Schweitzer Fachinformationen
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Das Leben ist ein Theaterstück, und wir alle spielen die eigene Hauptrolle. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wer diesen Satz gesagt hat, doch wer auch immer es war, hatte recht. Aber an Tagen wie heute fühlt es sich an, als hätten wir nur eine Komparsenrolle.
Meine heiße Stirn lehnt an der Fensterscheibe des Busses, während die Landschaft an mir vorbeizieht, ohne dass ich sie wirklich wahrnehme. Die Sommerhitze steht im Bus und lässt meinen Kopf dröhnen.
Zum wiederholten Mal bietet mir die ältere Frau vor mir geschnittenes Obst an, aber ich lehne es mit einem verkrampften Lächeln ab. Sie zuckt mit den massigen Schultern und wendet den Blick wieder von mir ab. Ich weiß ihr Angebot zu schätzen, ihre Rolle ist eindeutig: die nette alte Dame.
Links hinter mir sitzt das Pärchen, das so verliebt ist, dass sich ihre Welt um nichts anderes mehr dreht als sie selbst. Sie küssen sich so intensiv, dass ich mich frage, wie die beiden überhaupt noch Luft bekommen. Trotz der unebenen Straße scheinen sie sich nicht stören zu lassen. Mir selbst setzt das Geruckel allerdings langsam, aber sicher zu, jedes neue Schlagloch sorgt für einen stechenden Schmerz, der durch meinen gesamten Körper jagt. Dennoch werfe ich einen kurzen Blick über die Schulter, um das versunkene Pärchen zu beobachten. Man kann das Glück fast an ihnen riechen. Es vermischt sich mit dem Biergeruch des Mannes in der letzten Reihe. Dem Außenseiter. Und ich?
Welche Rolle würden sie mir wohl geben?
Gerade weiß ich nicht mal, ob ich die Antwort auf diese Frage wirklich hören möchte. Also betrachte ich die Welt außerhalb des Busses.
Mit seinem spärlich besiedelten Land und den scheinbar unendlichen Wäldern und Feldern voller Kartoffeln ist Idaho das genaue Gegenteil von New York City. Doch die Eintönigkeit, mit der ich begrüßt werde, verfliegt schon bald, denn nun nähern wir uns einer dramatischen Naturschönheit. Ein Fluss, der sich über Jahrmillionen durch das Gebirge gegraben hat. Ich rutsche auf meinem Sitz weiter nach vorn, um den Anblick in mich aufzusaugen. Der Snake River hat einige tiefe Schluchten hinterlassen, aus denen Seen gewachsen sind, auf deren ruhigen Wasseroberflächen sich das ewige Grün der Wälder spiegelt. Idaho erstreckt sich in seiner ganzen Pracht vor mir. Die gigantischen Berge ragen in den Himmel, viel atemberaubender, als ich es mir vorgestellt habe. Aber nichts davon entlockt mir eine nennenswerte Regung.
»Schön, nicht wahr?«, fragt die alte Dame.
Stumm nicke ich, denn das Wort schön beschreibt es nicht mal annähernd. Nach einer Weile wird die Straße wieder ebener, während die beeindruckende Natur langsam von der Einöde abgelöst wird.
Genügend freie Fläche für die düsteren Gedanken, die in meinem Kopf einen Knoten gebildet zu haben scheinen. Tausend Erinnerungen sind miteinander verwoben. Nichts geht mehr vor oder zurück, alles in mir fühlt sich taub an. Selbst in der brütenden Hitze des Sommers schaffe ich es nicht, die Kälte aus meinem Herzen zu vertreiben.
Wann ist das Leben so schrecklich kompliziert geworden? Ich habe meine eigene Rolle so lange gespielt, dass ich darüber vergessen habe, wer ich wirklich bin. Oder wusste ich es vielleicht nie?
Noch vor ein paar Monaten habe ich gedacht, mein Leben würde in die richtige Richtung gehen. Medizinstudium, Traumhochzeit und für die Statistik 1,5 Kinder, noch ehe ich meine Doktorarbeit schreibe. Doch nun sitze ich in diesem Bus, auf dem Weg zu einer neuen Rolle, von der ich noch nicht weiß, wie sie aussehen wird.
Felder werden allmählich zu Grundstücken mit einzelnen Häusern, an denen Flaggen im leichten Sommerwind flattern. In der Mitte des blauen Hintergrundes befindet sich das Siegel des Staates Idaho: ein Bergarbeiter und eine Frau, die Seite an Seite stehen für Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Dinge, an die ich früher auch geglaubt habe. Ich schlucke, denn eigene Bilder drängen sich in mein Bewusstsein. Das Pochen in meinem Kopf wird stärker. Wie in einem Traum blitzt die eine Erinnerung auf, die ich so gern verdrängen würde. Eine schemenhafte Gestalt. Ein unmenschlicher Schrei. Und Blut. Meines.
Ich schließe die Augen, verschließe mich vor der Panik, die sich wie eine Schlange in meinem Inneren bewegt. Meine Atemzüge werden flacher und schneller, meine Beine beginnen, unkontrolliert zu zucken. Die Schmerzen im Rücken werden mit jeder Sekunde stärker. Ich schaffe es kaum, eine bequeme Position zu finden. Und mein Körper ist nur das eine. Viel schlimmer sind die Bilder in meinem Kopf.
Ich will mich nicht der Panik ergeben, doch ich bin völlig machtlos gegenüber der Flut an Erinnerungen. Die Welt um mich herum verschwimmt zu einem blaugrauen Schleier, der nichts mehr mit der Schönheit des Snake Rivers zu tun hat. Gerade als ich langsam, aber sicher glaube, in mir selbst ertrinken zu müssen, pralle ich gegen den Sitz der älteren Dame.
