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Nach den Auseinandersetzungen, welche die Verabschiedung des Organtransplantationsgesetzes begleitet haben, und nach den zahlreichen Infragestellungen des Hirntodbegriffs konnte man den Eindruck gewinnen, daß Diskussionen über biomedizinische Ethik in Deutschland nun mehr und mehr von Ideologie befreit worden seien.19 Es schien, als seien wir in der Lage, solche grundlegenden Streitfragen sachlich zu betrachten. Die Bereitschaft zum objektiven und konstruktiven Dialog zwischen Politikern, Wissenschaftlern und Ethikern schien sich zu entwickeln; und die Einsicht, daß Dogmatismus auf diesem, für unsere Gesellschaft so sensiblen, Themenfeld nicht hilfreich ist, schien an Akzeptanz zu gewinnen.
Leider ist die Rationalisierung unserer Diskussionskultur rückläufig, seit sich die biopolitische Debatte in Deutschland auf die Frühstadien des menschlichen Lebens konzentriert. Die Frage, ob die Forschung an embryonalen Stammzellen legalisiert oder kriminalisiert werden sollte, hat die Debatte erheblich emotionalisiert, denn solche Forschung ist gegenwärtig nur möglich, wenn hierfür menschliche Embryonen getötet werden (vgl. Solter et al., Embryo). Aus diesem Grund eskalierte die Debatte dermaßen, daß man den Eindruck gewinnen konnte, ein neuer Kulturkampf habe begonnen (vgl. Vieth, Rubikon). Dieser Eindruck wird durch die Tatsache verstärkt, daß die Haltung Deutschlands zu Forschung und Wirtschaft im Vergleich zu anderen Ländern von Anfang an von besonderer Bedeutung war. So waren einige der Auffassung, daß nunmehr die Forschungsfreiheit auf dem Spiel stünde und gegen Wissenschaftsfeindlichkeit oder reaktionäre Ideologien, die danach strebten, in unserer Gesellschaft verlorenen Boden wett zu machen, verteidigt werden müsse. In einigen anderen Fällen, z. B. in der Präimplantationsdiagnostik, kamen Wirtschaftsinteressen massiv ins Spiel. Diese, so fürchtete man, würden gefährdet, wenn man auf der Basis des deutschen Grundgesetzes zu restriktive ethische Standards akzeptierte.
Angesichts dieses Trends muß unsere Frage lauten: Warum ist das Rationalitätspotential unserer Diskurse über Biopolitik und biomedizinische Ethik rückläufig, und warum laufen wir Gefahr, bereits erreichte Konsense wieder zu zerstören? Bedenklich ist, daß der Begriff der Menschenwürde gegenwärtig nicht dazu genutzt wird, um in bioethischen Debatten voranzukommen, sondern um sie abrupt zu beenden. Hier besteht philosophischer Analysebedarf. In einer solchen Untersuchung muß auch expliziert werden, wie die Argumente, die auf dem Begriff der Menschenwürde fußen, in verschiedenen Kontexten der biomedizinischen Ethik funktionieren.
Meine These lautet, daß sich dieser gegenwärtige Rückschritt aus der Tatsache ergibt, daß der Fortschritt in der Reproduktionsmedizin die Frage aufwirft, wie man angemessen mit dem beginnenden menschlichen Leben umgehen sollte, und zwar auf eine Art und Weise, wie sie in der deutschen Diskussion (und im deutschen Recht) beharrlich vermieden oder allgemein als ethisch unzulässig angesehen worden ist. Daß man so rasch auf den Begriff der Menschenwürde zurückgreift, ergibt sich daraus, daß eine Beurteilung der neuen medizinischen Optionen der Stammzellforschung oder der Präimplantationsdiagnostik uns dazu zwingt, über die ethische Annehmbarkeit der Lebensqualitätsbewertung von menschlichem Leben nachzudenken.
Die politische Lösung des Problems der Abtreibung sowie Diskussionen über andere Problemfälle wie Sterbehilfe oder ärztlich assistierten Suizid haben ein gemeinsames Charakteristikum: Beinahe jeder versucht die Frage zu vermeiden, ob Bedingungen oder Situationen eintreten können, in denen Lebensqualitätsbewertungen akzeptabel oder gar erforderlich sind; dies gilt insbesondere für Fälle, in denen die Möglichkeit besteht, menschliches Leben mit Absicht zu beenden.20 Sowohl am Ende des menschlichen Lebens als auch ganz an dessen Anfang macht es der Fortschritt in der Biologie und in der Medizin unvermeidbar, die Frage zu diskutieren, ob Lebensqualitätsbewertungen im Allgemeinen ethisch unzulässig sind.
