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London, 2016
Kaum hatte Julius das Gespräch per Knopfdruck beendet, klopfte jemand auf seine Schulter. Ruckartig drehte er sich um und blickte in das angespannte Gesicht von Janet. Innerlich stöhnte er auf, zwang sich aber zu einem Lächeln. Was wollte sie denn nun schon wieder?
»Kommst du mal kurz mit, Julius«, sagte Janet. Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern machte sich sofort auf den Weg zu ihrem kleinen Zimmer am anderen Ende des Großraumbüros.
Julius nahm das Headset vom Kopf und legte es auf den Schreibtisch. Er signalisierte Beth, die vom nächsten Schreibtisch aus mit gerunzelter Stirn das Geschehen verfolgte, mit einem Schulterzucken seine Ahnungslosigkeit. Dann folgte er Janet, die mittlerweile in ihrem Büro verschwunden war.
Seine Quoten waren letzte Woche in Ordnung gewesen, das hatte Janet ihm am Dienstag noch gesagt. Er war bei der Anzahl erfolgreicher Abschlüsse im November sogar unter den Top Five des Teams gelandet. Schlechte Performance konnte also nicht der Grund für ein Gespräch sein. Hatte er vielleicht seinen schmutzigen Kaffeebecher in der Küche stehen lassen? Oder heute zu lange für die Dokumentation gebraucht?
Als er sich zwischen den Schreibtischen hindurchschlängelte, schüttelte Julius unmerklich den Kopf. Er hasste das Telemarketing. Jeder Satz wurde choreografiert, jedes Gespräch wurde vermessen. Doch die Bezahlung war erstaunlich gut, da konnte er nicht meckern. Er betreute hauptsächlich deutsche Kunden. Einige in der Schweiz. Wichtige Märkte für viele britische Firmen. Wenige deutsche Muttersprachler, die Lust auf den Job hatten. Gut für ihn. So kam er finanziell gerade über die Runden. London war ein teuflisch teures Pflaster. Mal ganz abgesehen von dem Unterhalt, den er jeden Monat nach Deutschland überwies.
»Setz dich, bitte.« Janets Stimme klang gequetscht.
Julius zog den einzigen Besucherstuhl aus einer Ecke und setzte sich seiner Vorgesetzten genau gegenüber. Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Sollte Janet doch einfach sagen, was sie von ihm wollte. Obwohl ein Schreibtisch, ein Aktenschrank und eine schiefe Garderobe die einzigen Einrichtungsgegenstände waren, wirkte das Büro gnadenlos überfüllt. Janet arbeitet in einem Schuhkarton, schoss es Julius in den Kopf. Er unterdrückte ein Grinsen.
Mit einem missbilligenden Ton räusperte sich Janet, als habe sie Julius' Gedanken gelesen. »Ich muss etwas mit dir besprechen.« Sie starrte auf einen Punkt an der Wand hinter ihm und räusperte sich erneut. »Wir beenden unsere Zusammenarbeit mit dir zum Ende des Monats.«
»Wie bitte?« Julius schnellte in seinem Stuhl nach vorne. Er musste sich verhört haben.
»Bitte räum gleich deine Sachen zusammen, heute ist dein letzter Tag.« Erstmals blickte sie Julius ins Gesicht. »Natürlich bekommst du den Gehaltsscheck noch für den ganzen Monat.« Sie schluckte, beinahe entschuldigend.
»Ich verstehe nicht! Meine Zahlen . du hast doch vorgestern noch gesagt, alles sei in Ordnung. Wie kannst du . bis zum Ende des Monats .?«
Abwehrend hob Janet eine Hand. »Es tut mir leid, Julius. Es war nicht meine Entscheidung. Aber es ist jetzt nun einmal so.«
»Warum?« Mit der flachen Hand schlug sich Julius vor die Stirn. »Ich verstehe es nicht.«
Janet schwieg. Ihr Blick wanderte wieder an die Wand.
»Zumindest möchte ich wissen, warum!« Er erkannte seine eigene Stimme kaum.
»Es . gab wohl Beschwerden. Das ist alles, was ich weiß.«
»Beschwerden?« Erstaunt ließ Julius sich in seinem Stuhl zurückfallen. »Was denn für Beschwerden, um Himmels willen? Und von wem? Das ist doch albern!«
»Mehr kann ich nicht sagen. Bitte räum jetzt deine Sachen zusammen. Den Scheck schicken wir dir mit der Post. Alles andere kommt von der Personalabteilung.« Ihr Blick verließ für keine Sekunde den Punkt an der Wand.
Wütend sprang Julius auf. Als er aus der Tür hinausstürmte, stieß er ein deutlich vernehmbares »Arschlöcher!« hervor. Auf Deutsch.
Zuerst nahm Julius an, das ungute Gefühl sei ein Resultat seiner Anspannung, seiner maßlosen Enttäuschung. Er war unterwegs zum Bahnhof und teilte sich den Bürgersteig mit deutlich weniger Menschen als gewöhnlich. Was wohl daran lag, dass die Uhr erst elf Uhr vormittags zeigte. Normalerweise verließ er den trostlosen Bürokomplex in Lewisham am späten Nachmittag, gemeinsam mit all den anderen Angestellten, die sich dann zu dem Bahnhof schoben, der den Stadtteil nordwärts mit der Londoner City und Richtung Süden mit den Vorstädten verband. Heute kam er zum ersten Mal ohne die Kollegen hier an. Und zum letzten Mal.
