Schweitzer Fachinformationen
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Die Panoramakamera des Fernsehturms Näsinnelua im finnischen Tampere filmt eine Person, die den zugefrorenen Näsijärvi-See betritt. Weit draußen bricht sie plötzlich durch das Eis und ist von einer Sekunde auf die nächste verschwunden. Wer war diese Person, und was bewog sie, den gefährlichen Weg aufs Eis zu wagen? Diese Fragen beschäftigen die Bewohner Tamperes auch noch sechs Monate später, denn weder wurde eine Leiche gefunden noch gibt es eine Vermisstenmeldung. Als Sarah Fuchs zum legendären Tango-Festival in die Stadt reist, verstirbt gleich am ersten Abend ihr Tanzpartner auf dem Parkett - direkt in ihren Armen. Und er wollte Sarah mit seinen letzten Atemzügen etwas Wichtiges zu der im See verschwundenen Person mitteilen ...
Tobias Quast, aufgewachsen in Wuppertal, studierte Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Düsseldorf. Mehr als seine zahlreichen Jobs, etwa als Buchhändler, Journalist oder Übersetzer, prägte ihn, dass er mit einer Finnin verheiratet ist. Die Belustigung ihrer Familie zog er auf sich, als er aus Angst vor Bären nur noch singend durch den finnischen Wald joggte. Mit den Finnen teilt er die Liebe zu Lakritz, Kaffee und saunaolut - Saunabier. Seine Lieblingsstadt Helsinki ist ihm mittlerweile zur zweiten Heimat geworden.
Schwere Molltöne liegen in der Luft. Wie Regen, der auf weichen Waldboden fällt, ergießt sich Kapellmusik auf die Tanzfläche herab. Auf dem Podium wiegen sich die Musiker, vier Männer und eine Frau, ein wenig steif im Takt. Mit geschlossenen Augen spielen sie selbstvergessen auf ihren Instrumenten. Nur die Frau am Akkordeon blinzelt von Zeit zu Zeit in den Raum zu ihren Füßen, als wollte sie sich vergewissern, dass noch jemand anwesend ist.
Auf der Tanzfläche geht es äußerst rege zu. Drei Dutzend Paare schweben und kreisen, trippeln und gleiten über das Parkett des Hotelsaals, an dessen fensterlose Wandseite ein Projektor den leuchtenden Schriftzug suomalainen tango wirft. Finnischer Tango. Darunter prangt die finnische Nationalflagge - dezent animiert, sieht sie aus, als würde sie beständig von einem zarten Windhauch liebkost.
Sarah blickt zu der digitalen Wandmalerei hinüber und seufzt. Noch hat sich bei ihr die ersehnte Entspannung nicht eingestellt, doch sie hofft, das ist nur eine Frage weniger Sekunden. Beziehungsweise weniger Tanzschritte.
»Sie sind also eigens für unser kleines Tangofestival nach Tampere gereist?«, fragt ihr Tanzpartner in beinahe akzentfreiem Englisch.
»Bitte?« Aus ihren Gedanken gerissen, schaut Sarah in das Gesicht des Mannes, der sich ihr vor wenigen Augenblicken als Arttu vorgestellt und sie dann auf die Tanzfläche geleitet hat. Dort führt er sie nun schwungvoll um die übrigen Tanzpaare herum.
Sie schätzt Arttu, der sein graues Haar militärisch kurz trägt, auf Mitte sechzig. Er trägt teure, aus ihrer Sicht aber wenig vorteilhafte Kleidung: eine akkurat gebügelte marineblaue Bundfaltenhose, die am Gesäß doch ordentlich spannt, dazu ein weißes Poloshirt, unter dem sich ein Bäuchlein wölbt. Nach seiner Gesichtsbräune zu schließen, verbringt der Mann seine Wochenenden auf dem Golfplatz.
Immerhin tut das Bäuchlein Arttus Beweglichkeit keinen Abbruch. Voller Elan und mit einem beschwingten Lächeln auf den Lippen führt er Sarah zum Takt der Tangomusik, die trotz ihrer Melancholie den Charme von Marschmusik hat, über die Tanzfläche. Wobei der finnische Tango Sarah nicht viel mehr als die Grundbewegungen abverlangt, wie sie ein wenig enttäuscht feststellt. Von südamerikanischem Feuer keine Spur. Dafür absolviert ihr Tanzpartner die immergleiche Schrittfolge umso energischer.
