EINS
Es war die finsterste Stunde der Nacht, fast drei Uhr morgens, und der eisige Nebel hing über der Stadt wie ein Geist. Prudence Merryweather musste sich eingestehen, dass dies genau die richtige Zeit und das richtige Wetter war, um dem Mann einen Besuch abzustatten, der als der Gefallene Engel bekannt war.
Obgleich sie fest entschlossen war, zitterte sie, als die Droschke vor der nebelverhüllten Tür des Stadthauses hielt. Die neuen Gaslaternen, die in diesem Teil der Stadt aufgestellt worden waren, vermochten nichts gegen den dichten Nebelschleier auszurichten. In der kalten, dunklen Straße herrschte eine unheimliche Stille. Einzig das Rattern der Kutsche sowie das Klappern der Pferdehufe auf dem Pflaster waren zu hören. Prudence überlegte kurz, ob sie dem Kutscher befehlen sollte umzukehren und sie direkt zu sich nach Hause zu fahren. Doch diesen Gedanken verwarf sie schnell wieder. Sie wusste, sie durfte jetzt nicht zögern. Das Leben ihres Bruders stand auf dem Spiel.
Sie nahm all ihren Mut zusammen, rückte ihre Augengläser zurecht und stieg aus der Kutsche. Mit der Kapuze ihres abgetragenen grauen Wollumhangs verdeckte sie ihr Gesicht, und dann stieg sie entschlossen die Stufen zum Haus hinauf. Hinter ihr setzte sich die Kutsche erneut in Bewegung.
Prudence blieb stehen und drehte sich alarmiert herum. »Wo wollen Sie hin, guter Mann? Ich sagte, dass ich Ihnen ein paar Extramünzen gebe, wenn Sie auf mich warten. Es wird nur wenige Minuten dauern.«
»Regen Sie sich nich' auf, Miss. Ich hab' nur die Zügel geordnet.« Mit seinem schweren Mantel und seinem tief herabgezogenen Hut war der Kutscher eine dunkle Erscheinung ohne Gesicht und ohne Gestalt. Sein undeutliches Nuscheln verriet, dass er den ganzen Abend hindurch versucht hatte, die bittere Kälte mit Gin zu vertreiben. »Ich hab' Ihnen gesacht, dass ich warte.«
Prudence entspannte sich ein wenig. »Sehen Sie zu, dass Sie noch da sind, wenn ich zurückkomme. Andernfalls sitze ich hier fest, nachdem ich die Angelegenheit erledigt habe.«
»Angelegenheit, he? So nennen Sie das also.« Der Kutscher stieß ein wieherndes Gelächter aus, öffnete erneut seine Flasche Gin und setzte sie sich an den Hals. »Komische Angelegenheit, wenn Sie mich fragen. Vielleicht möchte Ihr ehrenwerter Freund ja, dass Sie für den Rest der Nacht sein Bett wärmen. Is' schließlich verdammt kalt heute Abend.«
Prudence warf ihm einen bösen Blick zu, doch dann sagte sie sich, dass ein Streit mit einem betrunkenen Kutscher um diese Zeit sinnlos war. Sie hatte keine Zeit für derartigen Unsinn. Sie schlang ihren Umhang fester um sich und eilte die Treppe zum Haus hinauf. Die oberen Fenster lagen im Dunkeln. Vielleicht war der Besitzer des Hauses bereits zu Bett gegangen.
Nach allem, was sie über ihn wusste, wäre dies jedoch höchst ungewöhnlich. Es wurde erzählt, dass der legendäre Graf von Angelstone selten vor Morgengrauen zu Bett ging. Der Gefallene Engel hatte seinen zweifelhaften Ruf schließlich nicht dadurch erlangt, dass er ein geregeltes Leben führte. Jedermann wusste, dass der Teufel es vorzog, sich im Schutze der Nacht zu bewegen.
Prudence zögerte, ehe sie an die Tür klopfte. Ihr war durchaus bewusst, dass ihr Vorhaben ein gewisses Risiko in sich barg. Sie kam vom Lande und war erst kurze Zeit in London, aber sie war nicht so naiv zu meinen, es sei durchaus schicklich, wenn eine Lady einen Gentleman um drei Uhr morgens besuchen würde.
Prudence klopfte energisch.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Tür von einem verärgert dreinblickenden, halbbekleideten Butler geöffnet wurde. Mit seinem schütteren Haar und dem kräftigen Kiefer erinnerte dieser Mann an einen riesigen, wilden Jagdhund. Der Schein der Kerze in seiner Hand fiel auf sein düsteres Gesicht, das zunächst von Verärgerung und dann zunehmend von Abscheu gezeichnet war. Missbilligend betrachtete er Prudence, die in ihrem Umhang und unter der Kapuze kaum sichtbar war.
»Ja, Miss?«
Prudence atmete tief ein. »Ich bin gekommen, um mit seiner Lordschaft zu sprechen.«
»Tatsächlich?« Der Mund des Butlers verzog sich zu einem höhnischen Grinsen, das Zerberus, dem dreiköpfigen Hund, der den Eingang zum Hades bewachte, alle Ehre gemacht hätte.
»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass seine Lordschaft nicht zu Hause ist.«
»Ganz gewiss ist er da.« Prudence wusste, dass sie standhaft bleiben musste, wenn sie am Höllenhund des Gefallenen Engels vorbeigelangen wollte. »Ich habe es überprüfen lassen, bevor ich beschloss, ihm einen Besuch abzustatten. Bitte setzen Sie ihn umgehend davon in Kenntnis, dass er eine Besucherin hat.«
»Und wen soll ich ihm melden?«, fragte der Butler mit Grabesstimme.
