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Ein paar Tage zuvor.
»Es ist wirklich schön, dass du auch mit dabei bist.«
Valentina warf Raphael direkt nach ihren Worten ein warmes, freundliches Lächeln zu.
»Und wie!«, kam es vom Fahrersitz, auf dem Noah Platz genommen hatte, und auch Malea stimmte der Aussage kurze Zeit später zu.
Sie hatten sich zwei Autos mieten müssen, um die Strecke vom nahegelegenen Denver International Airport bis in die Rocky Mountains zurücklegen zu können. Raphael freute sich zwar über die Worte, die Valentina ausgesprochen hatte, fühlte sich jedoch trotzdem so, als wäre er nicht ganz bei der Sache.
»Die letzten drei Jahre waren wirklich hart. Ich bin froh, es endlich geschafft zu haben.«
Besagte Zeit in der Psychiatrie hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt, die einzelnen Tage wie Jahre. Seine Verfassung war dabei ähnlich einer Achterbahnfahrt gewesen - es hatte Tage gegeben, an denen er sich gut durchgeschlagen hatte, und wiederum andere vereinzelte, die er in der Weichzelle verbracht hatte. Er erinnerte sich nicht gerne an die Momente, in denen er zu einer Gefahr für seine Mitmenschen geworden war - er hatte es nie beabsichtigt, jemanden zu verletzen, sondern hatte viel zu oft die Kontrolle über sich verloren. Mittlerweile befand er sich allerdings über dem Berg, ja, er war geheilt - etwas, was er nie gedacht hätte, war geschehen. Sein Psychiater, Dr. Fischer, hatte tatsächlich den Schalter in seinem Kopf, von dem Raphael gedacht hatte, dass er unzugänglich gesichert war, umgelegt. Vor einem halben Jahr war er wieder nach Hause, in seine kleine Wohnung im beschaulichen Aarau, gekommen, und jetzt stand eben der Urlaub in die USA an. Noch vor zwei Monaten hatte er gezweifelt, ob es das Richtige für ihn sein würde, doch nun war er davon vollends überzeugt. Im Inneren des Autos war es ein bisschen stickig, woraufhin er das Fenster herunterkurbelte. Seine Finger zitterten ein wenig, er fühlte sich irgendwie nervös, schaffte aber, das kurz darauf abzulegen. Noch vor zwei Jahren war er eine tickende Zeitbombe gewesen, jeder kleinste Auslöser hätte für eine Explosion sorgen können - was ja auch mehrfach passiert war. Die Verletzungen, die er sich an Tagen, an denen er keine Kontrolle über sich gehabt hatte, zugefügt hatte, waren ein Teil von ihm - die Narben würden ihn sein ganzes Leben lang begleiten, doch damit hatte er sich abgefunden. Er war froh, dass ihn sein Freundeskreis dabei unterstützt hatte. Während seiner Zeit in der Psychiatrie war es ihm zwar nicht dauerhaft gelungen, den Kontakt zu jedem zu halten, doch seit er sich wieder frei draußen bewegen konnte, konnte er auf jeden einzelnen seiner Freunde bauen. Er befand sich gemeinsam mit Noah, Valentina und Malea im Auto - Laurin und Zoe, die seit zwei Jahren zusammen waren, fuhren das andere und hielten sich auf der Straße direkt hinter ihnen. Die Berge kamen immer näher und wurden dadurch auch mit jedem Meter imposanter. Der Himmel über ihnen war zwar bedeckt, es sah allerdings nicht nach Regen aus. Viel mehr wirkte es so, als würde sich die Wolkendecke im Laufe des Tages noch lichten und Platz für die Sonne machen. Raphael freute sich auf den Moment, an dem sie ihr Ziel erreichen würden, auch, wenn das noch etwas länger als eine Stunde dauern würde. Sowohl der Flug, als auch der bisher zurückgelegte Teil auf dem Highway hatten ihn enorm geschlaucht, und er bewunderte Noah dafür, dass dieser noch in der Lage war, den Mietwagen zu fahren. Raphael selbst hatte seinen Führerschein vor etwa vier Jahren verloren, nur ein halbes Jahr, nachdem ihm selbiger überhaupt erst ausgestellt worden war. Das war auch eines der vielen Dinge gewesen, welches ihn letztendlich komplett aus den Fugen geworfen hatte. Doch diese Zeit war endgültig vorbei, er würde es bald wieder versuchen wollen - zumindest nahm er sich das vor. Etwa eine halbe Stunde später fuhren sie vom Highway ab. Nun war das Ziel zwar nicht mehr so weit entfernt, doch es würde aufgrund der unebenen Gebirgsstraßen noch eine Weile dauern.
»Hast du mal 'n Bier für mich?«
Maleas Stimme weckte Raphael aus seinen Gedankengängen, denen er wieder mal viel zu lange hinterhergehangen war, auf.
»Klar. Moment.«
Er öffnete die Kühltasche, die zur Ausstattung des Mietwagens gehörte, und holte eine der Dosen heraus, mit denen sie sich in einem Supermarkt in Denver eingedeckt hatten. Das Bier war natürlich um einiges günstiger gewesen, als am Flughafen, und das, obwohl sich der Laden nur wenige Meter entfernt befunden hatte. Raphael reichte Malea ein gekühltes Bier herüber und bediente sich daraufhin auch selbst. Eines würde er sich durchaus erlauben können, und er nahm sich vor, sich Zeit mit dem Getränk zu lassen.