Die ruckartige Bewegung des Busses hat mich jäh aus meiner Trance gerissen, aber das Zittern lässt sich nicht stoppen. Jede Faser meines Körpers scheint aufzuheulen. Eine erneute harte Bremsung sorgt dafür, dass ich abermals gegen den Sitz pralle. Es ist reines Glück, dass ich meinen Rucksack gerade noch davon abhalten kann, vom Sitz zu fliegen. Ächzend blinzle ich die Reste der Verwirrung fort.
Der Fahrer zuckt entschuldigend mit den Schultern und verkündet über den Lautsprecher, dass wir angekommen sind.
Noch will diese Tatsache nicht zu mir durchdringen. Erschöpft wische ich mir den schweißnassen Pony aus der Stirn. Ich ziehe das Handy aus der Jackentasche und starre auf das Display. Der Ton ist ausgeschaltet, doch das Bild des Anrufers lässt meinen Herzschlag gefrieren. Mir blickt die Vergangenheit entgegen. Sein Gesicht. Mein Gesicht. Ein Wir, dem ich endlich entkommen muss. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft er bereits versucht hat, zu mir durchzukommen. Wie bei allen vorherigen Anrufen drücke ich ihn weg.
Ich stöhne und versuche, mich nicht weiter zu quälen. Aber das ist wie so oft leichter gesagt als getan. Mit hängenden Schultern greife ich nach meiner Reisetasche unter dem Sitz und meinem Rucksack, ehe ich mich zusammen mit den anderen Passagieren aus dem Bus quetsche. Die ältere Dame geht voraus, während das Pärchen bereits hinter ihr steht und darauf wartet, dass sie die kleinen Stufen überwunden hat, ohne dabei einen ihrer tausend Beutel fallen zu lassen. Direkt hinter mir spüre ich den Atem des Mannes, und der Biergeruch steigt mir in die Nase. Eine Gänsehaut breitet sich über meinen gesamten Körper aus.
Beruhig dich, Mia. Gleich bist du aus diesem Bus raus.
Endlich hat die alte Dame es mit der Hilfe des Fahrers geschafft, das Pärchen geht von dannen, und ich springe fast aus dem Bus, nur um dann unschlüssig auf dem Parkplatz zu verharren.
Die Sonnenstrahlen kitzeln auf meinen nackten Beinen. Mir erschienen die Shorts bei dieser Hitzewelle eine gute Idee zu sein, allerdings pfeift der Wind so plötzlich über den Asphalt, dass ich augenblicklich zu frösteln beginne.
Statt einer aufregenden und lebendigen Großstadt erstreckt sich vor mir ein Bahnhof in Miniaturausgabe. Es dauert nicht lange, bis ich die einzige Person gefunden habe, zu der ich noch flüchten kann.
»Da bist du ja. Ich - Scheiße, Mia.« Meine Schwester erstarrt, als sie mein Gesicht sieht. »Was zur Hölle hat der Mistkerl getan?«
Ihr Blick wandert höher und ruht schließlich auf der Naht an meiner Braue.
Irgendwie schaffe ich es, mir ein Lächeln abzuringen. Mein Herzschlag wird schneller, während sie mich mustert. Noch nie hat mich jemand aus meiner Familie in diesem Zustand gesehen. Gott bewahre, die letzten Monate hat mich kaum jemand überhaupt zu Gesicht bekommen. Niemand wusste, was an dem Ort, der mein Zuhause war, passierte, sobald alle Türen verschlossen und die Vorhänge zugezogen waren.
»Scheiße«, bringt meine Schwester erneut mühevoll hervor, ohne sich zu regen. Ich lasse die Reisetasche vor meine Füße fallen und zucke hilflos mit den Achseln.
Sollte mein Anruf sie in der vergangenen Nacht aus dem Konzept gebracht haben, so lässt sie es sich nicht anmerken. Erst als ich näher trete, bröckelt ihre coole Fassade.
Blaue Flecken sprechen eine ganz eigene Sprache.
Und der besorgte und mitleidige Ausdruck in ihrem Gesicht ist mir inzwischen so vertraut, dass ich ihn als normal erachte, nur von ihr kannte ich ihn bisher nicht.
»Bekomme ich keine Willkommensparty?«, frage ich in der Hoffnung, die seltsame Starre zu vertreiben, die von uns Besitz ergriffen hat.
Megans braune Augen füllen sich mit Tränen, die im Licht der langsam untergehenden Sonne schimmern. Sie schließt fest die Arme um mich. »Mom flippt aus«, flüstert sie mir ins Ohr, ehe sie mich etwas von sich schiebt und den Kopf schüttelt.
»Nur, wenn wir ihr etwas sagen.«
»Mia, Scheiße«, brummt sie mit Nachdruck.
Ich hasse es, wenn sie mich so ansieht.
Nichts an unserem Äußeren lässt darauf schließen, dass wir Schwestern sind. Doch unsere unterschiedlichen Genpools haben uns nie gestört, es ändert nichts an unseren Gefühlen. Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt, auch wenn wir biologisch nicht verwandt sind. Unsere Mutter sagt immer, dass sie gewusst hat, dass wir Seelenschwestern sind, und sie nie die eine ohne die andere aufgenommen hätte. Feuer und Wasser. Das sind wir füreinander.
Während ich klein bin, ist Megan groß. Sie muss sich nie einen Hocker holen, um an das oberste Regal zu kommen. Ihre Haare sind von einem knalligen, gefärbten Rot, das in ausgeprägten Wellen von...
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