I
Victoria Claire Huntington wusste immer, wann ein Mann versuchte, sich an sie heranzupirschen. Sie hatte nicht das reife Alter von vierundzwanzig erreicht, ohne zu lernen, woran sie die raffinierten Mitgiftjäger der besseren Gesellschaft erkannte. Reiche Erbinnen waren schließlich Freiwild.
Die Tatsache, dass sie noch unverheiratet und Herrin über ihr eigenes beträchtliches Erbe war, stellte einen Beweis dar für ihr Talent, sich den Ansinnen der aalglatten, betrügerischen Opportunisten, die in ihrer Welt nach Reichtum trachteten, zu entziehen. Victoria hatte vor langer Zeit beschlossen, niemals das Opfer eines solchen oberflächlichen Charmes zu werden.
Doch Lucas Mallory Colebrook, der neue Graf von Stonevale, war anders. Er mochte zwar ein Opportunist sein, doch war bestimmt nichts Aalglattes oder Oberflächliches an ihm. Unter all den buntgefiederten Vögeln der besseren Gesellschaft war dieser Mann ein Falke.
Victoria begann sich zu fragen, ob eben die Eigenschaften, die sie hätten abschrecken sollen, die innere Stärke und der unbeugsame Wille, die sie bei Stonevale verspürte, sie nicht gerade zu ihm hingezogen hatten. Sie konnte nicht leugnen, dass sie von dem Mann fasziniert war, dem sie vor weniger als einer Stunde vorgestellt worden war. Der Reiz, den sie verspürte, beunruhigte sie zutiefst. Mehr noch, er war gefährlich.
»Ich glaube, ich habe gewonnen, Graf.« Victoria senkte ihre mit einem eleganten Handschuh bekleidete Hand und breitete ihre Karten auf dem mit grünem Flanell überzogenen Tisch aus. Sie schenkte dem Gegenspieler ihr strahlendstes Lächeln.
»Glückwunsch, Miss Huntington. Das Glück ist heute Abend offensichtlich ganz auf Ihrer Seite.« Stonevale, dessen graue Augen Victoria an durch die Dunkelheit der Nacht schwebende Geister erinnerten, schien ob seines Verlierens nicht im Geringsten enttäuscht zu sein. Vielmehr wirkte er still zufrieden, als hätte ein sorgsam ausgeklügelter Plan soeben Früchte getragen. Eine Aura kühler Erwartung umgab ihn.
»Ja, mein Glück heute Abend war erstaunlich, nicht wahr?«, entgegnete Victoria leise. »Man möchte beinahe vermuten, ich hätte Hilfe gehabt.«
»Ich weigere mich, eine derartige Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Ich kann Ihnen nicht erlauben, Ihre eigene Ehre in Zweifel zu ziehen, Miss Huntington.«
»Wie galant von Ihnen, Graf. Doch es war nicht meine Ehre, um die ich besorgt war. Ich versichere Ihnen, dass ich mir sehr wohl bewusst bin, nicht falsch gespielt zu haben.« Victoria hielt den Atem an in dem Bewusstsein, dass sie sich mit dieser Bemerkung auf sehr dünnes Eis gewagt hatte. Sie unterstellte dem Grafen damit praktisch, mit gezinkten Karten gespielt zu haben, um ihren Sieg sicherzustellen.
Über den Tisch hinweg trafen Stonevales Augen auf die ihren und hielten sie in seinem Bann. Sein Gesicht war ausdruckslos. Beängstigend neutral, dachte Victoria mit einem leichten Schaudern. Es hätte ein Anflug von Gefühlen in diesem kühlen, grauen Blick liegen sollen. Doch sie konnte nichts in seinem Gesicht erkennen außer einer gewissen lauernden Wachsamkeit.
