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Der April ist ein schlimmer Monat, vielleicht der schlimmste von allen.
Dem Mondkalender nach ist der 5. April der Tag des Totengedenkens, auch Gräberputztag genannt. An Qingming besuchen die Menschen die Gräber ihrer Familien und bezeugen den Verstorbenen ihre Zuwendung durch Opfergaben, ein wichtiger, seit alters her gepflegter Brauch. Der Tang-Dichter Du Mu schildert in einem Vierzeiler eine solche Szene:
Um Qingming fällt Nieselregen
auf die untröstlichen Reisenden entlang der Straße.
»Ach, wo ist die nächste Herberge?«
Der Hütejunge weist den Weg ins Aprikosenblütendorf.
Und bei Konfuzius heißt es: Wenn du am Grab der Verstorbenen opferst, werden sie so leibhaftig vor dir erscheinen, als wären sie lebendig.
Früher war das nicht immer leicht. Die Gräber lagen oft weit entfernt, und man musste lange Wege auf sich nehmen. Mit dem Boot oder dem Esel, beladen mit Opfergaben, konnte das an Regentagen ziemlich beschwerlich sein.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert gibt es zu diesem Zweck spezielle Qingming-Busse. In einem solchen befand sich Chen Cao; der ehemalige Oberinspektor und Stellvertretende Parteisekretär des Shanghaier Polizeipräsidiums war auf dem Weg nach Suzhou. Mit steifem Kreuz saß er zwischen anderen Grabbesuchern, während der Bus über die verstopfte Autobahn kroch. Er betrachtete sein Spiegelbild in der schmutzigen Scheibe und dachte an die Zeilen von Du Mu. Draußen im Gewirr der Trauerweiden am Straßenrand schimmerten Regentropfen wie Tränen der Dankbarkeit.
Qingming war in letzter Zeit immer mehr zu einem landesweiten Feiertag geworden, was neue Probleme mit sich brachte, vor allem für die Shanghaier. Seit in Shanghai die Grundstückspreise ins Astronomische gestiegen waren, mussten sich die Leute nach Friedhöfen fernab der teuren Metropole umsehen. Auch das Feng-Shui eines Grabes musste berücksichtigt werden, und da bot sich Suzhou als beliebte, gut erreichbare Alternative an. Deshalb waren die Züge an Qingming schon weit im Voraus ausgebucht, und auf den Autobahnen bildeten sich lange Staus. Aus der einen Stunde Fahrzeit nach Suzhou konnten so leicht vier oder fünf werden.
Chen hatte beschlossen, erst einige Tage nach dem Fest hinzufahren, aber keine Lust gehabt, sich in die langen Schlangen vor den Fahrkartenschaltern am Shanghaier Bahnhof einzureihen. Und das wäre nur der Anfang gewesen. In Suzhou hätte er sich noch einmal für einen lokalen Bus oder ein Taxi anstellen müssen, um zum Friedhof zu kommen.
Diesmal nahm Chen einen der Sonderbusse, die morgens am Volksplatz abgingen, ihn direkt zum Friedhof brachten und am späten Nachmittag wieder zurückfuhren. Diese praktische und preiswerte Einrichtung wurde abschätzig »Friedhofsbus« genannt. Busfahren galt in diesen materialistischen Zeiten als schäbig. Die Neureichen fuhren in ihren Luxuskarossen zum Gräberputzen, manche sogar mit Chauffeur. Die Fahrgäste im Bus hingegen gehörten nicht zu den Wohlhabenden, sie konnten sich weder ein eigenes Auto noch ein teures Schnellzugticket leisten. Der Bus war entsprechend heruntergekommen, weder ansehnlich noch bequem. Die Sitze waren hart und aus Plastik, und Chen sah, dass der Boden schmutzig und die Scheiben zum Teil gesprungen waren. Zwei Nachzügler mussten mit einem Platz auf dem Boden vorliebnehmen.
Chen war schon einige Jahre nicht mehr beim Gräberputzen gewesen. Als Leiter der Sonderkommission des Shanghaier Polizeipräsidiums war er zu eingespannt gewesen, ein Fall jagte den anderen. Jetzt hatte sich durch seinen Stellenwechsel eine Lücke ergeben, die er zu nutzen gedachte. Er zog eine zerknitterte Zigarettenschachtel heraus, stopfte sie dann aber in seine Hosentasche zurück. Die Luft im Bus war schon schlecht genug, ein grauer Vorhang aus Rauch zwang ihn zum Blinzeln. Während er sich Luft zufächelte, fiel ihm eine ähnliche Busfahrt ein, die er vor vielen Jahren gemacht hatte. Damals war ihm dieses Beförderungsmittel nicht so unbequem erschienen, doch da war er auch noch nicht durch die Privilegien eines Parteikaders verwöhnt.
Der Friedhofsbus hatte noch einen anderen Nachteil. Solch ein Tagesausflug galt in der Regel nicht allein dem Gräberdienst. Nach dem morgendlichen Kotau auf dem Friedhof schlenderten die Leute über den Xuanmiao Tempelmarkt, tranken Tee, aßen eine Kleinigkeit, besuchten die Gärten und genossen zum Abendessen die typische Suzhouer Küche, bevor sie den Abendzug zurück nach Shanghai nahmen.
Mit dem Bus blieb dazu keine Zeit, aber Chen war auch nicht nach touristischen Attraktionen zumute. Er durfte sich nichts vormachen - er steckte in Schwierigkeiten.
Die Neuigkeit war ihm tags zuvor ohne Vorwarnung mitgeteilt worden: Chen würde von seinen Ämtern als Stellvertretender Parteisekretär und Oberinspektor des Shanghaier Polizeipräsidiums entbunden und künftig dem Shanghaier Komitee zur Rechtsreform vorstehen.