»Eine Dame.«
»Das ist wohl eher unwahrscheinlich. Keine Dame würde um diese Uhrzeit hier erscheinen. Scher dich davon, elendes kleines Luder. Seine Lordschaft verkehrt nicht mit Mädchen deiner Sorte. Wenn ihm der Sinn nach Weiberröcken steht, findet er allemal bessere Frauen als irgendeine dahergelaufene Dirne von der Straße.«
Prudence' Blut geriet in Wallung ob derartiger Beleidigungen. Die ganze Sache würde offensichtlich noch unangenehmer werden, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie riss sich zusammen. »Seien Sie so gut, seine Lordschaft davon in Kenntnis zu setzen, dass jemand, der ein gewisses Interesse an seinem bevorstehenden Duell hegt, ihn zu sehen wünscht.«
Der Butler starrte sie überrascht an. »Was, bitte, sollte ein Weibsstück deiner Sorte schon von den persönlichen Angelegenheiten seiner Lordschaft wissen?«
»Offensichtlich weit mehr, als Sie darüber wissen. Und ich schwöre, dass Sie es noch bereuen werden, wenn Sie Angelstone nicht ausrichten, dass er eine Besucherin hat. Ich versichere Ihnen, dass Ihre Stellung in diesem Haushalt davon abhängt, dass Sie ihn darüber informieren, dass ich hier bin.«
Diese Drohung schien den Butler zwar nicht vollends zu überzeugen, doch er begann zu schwanken. »Warten Sie hier.« Er warf die Tür ins Schloss und ließ Prudence auf der Treppe stehen. Der eisige Nebel kam angekrochen und umfing sie mit seinen Klauen. Sie hüllte sich tiefer in ihren Umhang. Dies würde einer der schlimmsten Abende ihres Lebens werden.
Wie einfach waren doch die Dinge auf dem Land gewesen. Einen Augenblick später wurde die Tür erneut geöffnet. Der Butler sah auf Prudence herab und gab ihr brummend zu verstehen, dass sie eintreten sollte.
»Seine Lordschaft wird Sie in der Bibliothek empfangen.«
»Das habe ich erwartet.« Schnell trat Prudence über die Schwelle. Sie war dankbar, der Umklammerung des Nebels zu entfliehen, auch wenn sie sich dafür direkt in die Hölle begeben musste.
Der Butler öffnete die Tür zur Bibliothek und hielt sie auf. Prudence fegte an ihm vorbei in einen dunklen, von düsteren Schatten durchzogenen Raum, der lediglich von einer kleinen Flamme im Kamin erhellt wurde. Während sich die Tür hinter ihr schloss, stellte sie fest, dass sie Angelstone nirgends entdecken konnte.
»Mylord?« Prudence blieb abrupt stehen und blinzelte in der Dunkelheit. »Sir? Sind Sie hier?«
»Guten Abend, Miss Merryweather. Ich hoffe, Sie verzeihen das rüde Benehmen meines Butlers.« Sebastian, Graf von Angelstone, erhob sich langsam aus den Tiefen eines riesigen Sessels gegenüber dem Kamin. Unter einem Arm hatte er eine große schwarze Katze. »Sie müssen wissen, dass Ihr Besuch gewissermaßen unerwartet kommt. Besonders in Anbetracht der Umstände und der Uhrzeit.«
»Ja, Mylord. Das ist mir bewusst.« Sein Anblick verschlug Prudence die Sprache. Sie hatte zwar im Verlauf des Abends mit Sebastian getanzt, doch war dies ihre erste Begegnung mit dem Gefallenen Engel gewesen. Nun wurde ihr klar, dass sie sich an die Wirkung, die er auf ihre Sinne hatte, wohl nur langsam gewöhnen würde.
Angelstone war sowohl seiner äußeren Erscheinung als auch seinem Temperament nach alles andere als engelsgleich. In den Salons der Gesellschaft erzählte man, dass er starke Ähnlichkeit mit dem Herrn der Unterwelt aufwies. Und tatsächlich war es schwer, sich diesen Mann mit Engelsflügeln und Heiligenschein vorzustellen.
Das Feuer hinter Sebastians Rücken flackerte heute Nacht etwas zu stimmungsvoll. Im Schein der Flammen zeichneten sich seine stolzen, finsteren Züge deutlich ab. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten. In seinen forschenden, bernsteinfarbenen Augen blitzte kalte, durchdringende Intelligenz. Sein Körper war hart und fest. Von der Tanzfläche her wusste Prudence, dass er sich mit einer lässigen, gefährlichen männlichen Anmut bewegte.
Die bequeme Kleidung zeigte eindeutig, dass er nicht darauf eingestellt gewesen war, Besucher zu empfangen. Seine weiße Krawatte hing ihm locker um den Hals, und sein Rüschenhemd war weit genug geöffnet, dass Prudence die krausen schwarzen Haare auf seiner Brust erkennen konnte. Unter seinen lederfarbenen Reithosen zeichneten sich deutlich die sehnigen Linien seiner Schenkel ab. Nach wie vor trug er seine schwarzen, blankpolierten Stiefel.
Prudence kannte sich in Stilfragen nicht besonders aus. Mode war eine Angelegenheit, der sie nur sehr geringes Interesse schenkte. Trotzdem konnte sie feststellen, dass Sebastian eine natürliche männliche Eleganz ausstrahlte, die nur sehr wenig mit seiner Kleidung zu tun hatte. Sie war ein Teil von ihm, genau wie sie ein Teil der Katze war, die er unter seinem Arm hielt.
Als einziges Schmuckstück trug Sebastian an einem seiner langen, schlanken Finger einen goldenen Ring. Dieser verströmte einen matten Glanz. Während Angelstone...