»Hätten Sie wohl die Güte, diese Bemerkung zu erläutern, Miss Huntington?«
Schnell entschloss sich Victoria zum Rückzug auf festeren Grund. »Ich bitte Sie, meinem Ausspruch keine Beachtung zu schenken, Graf. Ich bin lediglich ebenso verblüfft über mein heutiges Glück beim Kartenspiel wie Sie. Ich bin bestenfalls eine mittelmäßige Spielerin. Sie hingegen haben, wie man mir berichtete, den Ruf eines geschickten Spielers.«
»Sie schmeicheln mir, Miss Huntington.«
»Ich glaube nicht«, sagte Victoria. »Ich habe von dem Geschick gehört, das Sie an den Tischen von White's und Brook's und in gewissen anderen Clubs mit, sagen wir, weniger respektablem Ruf hier in der Stadt unter Beweis stellen.«
»Erheblich ausgeschmückte Berichte, denke ich. Doch Sie machen mich neugierig. Da wir uns eben zum ersten Mal begegnet sind, wo haben Sie diese Geschichten gehört?«
Sie konnte schwerlich zugeben, dass sie ihre Freundin Annabella Lyndwood in dem Moment nach ihm gefragt hatte, als er vor zwei Stunden den Ballsaal betreten hatte. »Ich bin sicher, dass Ihnen bekannt ist, wie derartige Gerüchte kursieren, Graf.«
»In der Tat. Doch eine Frau von Ihrer offensichtlichen Intelligenz sollte Besseres im Sinn haben, als auf Gerüchte zu hören.« Mit einer leichten, mühelosen Bewegung ordnete Stonevale die Karten zu einem übersichtlichen Stapel. Er ließ seine elegante, schmale Hand darauf ruhen und lächelte Victoria kühl an. »Nun, Miss Huntington, haben Sie sich bereits Gedanken über die Art Ihres Gewinnes gemacht?«
Victoria beobachtete ihn argwöhnisch, unfähig, die in ihr aufwallende Erregung zu unterdrücken. Besäße sie noch etwas Verstand, sie würde das Ganze sofort und auf der Stelle beenden, sagte sie sich. Doch heute Abend war es schwierig, mit der kühlen, klaren Logik zu denken, die sie für gewöhnlich in derartigen Situationen anwandte. Nie zuvor war sie jemandem wie Stonevale begegnet.
Das Gesumme aus Unterhaltung und Gelächter in Lady Athertons Spielsalon trat in den Hintergrund, und die Musik aus dem Ballsaal erschien schwach und weit entfernt. Das riesige Londoner Haus der Athertons war angefüllt mit elegant gekleideten Mitgliedern der besseren Gesellschaft sowie mit zahllosen Bediensteten, doch Victoria hatte plötzlich das Gefühl, als sei sie völlig allein mit dem Grafen.
»Mein Gewinn«, wiederholte Victoria langsam in dem Versuch, ihre Gedanken zu ordnen. »Ja, ich werde mir wohl etwas überlegen müssen, nicht wahr?«
»Ich denke, als Einsatz hatten wir einen Gefallen vereinbart, nicht? Als Gewinnerin sind Sie berechtigt, mich um einen Gefallen zu bitten. Ich stehe Ihnen zu Diensten.«
»Leider, Graf, wüsste ich momentan keinen Dienst, den Sie mir erweisen könnten.«
»Sind Sie sich dessen ganz sicher?«
Sie war überrascht von dem wissenden Ausdruck in den Augen des Grafen. Dies war ein Mann, der immer mehr wusste, als er sollte. »Ganz sicher.«
»Ich fürchte, ich muss Ihnen widersprechen, Miss Huntington. Ich glaube, ich kann Ihnen einen Dienst erweisen. Mir wurde berichtet, dass Sie im Verlaufe des heutigen Abends noch eine Begleitung benötigen, wenn Sie und Miss Lyndwood Ihr kleines Abenteuer auf dem Jahrmarkt suchen.«