»Möchtest du auch?«, fragte er Valentina, die aus dem Fenster geschaut und die Berge beobachtet hatte.
»Nein, danke. Vielleicht später.«
»Jetzt oder nie!«, meinte Malea freudig und öffnete die Dose, woraufhin ein leises Zischen ertönte. Raphael tat es ihr gleich und zog die Lasche auf. Das Bier war eiskalt und schmeckte fantastisch, Raphael nahm einen großen Schluck und lehnte sich dann wieder zurück. Die Straße wurde derweil ein wenig unebener, der Mietwagen holperte über jedes einzelne Schlagloch. »Meine Güte, was ist das nur für eine Piste?«, meinte Noah laut und klopfte einmal auf das Lenkrad.
Raphael versuchte, durch die Lücke der beiden Vordersitze hindurch einen Blick durch die Windschutzscheibe zu werfen. Noah hatte definitiv nicht übertrieben, die Straße war zwar noch befahrbar, aber sehr schlecht. Eine nervenzehrende Dreiviertelstunde später hatten sie ihr Ziel schließlich erreicht. Das Ferienhaus lag direkt hinter einem Bergsee, und selbst der Anblick, den sie von ihrem Parkplatz aus hatten, war fast ein bisschen magisch. Die Sonne hatte sich mittlerweile auch durch die Wolkendecke gekämpft und warf einige ihrer Strahlen auf die Wasseroberfläche, welche an einigen Stellen glitzerte. Noah stellte den Motor ab und parkte das Auto direkt neben dem Haus. Malea öffnete als erste die Tür und stieg aus, woraufhin der Rest der Gruppe ihr folgte. Raphael trank den letzten, kleinen Schluck Bier aus, und ließ die leere Dose erstmal im Innenraum des Toyotas liegen. Er fühlte sich gut, der leichte Wind sorgte dafür, dass der Schweiß auf seinem Körper getrocknet wurde. Laurin und Zoe waren in der Ferne auch schon zu sehen, und hatten kurze Zeit später ebenfalls auf dem Schotterplatz direkt neben dem Ferienhaus geparkt.
»Wir können ja sogar vielleicht heute noch eine kleine Wanderung starten«, meinte Valentina, während sie ihre Tasche aus dem Kofferraum nahm.
Noah hatte die Koffer von Malea und ihr bereits ausgeladen, einzig und allein der von Raphael befand sich neben seinem Rucksack noch im Inneren. Die nächste Stunde verbrachte die Gruppe damit, das Ferienhaus zu beziehen und dort die Koffer auszupacken. Es gab drei Doppelzimmer, neben Laurin und Zoe schliefen Raphael und Noah und Malea und Valentina in einem Raum. Während er seinen Gedanken nachhing, räumte er den linken Bereich des großen Schranks, der sich an der Stirnseite des Raumes befand, ein. Das gesamte Haus war in einem rustikalen Stil gehalten, der Parkettboden hatte denselben, dunklen Farbton wie die Möbel. In dem Moment, in dem Raphael gerade seine T-Shirts im untersten Fach deponiert hatte, ging die Tür des Zimmers auf und Noah trat in den Raum. Seine braunen Haare klebten ihm an der Stirn, und er trug einen abgekämpften Ausdruck im Gesicht - warf Raphael jedoch ein Lächeln zu, als sich ihre Blicke trafen. Und genau dieses Lächeln passte so verdammt gut zu ihm, ja, es war fast sein Markenzeichen geworden. Raphael war sich sicher, dass er noch nie zuvor in seinem Leben jemanden gesehen hatte, der, so wie Noah, dauerhaft ein fast ansteckendes Lächeln im Gesicht trug. Demzufolge war er auch einer der freundlichsten und offensten Menschen, denen Raphael je begegnet war.
»Ich glaube, die Mädels haben den Service richtig genossen.« Noah grinste, noch breiter als zuvor.
»Valentina hat vermutlich Ziegelsteine eingepackt, so schwer, wie ihr Koffer war. Bei Malea ging es einigermaßen.«
»Hast du etwa keine Ziegelsteine dabei?«, fragte Raphael und zog eine Augenbraue hoch.
»Dieses Mal habe ich sie leider vergessen.«
Noah wandte sich ab und öffnete seinen Koffer, den er auf dem Bett abgelegt hatte. Kurze Zeit später klopfte es an der Tür und Malea trat in den Raum.
»Da ist eine Spinne im Wohnzimmer.«
Raphael musste aufgrund ihrer Worte grinsen. Malea hatte Panik vor allem, was klein war und sich kriechend über den Boden bewegte.
»Und?«, fragte Noah.
»Dann haben wir eben noch einen Mitbewohner.«
»Du weißt doch, dass ich die nicht leiden kann.«
Malea klang ungeduldig, und Noah ließ sie extra noch eine Weile lang zappeln, ehe er meinte:
»Na gut. Ich komme ja schon.«
Raphael entschied sich dazu, ihm zu folgen - das Wohnzimmer hatte er bisher noch nicht in Augenschein genommen, und jetzt war der Moment dazu gekommen,...