»Was meinten Sie, Arttu?«
»Tampere. Sie sind zum ersten Mal hier?« Zwei langsame Schritte, eine halbe Drehung.
»Ja, ich bin eigens für das Festival nach Finnland gekommen. Aus München.« Sarah lässt sich von Arttu rückwärts zu Boden biegen. Sieh an, denkt sie anerkennend, während ihre blonden Locken das Parkett streifen. Es geht auch ein wenig eleganter und einfallsreicher.
Arttu nickt mit stoischer Miene, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, für ein paar Runden Tango über zweitausend Kilometer zurückzulegen. Er richtet Sarah wieder auf. »Der finnische Tango ist einzigartig. Voller Leidenschaft und Sehnsucht. Es gibt wahrlich nichts Besseres, um den Alltag hinter sich zu lassen. Von der Sauna abgesehen, natürlich. Und vom Golfen.« Er stößt ein röhrendes Lachen aus, das Sarah zusammenfahren lässt. »Spielen Sie Golf?«
»Nein, das ist nichts für mich. Ich bin mehr für Yoga und Pilates. Mein Mann spielt Golf. Mein baldiger Ex-Mann, meine ich.« Sie verdreht die Augen. »Dann Ex Nummer zwei«, ergänzt sie säuerlich.
»Ich bin bereits dreimal geschieden.« Arttu weist im Vorbeitanzen mit dem Kinn in Richtung einer elegant gekleideten Brünetten, die am Rand der Tanzfläche steht und den Weg von Arttu und Sarah aufs Genaueste verfolgt. »Das da drüben ist Tuula. Meine Freundin.«
»Ihre Freundin, aha.« Tuulas verkniffene Miene lässt Sarah vermuten, dass die Mittfünfzigerin von Arttus eng umschlungener Tanzeinlage mit Sarah nicht begeistert ist. »Tanzt sie nicht?«
»Sie hat sich den Knöchel verstaucht«, erklärt Arttu vielsagend. »Oder war es was mit dem Knie? Ich hab es vergessen.« Nach einer weiteren Drehung führt er Sarah an den Rand des Parketts, in Tuulas Nähe und beugt sie abermals kunstvoll rückwärts zu Boden.
Da möchte jemand seine knöchellahme, nicht tanzende Freundin eifersüchtig machen, denkt Sarah und fängt wie zur Bestätigung einen giftigen Blick Tuulas auf.
Arttu leitet Sarah zurück in die Mitte der Tanzfläche. »Warum sind Sie denn auf dieses Festival gekommen?«
»Es war . eine spontane Idee«, antwortet Sarah zögernd. »Tanzen entspannt mich, lässt mich den Stress vergessen. Und in letzter Zeit habe ich genügend Stressiges erlebt. Also habe ich nach einem Tangofestival im September gesucht. Und stieß auf Tampere. Da ich Finnland liebe, fiel mir die Entscheidung nicht schwer.«
»Unsere Tangoveranstaltung hier ist bei Weitem nicht so bekannt wie das berühmte Festival in Seinäjöki, doch wie Sie sehen, wird auch bei uns mit Begeisterung getanzt.« Arttu verzieht den Mund zu einem Grinsen.
»Von dem Festival in Seinäjöki habe ich schon gehört. Es gab dazu mal eine Dokumentation im Fernsehen. Da scheint der ganze Ort tagelang Kopf zu stehen, und auf allen Straßen wird Tango getanzt.«
»Ich sehe, Sie sind bestens informiert. Sind Sie regelmäßig in Finnland?« Arttu bedenkt Tuula mit einem forschenden Blick und wirft Sarah kurz darauf abermals im Takt der Musik in eine Rückenbeuge.
