PROLOG
»Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Lady immer noch Jungfrau ist«, sagte Thurston of Landry. »Aber unter den gegebenen Umständen bin ich sicher, dass du diesen Aspekt der Angelegenheit übersehen kannst.«
Gareth blickte seinen Vater reglos an. Als einzige Reaktion auf die Nachricht, dass seine zukünftige Braut sich bereits mit einem anderen Mann entehrt hatte, verstärkte er den Griff um seinen Weinbecher.
Als uneheliches Kind, das gezwungen gewesen war, sich einen Namen mit dem Schwert zu machen, hatte er es gelernt, seine Gefühle zu verbergen. In der Tat gelang ihm das inzwischen so gut, dass alle dachten, er habe gar keine Gefühle.
»Ihr sagt, sie ist eine reiche Erbin?« Gareth zwang sich, sich auf die Hauptsache zu konzentrieren. »Sie ist Herrin über einen großen Landbesitz?«
»Ja.«
»In dem Fall ist sie eine geeignete Ehefrau.« Gareth zeigte nicht, wie zufrieden er war.
Sein Vater hatte recht. Solange die Lady nicht das Kind eines anderen erwartete, war Gareth durchaus bereit, die Tatsache zu übersehen, dass sie keine Jungfrau mehr war. Hauptsache, sie verfügte über das Land, das er sich seit langem ersehnte.
Eigenes Land. Die Worte klangen vielversprechend.
Ein Ort, der ihm gehörte; ein Ort, an dem er nicht nur der Bastard war, dessen Anwesenheit geduldet werden musste; ein Ort, an dem er willkommen war und nicht nur wegen seines geübten Umgangs mit dem Schwert vorübergehend gebraucht wurde. Er wollte an einem Ort leben, an dem er das Recht hatte, vor seinem eigenen Kamin zu sitzen. Gareth war einunddreißig, und er wusste, dass er wahrscheinlich nie wieder eine solche Gelegenheit bekommen würde. Er hatte bereits vor langer Zeit gelernt, jede Chance zu nutzen, die sich ihm bot. Und bisher war er damit immer gut gefahren.
»Sie ist jetzt Herrin über die Isle of Desire.« Thurston hob den reich verzierten Silberbecher an die Lippen, nippte an seinem Wein und blickte gedankenverloren ins Feuer. »Ihr Vater, Sir Humphrey, zog es vor zu reisen und zu lesen, statt das Land zu bearbeiten. Unglücklicherweise starb er vor mehreren Monaten während einer Reise nach Spanien. Er wurde von Banditen ermordet.«
»Und es gibt keine männlichen Erben?«
»Nein. Edmund, Humphreys einziger Sohn, brach sich vor zwei Jahren auf einem Turnier das Genick. Clare, die Tochter, ist die Einzige der Familie, die noch lebt. Demnach ist sie die Erbin des Ritterguts.«
»Und als Sir Humphreys Lehnsherr habt Ihr die Vormundschaft über seine Tochter. Sie wird also auf Euren Befehl hin heiraten.«
Thurston verzog unmerklich das Gesicht. »Das bleibt abzuwarten.«
Gareth bemerkte, dass sein Vater ein Grinsen kaum unterdrücken konnte. Diese Erkenntnis verursachte ihm leichtes Unbehagen.
Gareth war von Natur aus immer ernst und zurückhaltend, er hatte keinen besonderen Sinn für Humor. Auf die Späße, die andere laut lachen ließen, reagierte er höchstens mit einem milden Lächeln.
Sein ernstes Gesicht passte hervorragend zu seinem Ruf, ein skrupelloser Mann zu sein, den man besser nicht verärgerte, wenn einem das Leben lieb war. Er hatte keine besondere Abneigung gegen lächelnde Gesichter oder fröhliches Lachen; er selber hatte einfach selten Grund dazu. Und jetzt fragte er sich besorgt, was Thurston wohl so unterhaltsam fand an einer Sache, die eine rein geschäftliche Angelegenheit sein sollte.
Er musterte die schlanke, elegante Gestalt seines Vaters im Licht der Flammen des Kamins. Thurston war Mitte fünfzig. Sein dichtes, dunkles Haar war inzwischen von silbergrauen Fäden durchzogen, aber er erregte immer noch die Aufmerksamkeit sämtlicher Frauen seiner Umgebung.
Und Gareth wusste, dass es nicht nur seine Machtposition als einer der Lieblingsbarone Heinrichs II. war, die das Interesse der Damen weckte. Auch Thurstons gutes Aussehen zog die Frauen an.
Thurstons Verführungskünste, die er in jüngeren Jahren sowohl vor als auch nach seiner arrangierten Hochzeit häufig angewandt hatte, waren legendär gewesen. Gareths Mutter, die jüngste Tochter einer adligen Familie aus dem Süden, war eine seiner zahlreichen Eroberungen gewesen. Soweit Gareth wusste, war er jedoch der einzige lebende uneheliche Nachkomme. Falls es im Laufe der Jahre noch andere gegeben hatte, so waren sie alle noch als Kinder gestorben.
Zu Thurstons Ehre und zum kaum verhohlenen Missvergnügen seiner Frau musste gesagt werden, dass er seine Pflicht gegenüber seinem unehelichen Sohn erfüllt hatte.
Gareth war zunächst bei seiner Mutter aufgewachsen. Während dieser Zeit war Thurston ein häufiger Gast in dem abgelegenen Landhaus gewesen, in dem Gareth mit seiner Mutter gelebt hatte. Aber als der Junge mit acht Jahren ein Alter erreicht hatte, in dem die Söhne der Adligen mit der Ausbildung zum Ritter anfingen, hatte seine Mutter verkündet, sie wolle ins Kloster gehen.
