Schweitzer Fachinformationen
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Dieses Buch ist das Protokoll einer Trauer. Vier Jahre lang, von 1976 bis 1979, hat Judith Offenbach daran geschrieben. Sie wollte Sonja ein Denkmal setzen. Herausgekommen ist ein (in der nicht spektakulären, sehr detaillierten Art) aufklärender, anklagender und ermutigender Bericht über den verborgenen Alltag lesbischer Paare und über das alltägliche Leben mit einer Behinderten.
Jetzt schreibe ich schon seit zwei Monaten an dem Buch. Die Abstände werden größer.
Noch so eine Rücksichtnahme, diesmal aber nicht funktionslos: Ich habe starken Haarausfall und muß mich eigentlich fortgesetzt damit beschäftigen, mir die Haare von meinen Kleidungsstücken abzusuchen. Früher warf ich sie einfach achtlos auf den Fußboden, bis Sonja mich darauf aufmerksam machte, daß die Haare sich in den Naben der kleinen Vorderräder ihres Rollstuhls festsetzten und daß sie überhaupt immer die Räder voller Haare hätte, was sie störend fände. Das war in der Rutschbahnwohnung. Aber auch nach dieser Ermahnung, wenn ich die Haare sorgfältig aus dem Fenster oder in die Mülltüte warf, las sie mit ihren Rädern noch so viele Haare und anderen Dreck vom Fußboden auf, daß ich die Naben regelmäßig von den Verfilzungen reinigen mußte. Zuerst puhlte und zerrte ich lange ohne nennenswerten Erfolg, bis ich auf die Idee kam, den ganzen Wust mit einem Feuerzeug wegzubrennen. Nach Sonjas Tod ging unser Staubsauger wieder an mich zurück. Als ich ihn zusammensetzte, um ihn wieder in Betrieb zu nehmen, sah ich die haarigen Verfilzungen an den kleinen Rädchen, auf denen die Saugbürste über den Boden gleitet. Das waren nun nicht meine Haare, sondern Sonjas. Da stand ich mit dem Staubsauger und weinte.
Sonja achtete sehr auf ihr Äußeres, natürlich auch auf ihre Haare, und auf ihre Zähne. Sie war stolz darauf, daß sie so selten zum Zahnarzt mußte, im Gegensatz zu mir. Mich ermahnte sie regelmäßig, besser auf meine Zähne zu achten, damit ich nicht vorzeitig mit einem künstlichen Gebiß dasäße - das wäre so ein unangenehmes fremdes Gefühl im Mund. Ich blieb trotzdem eher nachlässig und habe seit dem vergangenen Jahr vier Jacketkronen auf den Schneidezähnen. Was hat all die sorgfältige Pflege genutzt, habe ich mich bitter gefragt, wenn sie sich schließlich als Ganzes wegwarf? Sonja haßte und liebte ihren Körper, genau wie das Leben, und wie mich.
Ich erzählte also meinem Bruder, daß Sonja sich in ihn verliebt hätte, und die ganze übrige Geschichte dazu - er wußte bis dahin nicht, daß ich lesbisch bin. Wir brauchten eine ganze Nacht für dieses Gespräch. Dazu immer wieder seine Gitarrenplatte im Hintergrund und Ströme von dickem schwarzem Tee. Er war sehr lieb und sehr schweigsam; geredet habe ich hauptsächlich. Ich fühlte mich kreuzelend und psychisch durch den Wolf gedreht. Irgendwann am nächsten Nachmittag ging er dann in Sonjas Zimmer. Nach zwei Stunden kamen beide als glückstrahlendes Paar zu mir; wir hörten Händel und tranken Tee. Sonja lächelte selig, so schien es mir, und wieder konnte ich es einfach nicht begreifen. Sie gehörte doch zu mir und nicht zu meinem Bruder, der da so zufrieden und gleichzeitig teilnahmsvoll in der Ecke saß und Sonja so zärtlich anzusehen wagte. Ich war so empört und verletzt wie nie zuvor und meinte doch, mich für die beiden freuen zu müssen. Ich fand meinen Bruder fast unanständig, wie er sich so einfach, fast wie auf Befehl, in eine Frau verlieben konnte, die ihm vorher gar nichts besonderes bedeutet hatte. Von nun an übernahm er wie selbstverständlich Sonjas »Wartung«, trug sie über Stock und Stein (ich mußte ja zugeben, daß er das besser konnte als ich) und umsorgte sie auf liebevolle aber unbeholfene Weise. Wenn er sich dann bei Dingen, die ich inzwischen schon besser konnte, ungeschickt anstellte, wurde ich fast rasend, rührte aber entsagungsvoll keinen Finger und sah lieber weg. Sonja ließ alles geduldig mit sich geschehen. Viele intimere Dinge waren aber doch eher »Frauensache«, und es verwirrte mich sehr, daß Sonja diese Dinge jetzt viel mehr betonte als zuvor. Oft mußte ich sie aufs Klo begleiten, wenn sie etwa abends sagte, sie fühle sich körperlich zu schwach und unsicher, um allein zu stehen. Dann schlang sie auf dem Klo wieder die Arme um mich und sah mich dabei an in einer Weise, daß mir schwindlig wurde vor Verlangen. Statt Sonja wegen ihres zweideutigen Spiels mit uns beiden zur Rede zu stellen, genoß ich einfach die Brosamen, die ich noch bekam und fragte nicht weiter, verhielt mich aber völlig passiv, auch weil ich meinen Bruder nicht hintergehen wollte, denn ich nahm seine Liebe sehr ernst, auf welch obskure Weise sie auch immer zustande gekommen sein mochte.