Säuerlich verzog Julius die Miene, griff den Henkel des Jutebeutels, den Beth ihm geliehen hatte, fester. Nein, geschenkt, nicht geliehen. Mit mitleidigem Blick geschenkt. Weil ja klar war, dass Julius nicht wiederkommen würde. In dem Beutel schaukelten nun die paar Dinge, die er von seinem Schreibtisch zusammengeklaubt hatte. Eine Autozeitschrift, die er sich noch am Morgen für eine der kurzen Arbeitspausen besorgt hatte. Ein Lineal mit den touristischen Wahrzeichen Münchens darauf. Ein ziemlich kitschiges Ding. Doch von Zeit zu Zeit schaute er es sich gerne an, strich mit dem Finger über den Viktualienmarkt, die Frauenkirche, den Marienplatz. Auch wenn er Deutschland den Rücken gekehrt hatte, blieb München seine Heimat. Außerdem maß das Lineal in Zentimetern. Nicht in Inches. Warum auch immer - das gefiel ihm.
Julius hörte, wie beim Gehen das Lineal gegen den Bilderrahmen stieß. Der einzige weitere Gegenstand, den er eingepackt hatte. Das Bild von Emilia war bereits zwei Jahre alt. Darauf waren ihre Haare noch weißblond, im Gegensatz zu dem dunklen Blond heute. Ein Stich durchfuhr seine Brust. Es dauerte nur noch etwas mehr als eine Woche, bis seine Tochter nach London kam, um die Weihnachtsferien bei ihm zu verbringen. Und er war ohne Job. Wenigstens bezahlten sie ihn noch für den gesamten Dezember. Für den Januar brauchte er etwas Neues, ganz klar. Das bisschen Arbeitslosengeld, das er beantragen konnte, war ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber wenigstens hatte er Geld, solange seine Tochter bei ihm war. Danach würde sich schon etwas finden. Und wenn er bei einer der Burger-Ketten arbeiten musste. Übergangsweise. Hauptsache, er konnte in London bleiben.
Eigentlich war alles ausgesprochen gut gelaufen in der letzten Zeit. Der Job war leidlich gut bezahlt gewesen. Er hatte vor ein paar Wochen auf einer Party Claire kennengelernt. Vor allem aber hatte Sandra unerwartet zugestimmt, Emilia für die Dauer der Weihnachtsferien zu ihm zu schicken. Alles, wirklich alles war super gelaufen. Bis heute. Diese Arschlöcher! In das Gefühl von Anspannung und Enttäuschung mischte sich Wut.
Plötzlich wurde das ungute Gefühl stärker. Julius geriet für einen Moment aus dem Tritt, runzelte die Stirn. Das Gefühl saß zwischen seinen Schulterblättern und zog von dort durch den Körper in die Magengegend. Ein eisiges Ziehen, das ihn frösteln ließ und schließlich im Magen glühend heiß wurde. Abrupt blieb Julius stehen, sah sich um. Ein alter Mann blinzelte ihn im Vorübergehen erstaunt an. Eine Mutter warf ihm einen irritierten Blick zu. Sie wich Julius ungelenk mit dem Kinderwagen im letzten Moment aus, während sie mit einer Hand ihr Mobiltelefon ans Ohr presste.
Mit zusammengekniffenen Augen blickte Julius sich um. Musterte die übrigen Passanten, schaute in die vorbeifahrenden Autos, ließ den Blick an den Häuserfronten entlanggleiten. Es fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Allmählich entspannte er sich. Atmete mit einem lauten Schnaufen aus - es war ihm gar nicht bewusst gewesen, dass er die Luft angehalten hatte. Verwirrt wischte er sich über die Stirn. Sie war feucht. Er musste sich über sich selbst wundern. Es war wegen der Kündigung, sicherlich, deshalb lagen seine Nerven blank. Vermutlich hatte er sich deswegen plötzlich wie verfolgt gefühlt.
Julius setzte gerade seinen Weg in Richtung Lewisham Station fort, da vibrierte das Mobiltelefon in seiner Jackentasche. Als er es herauszog, wurde Coldplays Song Midnight lauter. Bereits beim dritten Klingeln nahm er das Gespräch an. »Wie gut, dass du anrufst, Schatz«, sprach er sogleich ins Telefon. »Du kannst dir nicht vorstellen, was eben passiert ist. Janet, die alte Zicke, hat mich in ihr Büro .«
»Julius, warte mal!«
Etwas in Claires Stimme ließ ihn innehalten.
»Also .«, sprach Claire weiter, »ich dachte du arbeitest und kannst nicht ans Telefon gehen.« Sie klang merkwürdig tonlos. »Ich hatte eigentlich vor, dir auf die Mailbox zu sprechen.« Es mischte sich etwas in ihre Stimme, das beleidigt wirkte. »Du brauchst jetzt nichts zu sagen.« Sie machte eine Pause.
Julius war sprachlos. Es bedurfte von seiner Seite in diesem Augenblick nicht viel, Claires Aufforderung nachzukommen. Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung, während Julius einfach weiterging, ohne zu registrieren, wo er eigentlich gerade war. Er fühlte sich auf seltsame Weise aus seinem Körper herausgelöst, als schwebte er neben sich und schaute sich selber zu. Bei einem absurden Telefongespräch. Mit einer bösen Vorahnung.
»Ich sag es jetzt also einfach«, fuhr Claire nach ein paar Sekunden fort. »Ich .« Eine weitere Pause. Dann, im Stakkato fast: »Ich mache das so nicht mit, mein Lieber. Verarsch doch eine andere, die blöder ist als ich. Ich habe die Nachricht von dieser Kathrin gefunden. Du bist aber auch so was von dämlich. Dämlich! Dann wünsche ich euch beiden alles Gute.« Ein...
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