Diese Entscheidung wurde als schlichter Stellenwechsel hingestellt und sah für Außenstehende sogar nach einer Beförderung aus. Immerhin behielt er seinen Rang in der Parteihierarchie und würde künftig kein »Stellvertretend« mehr im Titel führen.
Doch das Wegloben aus einer einflussreichen Position war ein beliebter Schachzug in der chinesischen Politik. Als Direktor des Komitees würde er keine wirklichen Machtbefugnisse haben, dieses Gremium hatte bestenfalls dekorative Funktion und verfasste Berichte oder Eingaben für übergeordnete Stellen. Da die Interessen der Partei ohnehin Vorrang vor rechtsstaatlichen Erwägungen hatten und die Justiz alles andere als unabhängig war, ließ sich die Position im Dienste der »Rechtsreform« nicht mit der im aktiven Polizeidienst vergleichen.
Zu einer Zeit, in der die »Aufrechterhaltung der Stabilität« oberste politische Priorität hatte, konnte diese Berufung ihm und der Öffentlichkeit allenfalls als formelle Anerkennung gelten. Chen war als fähiger und aufrechter Polizeibeamter bekannt, und seine plötzliche Entlassung hätte unerwünschte Spekulationen provoziert.
Aber warum? Schon der Gedanke an diese Frage bereitete ihm Kopfzerbrechen.
Als Parteisekretär Li die Entscheidung bei einer Sitzung bekannt gab, erklärte er mit vor Rührung belegter Stimme: »Höhere Stellen haben befunden, dass der Genosse Chen Cao zu noch verantwortungsvolleren Aufgaben innerhalb der Partei ausersehen ist. Seine außerordentlichen Leistungen während der vergangenen Jahre können wir nicht hoch genug schätzen. Dem Oberinspektor eilt ein fast schon legendärer Ruf voraus, er war stets der Stolz unserer Abteilung. Ich schlage daher vor, dass er sein Büro hier vorerst behält. Kein Grund, überstürzt aufzubrechen. Hier im Präsidium hat er sein angestammtes Zuhause, und wir hoffen, dass er uns häufig besuchen kommt.«
Sogar Teng Shenguo aus dem Stab von Shanghais Erstem Parteisekretär Lai Xi rief persönlich bei Chen an und hob die Bedeutung der neuen Stelle hervor. »Meinen herzlichen Glückwunsch! Es ist eine mühevolle, aber wichtige Aufgabe, China in einen Rechtsstaat zu verwandeln. Diese Stelle erfordert Kenntnis und Erfahrung. Genosse Lai ist der Ansicht, dass nur Sie die dafür nötige Qualifikation mitbringen, Direktor Chen.«
Was die potentiellen Kandidaten innerhalb des Präsidiums betraf, hatte er damit vermutlich recht. Dennoch hörte es sich an wie ein Leitartikel aus dem Parteiorgan Volkszeitung, leere Phrasen, die niemanden überzeugten. Welche Bedeutung seine Versetzung auch immer haben mochte, ein Anlass zu Glückwünschen war sie nicht.
So befand sich Chen nun also in diesem schäbigen, überfüllten Bus Richtung Suzhou, ohne den Titel »Oberinspektor« vor seinem Namen, der zu ihm gehört hatte wie das Haus zur Schnecke.
Das ist nicht der richtige Augenblick für Selbstmitleid, ermahnte er sich und konnte doch eine böse Vorahnung nicht unterdrücken. Er hatte das Gefühl, noch nicht am Ende seiner Prüfungen angelangt zu sein.
Als »aufstrebender Kader« hatte er seine Verbindungen, die bis nach ganz oben in die Verbotene Stadt in Peking reichten. Dennoch war seine sogenannte Beförderung völlig unerwartet gekommen, schon das ein Hinweis auf den Ernst der Lage. Keiner seiner Verbündeten hatte versucht, ihm zu helfen oder ihn zu warnen. Selbst Genosse Zhao, der pensionierte Sekretär der Zentralen Parteidisziplinarbehörde, hatte sich bedeckt gehalten.
Dazu kamen ihm zwei Zeilen des Tang-Dichters Li Bai in den Sinn: Eine vorüberziehende Wolke verdunkelt die Sonne. / Mich ängstigt, dass Chang'an nicht zu sehen ist.
Chang'an war Hauptstadt der Tang-Dynastie gewesen. Und der gefeierte Dichter Li Bai war während der An-Lushan-Rebellion, die den Niedergang des mächtigen Tang-Reiches einläutete, selbst in politische Schwierigkeiten geraten.
Chen seinerseits konnte keinen konkreten Grund für seine missliche Lage ausmachen. Als Oberinspektor war er, vorsätzlich oder nicht, vielen einflussreichen Leuten auf die Füße getreten, von denen einige sicher nur auf den Moment der Abrechnung warteten. Jetzt sprangen sie ihn aus dem Hinterhalt an, um seiner Karriere ein vorzeitiges Ende zu bereiten. Er war als Liberaler verschrien, als jemand, der es wegen seiner wachsenden Enttäuschung über die jüngste chinesische Politik an Loyalität gegenüber der Partei fehlen ließ. Chen hätte sich zwar nicht als direkte Gefahr für seine Vorgesetzten eingestuft, dennoch war eine gewisse Dringlichkeit, ihn kaltzustellen, nicht zu übersehen.
Für das Jahresende war ein landesweiter Parteitag anberaumt, und im Vorfeld schien es Tendenzen zu geben, die der Agenda der Partei zuwiderliefen. Vielleicht hatten die...
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