Im Januar und Februar kam Ralf so oft er konnte von Münster, wo er studierte, nach Hamburg. In der Zwischenzeit schrieben die beiden sich Briefe, die Sonja mir zu lesen gab, sowohl ihre eigenen als auch Ralfs. Auch diese Aufforderung zur Indiskretion wies ich nicht zurück; vielmehr genoß ich schuldbewußt das Gefühl, Sonjas eigentliche Vertraute zu sein. Ralfs Briefe waren viel zarter, unausgesprochener, irgendwie abstrakter als meine es jemals gewesen waren. Ich konnte mich nur wundern, daß diese sparsame Kost Sonja genügte nach den Üppigkeiten, mit denen wir beide uns zuvor verwöhnt und betäubt hatten. Aber sie schien gerade das zu genießen. Auf meine Freundschaft wollte sie aber auf keinen Fall verzichten. Alles sollte nach ihrer Vorstellung so laufen wie bisher, bloß für das Bett war ich nicht mehr zuständig. Ob mein Bruder es jemals wurde, weiß ich nicht. Jedenfalls wollte er mir auch nicht wehtun und wünschte sich, daß sich meine verletzte Liebe in eine ruhige Freundschaft umwandeln könnte. Er hatte schon Heiratspläne und war sogar fast bereit, seine damalige Berufsvorstellung um Sonjas willen aufzugeben. Ursprünglich wollte er nämlich als Missionar in den Urwald gehen. Damals war dieser Plan fast wie ein Gelübde für ihn. Er war in einem schweren Konflikt, rang sich aber schließlich dazu durch, daß er ja auch Pastor werden könnte. Ein Rollstuhl im Urwald - das würde wohl nicht gehen. Es kam aber nicht dazu, daß diese Zukunftspläne sich noch weiter konkretisierten. Sonja stellte sich zu allem merkwürdig passiv und unentschieden. Oft kam sie hilfeund ratsuchend zu mir: »Dein Bruder ist so komisch. Was meint er wohl hiermit?« und ich sollte ihr sein Verhalten oder eine Briefstelle erklären. Sie demonstrierte mir auf jede erdenkliche Weise, daß er ihr eigentlich sehr fremd war und daß wir beide viel besser zusammen paßten. Im Laufe der Zeit nahmen diese Beratungsstunden fast die Form an »Wie werden wir den Störenfried bloß wieder los?« Obwohl Sonjas Skrupellosigkeit meinem Bruder gegenüber mich maßlos irritierte und auch wütend machte, war ich doch zu sehr verliebt, als daß ich diese indirekten Angebote hätte ausschlagen können. Ralf ahnte nichts von der Entwicklung, die hinter seinem Rücken vor sich ging.
Hatte ich mein Studium schon während der ersten Hälfte des Wintersemesters sträflich vernachlässigt, so fiel es jetzt vollständig flach. Die einzige Tätigkeit, an die ich mich erinnern kann, ist Russischlernen mit Sonja - wahrhaftig für mein Studium völlig überflüssig. Sonja plagte sich außerdem mit einem Referat über Austins »How to do things with words« ab. Sie sollte auf fünf Seiten die Behandlung der Performativa darstellen. Zur Sprachphilosophie hatte ich sie überredet (ich hatte ja keine Ahnung, daß man ihr gleich mit Austin kommen würde), also fühlte ich mich für das Gelingen der Arbeit auch irgendwie verantwortlich. Sonja mühte sich eine Weile redlich ab und kam dann hilfesuchend zu mir. Ich hatte wegen eines Zeitungs-Artikels über Wittgenstein im Heim einen unbegründeten Ruf als »Sprachphilosophin« aber von Austin verstand ich genauso wenig wie Sonja. Ihre Bitte um Hilfe zwang mich nun zur Aufgabe meiner resignierten Lethargie. Ich arbeitete mich sehr mühsam durch den schwierigen Text hindurch und schrieb Sonja das ganze Referat, für das sie dann eine 2+ bekam. Sie schilderte mir stolz und beschämt, wie zuvorkommend sie daraufhin plötzlich von dem Assistenten behandelt worden sei. Für mich war dieses Referat der Durchbruch zu einem wirklichen Verständnis der Sprachphilosphie, für Sonja war es der Anfang vom Ende jeder eigenständigen wissenschaftlichen Arbeit. Mit der Zeit wurde ich für sie zur lähmenden Autorität, die sowieso in allem besser war und auf die man sich im Notfall immer verlassen konnte. Das Verhängnis, das damals schon angelegt wurde, erkenne ich natürlich erst heute in seiner ganzen Tragweite. Damals hatte ich nur das aufrichtige Gefühl, ich müßte Sonja aus einer Patsche helfen, in die sie nur aufgrund der unsinnig überzogenen Anforderungen schuldlos hineingeraten war.
Im übrigen war ich damit beschäftigt, heimlich abzunehmen, teils um für Sonja besser auszusehen, teils um moralischen Druck auf sie auszuüben: »Sieh dir an, was für ein körperliches Wrack du aus mir gemacht hast! Der Liebeskummer nagt dermaßen an mir, daß ich immer mehr an Gewicht verliere!« In Wirklichkeit aß ich sehr...
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