Wieder aufgerichtet, räuspert Sarah sich. »Das ist mein dritter Besuch. Als Kind habe ich mit meinen Eltern Urlaub in Helsinki gemacht. Und vor etwa zwei Monaten habe ich den Sommer in Sysmä verbracht. Am Päijänne-See.«
Arttu wechselt die Richtung. Zwei langsame Schritte, eine halbe Drehung. »Am Päijänne, wie schön. Sicher hatten Sie eine erholsame Zeit. Man kann dort hervorragend fischen und in den Wäldern Blaubeeren sammeln.«
»Erholsam?«, stößt Sarah aus. »Wie man es nimmt. Mein Urlaub wurde mir dadurch versüßt, dass ich unweit meines Sommerhauses am Seeufer über eine Leiche stolperte und die Polizei erst einmal mich des Mordes verdächtigte.«
Arttu gerät aus dem Takt, fängt sich jedoch nach zwei Schritten wieder. »Ist das Ihr Ernst? Sie waren in einen Mordfall verwickelt? Hier in Finnland?« Zur ausklingenden Musik bleibt er stehen, entlässt Sarah aber nicht aus der Umarmung. Etwas in seiner Mimik hat sich verändert.
»Mein voller Ernst. Leider.«
»Unglaublich! Nun, beim Tango sollte es merklich weniger aufregend zugehen«, sagt Arttu und lacht. Doch die zur Schau gestellte Heiterkeit will nicht recht zu seiner verhaltenen Miene passen. Beim Einsetzen des nächsten Musikstücks schreitet er weit aus und zieht Sarah mit sich. »Die einzigen Tode werden hier in den Liedtexten gestorben. Und zwar meist wegen gebrochenen Herzen.«
Als hätte er auf dieses Stichwort gewartet, beginnt auf der Bühne einer der Musiker zu schmettern. »Aavan meren tuolla puolen jossakin on maa .« Jenseits des Meeres, irgendwo ist Land .
Die Tanzpaare legen sich beim Klang des schwermütigen Gesangs noch mehr ins Zeug. Wangen werden aneinandergepresst, Knie angewinkelt. Weitere Paare gesellen sich dazu, sodass es immer schwieriger wird, auf dem Parkett nicht mit anderen Tanzenden zusammenzustoßen.
Sarah lässt sich einfach mitziehen. Sie ist erstaunt, wie unterschiedlich die Leute um sie herum gekleidet sind. Ein paar von ihnen haben sich herausgeputzt, eine Tänzerin trägt ein ausladendes pinkfarbenes Federkleid. Andere sind noch einen Schritt weitergegangen und haben sich verkleidet. Wie zu Fasching. Jedenfalls kann Sarah sich nicht vorstellen, dass manche täglich in solchen Aufzügen unterwegs sind. Soeben hat sie einen Wikinger in Fellweste und mit gehörntem Helm an sich vorbeirauschen sehen. In seinem Arm lag eine Prinzessin im Tüllkleid, auf deren Kopf statt eines Diadems ein glitzernder Cowboyhut prangte. Das Gros der Tangobegeisterten trägt indes Freizeitkleidung, als kämen sie gerade vom Einkauf aus dem Supermarkt und hätten sich nur zufällig hierher verirrt. Ganz anders als Sarah, die sich für eines ihrer Lieblingsstücke, ein ausgestelltes Vintage-Kleid von Dior, entschieden hat. Passend dazu trägt sie rote High Heels, deren Ton sich im Lack ihrer Nägel und im aufgetragenen Lippenstift wiederholt. Selbstverständlich hat sie bei ihrem Outfit nichts dem Zufall überlassen. Wovon ihr Übergepäck am Check-in-Schalter in München beredt Zeugnis ablegte.
»Wie gefällt Ihnen der finnische Tango bisher?«, fragt Arttu, während er Sarah mit erstaunlich wenigen Zusammenstößen durch die Menschenmenge manövriert. Seine Miene ist wieder so entspannt wie zuvor.
»Dies ist mein erster Tanzabend. Mein allererster Tanz, um genau zu sein. Ich bin heute am frühen Nachmittag in Helsinki gelandet und habe dann den Zug genommen. Praktischerweise wohne ich in diesem Hotel, sodass ich mich nur umziehen musste und gleich herunterkommen konnte. Natürlich wusste ich, dass der finnische Tango ganz anders ist als der südamerikanische und mit weniger Schritten und Formen auskommt. Doch diese Spielart gefällt mir gut. Mir scheint, in Finnland stellt der Tango eher eine Art Gehtanz dar, ohne große Verrenkungen. In Verbindung mit der melancholischen Musik hat das etwas Romantisches, finde ich.«
»Sie haben die Seele unseres Tangos verstanden«, schmunzelt Arttu. »Sind...
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