Diejenigen, die auf den Begriff der Menschenwürde zurückgreifen und sich damit auf das deutsche Grundgesetz beziehen, setzen in ihrer Argumentation für die ethische Unzulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik voraus, daß die Bewertung des menschlichen Lebens und seine Selektion aufgrund einer Lebensqualitätsbewertung - beides sind fraglos wesentliche Aspekte der Präimplantationsdiagnostik - mit der Würde des Menschen unvereinbar sind.21 Vor einigen Jahren hat Regine Kollek diese Position mit aller wünschenswerten Klarheit auf den Punkt gebracht:
Ein Verfahren, in dessen Zusammenhang potentielle menschliche Wesen bewußt auf Probe erzeugt und von den zukünftigen Eltern erst nach einer genetischen Untersuchung für existenz- und entwicklungswürdig befunden werden, ist mit der Würde menschlichen Lebens nicht vereinbar. (Kollek, Schwangerschaftsabbruch, S. 124)
Die Intuition, daß eine Lebensqualitätsbewertung mit Menschenwürde unvereinbar ist - im folgenden als Unvereinbarkeitsannahme bezeichnet - stellt eine weit verbreitete Prämisse in unseren Debatten über biomedizinische Ethik dar. Selbst diejenigen, die der Auffassung sind, daß die Präimplantationsdiagnostik ethisch akzeptabel ist und nicht gesetzlich verboten werden sollte, akzeptieren im Allgemeinen die Unvereinbarkeitsannahme. Deshalb argumentieren sie dafür, daß ein menschlicher Embryo (oder auch frühere Stadien menschlichen Lebens) nicht als Träger von Menschenwürde im strengen Sinne angesehen werden dürfen.22 Da beide Seiten die Unvereinbarkeitsannahme als Prämisse teilen, mündet die Debatte in einer fruchtlosen Alles-oder-Nichts-Kontroverse: entweder ist der menschliche Embryo (oder auch eine menschliche, embryonale Stammzelle) ein Träger von Menschenwürde (im Vollsinne), oder er ist es nicht (vgl. dazu das folgende Kapitel). Im Eifer des Gefechts wird diese gemeinsame Prämisse nicht als eine Annahme thematisiert, die fragwürdig sein könnte. Jedoch laufen biopolitische und bioethische Debatten Gefahr, in einem Patt zu enden, solange die Unvereinbarkeitsannahme als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Deshalb werde ich nun diese weit verbreitete Prämisse in Zweifel ziehen und folgende Frage stellen: Ist es wirklich wahr, daß jede Form von Lebensqualitätsbewertung mit Menschenwürde unvereinbar ist? Oder gibt es gute Gründe, die Unvereinbarkeitsannahme zurückzuweisen oder zumindest in ihrem Geltungsbereich zu beschränken?
Bei Fällen, in denen das Verbot der Tötung eines menschlichen Lebewesens ethisch bewertet werden muß (z. B. bei aktiver Sterbehilfe, ärztlich assistiertem Suizid oder Abtreibung) oder in denen wir uns mit Frühstadien des menschlichen Lebens befassen (z. B. bei der Embryonenforschung, dem Klonieren oder der Präimplantationsdiagnostik), müssen wir offensichtlich Lebensqualitätsbewertungen als ethisch relevant in Erwägung ziehen. Aber wenn man versucht, den Standpunkt zu verteidigen, daß aktive freiwillige Sterbehilfe oder aktive nichtfreiwillige Sterbehilfe (z. B. im Falle schwerstbehinderter Neugeborener) aufgrund der zu erwartenden Lebensqualität derjenigen Individuen, deren Leben zur Diskussion steht, ethisch gerechtfertigt sein könnte, dann formiert sich unmittelbar und mit Nachdruck der Fundamentaleinwand:
Jede bioethische Theorie, in der diese dringlichen Probleme mit Rekurs auf Lebensqualitätsbewertungen beantwortet werden, zieht eine Linie zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem menschlichen Leben. Diese Unterscheidung ist jedoch erstens mit der Menschwürde, die unverrückbar im deutschen Grundgesetz festgeschrieben ist, unvereinbar. Zweitens ist diese Unterscheidung auch historisch diskreditiert, denn die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben gezeigt, daß eine soziale und politische Katastrophe unvermeidbar ist, wenn eine Gesellschaft versucht, Probleme der biomedizinischen Ethik unter Bezugnahme auf Lebensqualitätsbewertungen zu lösen.
Dieser Fundamentaleinwand ist aus drei Gründen unhaltbar. Erstens wird uns nicht mitgeteilt, worin der Gehalt und die rechtfertigende Grundlage der Menschenwürde bestehen. Zweitens wird keine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten der Lebensqualitätsbewertung vorgenommen. Somit liegen drittens keine Gründe für die ausschlaggebende Unvereinbarkeitsannahme vor. Anstatt jedoch diese Fragen zu stellen, die gestellt werden müssen, wenn man meiner dreifachen Kritik am Fundamentaleinwand folgt, kontern viele Bioethiker, vermutlich im Banne der Unverträglichkeitsannahme, auf ebenso grundsätzliche Weise. Ihre fundamentale Entgegnung kann drei Formen annehmen (ich beginne mit der krudesten und kompromißlosesten Form):
Gegeneinwand I: Der Begriff der Menschenwürde ist sinnlos, er hat keine klare Bedeutung und kann nicht durch rationale philosophische Argumente gerechtfertigt werden.
Gegeneinwand II: (1) Der Fundamentaleinwand beruht auf einem Verständnis von Menschenwürde, welches auf der theologischen Konzeption der Heiligkeit des (menschlichen) Lebens basiert. Eine solche theologische Begründung kann in einer säkularisierten Gesellschaft nicht allgemein überzeugen, und aus diesem Grund kann ein solches Verständnis von Menschenwürde prinzipiell nicht benutzt werden, um ethische Normen oder gar Gesetze zu...
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