Victoria wurde sehr still. »Was wissen Sie darüber?«
Stonevale blätterte anscheinend zerstreut mit einer Hand durch die Karten. »Lyndwood und ich sind Freunde. Gehören zum selben Club. Sie wissen, wie das ist.«
»Lord Lyndwood? Annabellas Bruder? Sie haben mit ihm gesprochen?«
»Ja.«
Victoria war wütend. »Er versprach, uns heute Abend zu begleiten, und gab uns sein Wort, über die Angelegenheit Schweigen zu bewahren. Wie kann er es wagen, diese Sache mit seinen Freunden zu besprechen? Das geht entschieden zu weit. Und dann besitzen Männer die Kühnheit, uns Frauen des Klatsches zu bezichtigen. Es ist empörend.«
»Urteilen Sie über diesen Mann nicht vorschnell, Miss Huntington.«
»Was hat Lyndwood getan? Hat er öffentlich in einem seiner Clubs bekanntgegeben, dass er seine Schwester und ihre Freundin auf den Jahrmarkt begleiten würde?«
»Ich versichere Ihnen, er hat es nicht öffentlich bekanntgegeben. Er war äußerst diskret. Schließlich ist seine Schwester involviert, nicht wahr? Wenn Sie darauf bestehen, die Wahrheit zu erfahren, ich glaube, Lyndwood hat sich mir anvertraut, da er die Last der Verantwortung spürte.«
»Last? Welche Last? In dieser ganzen Angelegenheit gibt es nichts, was ihn beunruhigen sollte. Er wird Annabella und mich lediglich in den Park begleiten, in dem der Jahrmarkt stattfindet. Was könnte einfacher sein als das?«, fuhr sie ihn an.
»Wie ich die Sache sehe, haben Sie und Ihre Freundin ein gewisses Maß an Druck auf Lyndwood ausgeübt, damit er seine Zustimmung zu Ihrem Vorhaben gibt. Der arme Junge ist noch unerfahren genug, um sich durch derartige weibliche Taktik beeinflussen zu lassen. Glücklicherweise war er jedoch weise genug, seine Schwäche einzusehen, und klug genug, Beistand zu suchen.«
»Armer Junge, wahrlich. Was für ein Unsinn. Sie stellen es so dar, als hätten Annabella und ich Bertie zu etwas gezwungen.«
»Haben Sie das nicht getan?«, schoss Stonevale zurück.
»Natürlich nicht. Wir haben ihm lediglich zu verstehen gegeben, dass wir beabsichtigen, heute Abend auf den Jahrmarkt zu gehen, und er bestand darauf, uns zu begleiten. Höchst galant von ihm. Das jedenfalls dachten wir.«
»Sie ließen ihm als Gentleman kaum eine andere Wahl. Er konnte Sie kaum allein gehen lassen, und das wussten Sie. Es war Erpressung. Darüber hinaus vermute ich, war es vor allem Ihre Idee, Miss Huntington.«
»Erpressung.« Nun war Victoria ernsthaft wütend. »Ich verbitte mir diese Anschuldigung, Graf.«
»Weshalb? Sie ist so gut wie wahr. Denken Sie, Lord Lyndwood hätte sich freiwillig bereit erklärt, Sie und seine Schwester zu einer derart verrufenen Veranstaltung zu begleiten, wenn Sie nicht gedroht hätten, allein zu gehen? Miss Lyndwoods Frau Mama würde der Schlag treffen, wenn sie von dieser kleinen Eskapade heute Abend zu hören bekäme, und ebenso, vermute ich, ginge es Ihrer Frau Tante.«
»Ich versichere Ihnen, Tante Cleo ist viel zu robust, um sich vom Schlag treffen zu lassen«, erklärte die ihrer Tante treu ergebene Victoria. Doch sie wusste, dass Stonevale völlig recht hatte, was Annabellas Mutter betraf. Lady Lyndwood würde tatsächlich einen hysterischen Anfall erleiden,...