Es hatte heftigen Streit gegeben. Niemals würde Gareth den Zorn seines Vaters vergessen. Aber seine Mutter war unnachgiebig geblieben und hatte sich durchgesetzt. Thurston hatte ihr eine prächtige Mitgift gegeben, auf Grund derer das Kloster Gareths Mutter nur allzu gern als Novizin aufnahm.
Thurston hatte seinen unehelichen Sohn mit zu sich nach Beckworth Castle genommen. Er hatte dafür gesorgt, dass Gareth mit derselben Sorgfalt und derselben Hingabe zum Ritter ausgebildet wurde wie seine ehelichen Söhne und sein rechtmäßiger Erbe Simon.
Thurstons Frau, Lady Lorice, schön, kalt und stolz, war keine andere Wahl geblieben, als die Situation hinzunehmen. Sie hatte sich jedoch nicht besonders bemüht, dem jungen Gareth das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Nun, das war wahrscheinlich normal.
Gareth, der sich seiner Rolle als Außenseiter nur allzu bewusst gewesen war und der die gelehrte, ruhige Atmosphäre im Haus seiner Mutter vermisst hatte, widmete sich mit ganzem Eifer der Ausbildung mit Lanze und Schwert. Er hatte endlos geübt und eine flüchtige Zufriedenheit in dem Streben nach Perfektion gefunden.
Wenn er nicht gerade seine Kampftechnik verfeinert hatte, hatte er sich in die Abgeschiedenheit der Bibliothek der örtlichen Benediktinerabtei zurückgezogen. Dort hatte er alles gelesen, was Bruder Andrew, der Bibliothekar, ihm in die Hände gegeben hatte.
Als Siebzehnjähriger hatte sich Gareth bereits mit den verschiedensten Themen beschäftigt. Er hatte sich in Abhandlungen über Mathematik und Optik vertieft, die Gerard von Cremona aus dem Griechischen und dem Arabischen übersetzt hatte. Er hatte über die Theorien des Aristoteles von den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer nachgedacht. Er war fasziniert gewesen von den Schriften Platons über Astronomie, Licht und Materie.
Gareths Interesse an derartigen Dingen war nie von praktischem Nutzen für ihn gewesen, aber seine Fähigkeiten als Ritter und als Führer seiner Männer hatten es ihm ermöglicht, eine bedeutende Karriere zu machen.
Zahlreiche mächtige Lehnsherren, einschließlich seines Vaters, konnten nur allzu gut einen Mann gebrauchen, der wusste, wie man Diebe und Wegelagerer sowie die abtrünnigen Ritter zur Strecke brachte, die eine ständige Gefahr für ihre abgelegenen Güter und Gutshäuser waren.
Die Banditenjagd war ein einträgliches Geschäft, und Gareth war äußerst erfolgreich. Es hatte ihm nie besonderen Spaß gemacht, aber dank seines Talents im Umgang mit dem Schwert war er inzwischen ein vermögender Mann. Seinen Wunsch nach eigenem Land hatte er sich bisher jedoch noch nicht erfüllen können. Nur sein Lehnsherr, das hieß, sein Vater, konnte ihm Grundbesitz übertragen.
Vor vier Tagen hatte Gareth Thurstons Befehl erhalten, nach Beckworth Castle zu kommen. Heute Abend hatte er erfahren, dass sein größter Wunsch in Erfüllung gehen sollte. Er musste sich nur bereiterklären, eine Frau mit einem befleckten Ruf zu heiraten.
Das war ein geringer Preis für die Sache, nach der er sich am meisten sehnte. Gareth war es gewohnt, für die Dinge zu bezahlen, die er wollte.
»Wie alt ist die Lady of Desire?« fragte er.
»Lass mich überlegen. Ich glaube, Clare müsste jetzt dreiundzwanzig sein«, sagte Thurston.
Gareth runzelte die Stirn. »Und immer noch unverheiratet?«
»Es heißt, sie lege keinen besonderen Wert darauf zu heiraten. Weißt du, manche Frauen sind so. Deine eigene Mutter zum Beispiel.«
»Ich bezweifle, dass meine Mutter nach meiner Geburt noch eine andere Wahl hatte«, sagte Gareth in neutralem Ton. Dies war eine alte und nur allzu vertraute Geschichte. Aber inzwischen wusste er seine Verbitterung zu verbergen. »Sie hatte Glück, dass sie ein Kloster gefunden hat, das bereit war, sie aufzunehmen.«
»Da irrst du dich.« Thurston stützte die Ellbogen auf die geschnitzten Armlehnen seines Stuhls und faltete die Hände unter dem Kinn. »Mit ihrer Mitgift hatte sie eine Wahl. In der Tat haben sich sämtliche bedeutenden Klöster um sie gerissen.« Er verzog unmerklich den Mund. »Natürlich war keinem der Häuser klar, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sie das Kommando übernommen hätte.«
Gareth zuckte mit den Schultern. Er sah seine Mutter nur selten, aber sie schrieben sich regelmäßig, und er wusste, dass Thurston recht hatte. Seine Mutter war eine aufsehenerregende und schwierige Persönlichkeit. In der Tat ebenso aufsehenerregend und schwierig wie sein Vater.
Gareth wandte sich wieder dem eigentlichen Thema ihrer Unterhaltung zu. »Hat Lady Clare irgendeinen besonderen Makel?«
»Soweit ich weiß, nicht. Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit sie ein Kind...