja, Mylord?« Phoebe bemühte sich um einen kühlen, amüsierten Ton. »Die Sache ist die, dass Sie mir einfach keine Wahl gelassen haben. Aber keine Angst, ich bin sicher, dass Sie froh sein werden, meiner Einladung Folge geleistet zu haben, wenn Sie erst einmal gehört haben, was ich zu sagen habe, und ich weiß, dass Sie mir dann auch mein kleines Täuschungsmanöver verzeihen werden.«
»Falls Sie mich hierherbestellt haben, um zu triumphieren, dann kann ich Sie nur warnen. Ich bin kein guter Verlierer.«
»Triumphieren?« Sie blinzelte hinter dem Schleier, doch dann wurde ihr klar, dass er von dem Köder sprach, den sie benutzt hatte, um ihn heute Abend hierherzulocken. »Oh ja, das Buch. Also bitte, Mylord. Sie sind ebenso versessen darauf, das Manuskript zu sehen, wie ich es bin. Offensichtlich konnten Sie meiner Einladung, es sich anzusehen, nicht widerstehen, auch wenn ich die neue Besitzerin bin.«
Gabriel tätschelte den Hals seines Hengstes. »Anscheinend haben wir ein gemeinsames Interesse für mittelalterliche Manuskripte.«
»Stimmt. Und wie ich sehe, sind Sie verärgert, dass ich es war, die Der Ritter und der Zauberer entdeckt hat«, sagte Phoebe. »Aber Sie sind doch sicher großmütig genug, um einzugestehen, dass ich meine Nachforschungen mit großer Geschicklichkeit durchgeführt habe. Das Manuskript befand sich schließlich hier in Sussex, praktisch direkt vor Ihrer Nase.«
Gabriel nickte anerkennend. »Sie scheinen bei solchen Dingen ziemliches Glück zu haben. Dies ist bereits das dritte Manuskript, das Sie in den letzten Wochen vor mir in die Hände bekommen haben. Darf ich fragen, warum Sie es nicht einfach abholen und mitnehmen, so wie Sie es mit den anderen Büchern gemacht haben?«
»Wie ich in meinen Briefen bereits angedeutet habe, möchte ich mit Ihnen sprechen, Sir.« Phoebe zögerte und fuhr dann eilig fort: »Und um ehrlich zu sein, dachte ich, es sei vielleicht ganz vernünftig, heute Abend einen Begleiter zu haben.«
»Ah.«
»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Mr. Nash ein sehr eigenartiger Mann ist, selbst für einen Buchsammler. Als er die Zeit nannte, um die er mir das Manuskript aushändigen würde, hatte ich ein höchst ungutes Gefühl. Es missfällt mir, um Mitternacht Geschäfte zu tätigen.«
»Nash scheint wirklich mehr als nur leicht exzentrisch zu sein«, stimmte ihr Gabriel nachdenklich zu.
»Er behauptet, er sei ein Nachtmensch. In seinen Briefen schreibt er, dass sein Haushalt einem der normalen Welt entgegengesetzten Rhythmus folgt. Er schläft, wenn andere wach sind, und arbeitet, wenn andere schlafen. Sehr seltsam, finden Sie nicht?«
»Zweifelsohne würde er sehr gut in die bessere Gesellschaft passen«, erwiderte Gabriel trocken. »Die meisten Menschen in diesen Kreisen sind die ganze Nacht unterwegs und schlafen dann tagsüber. Aber trotzdem hatten Sie wahrscheinlich recht, als Sie beschlossen, ihn nicht allein um Mitternacht aufzusuchen.«
Phoebe lächelte. »Es freut mich, dass Sie meinen Plan, einen Begleiter mitzunehmen, gutheißen.«
»Ich heiße ihn gut, aber ich muss gestehen, dass Ihre Vorsicht mich überrascht«, sagte Gabriel mit der Präzision eines Fechters, der...