Thüringen
Meine Reise beginnt sehr viel früher. Im Alter von drei Jahren laufe ich mit meinem Opa aus dem Haus. Wir leben in einem mittelgroßen Dorf in Thüringen. Es ist Januar und kalt. Schnee liegt über der Landschaft.
Ich erinnere mich an ein kleines Kinderbett. Es steht zwischen dem Kachelofen und der Wand. Die Wand ist immer warm. Wenn ich meine kleinen Hände darauf lege, kann ich spüren, wie der Rauch durch den Schornstein gezogen wird. Mittags riecht es nach Bratkartoffeln mit Zwiebeln.
Ich ziehe die Gitterstäbe des Kinderbetts heraus und laufe ins Wohnzimmer. Dort zündet mein Opa gerade das Feuer im Ofen an. Ich höre das Knistern der Holzspäne, sehe, wie sie hell aufleuchten. Im Gegensatz zum spartanischen Schlafzimmer wirkt das Wohnzimmer geradezu heimelig.
Links steht ein altes Klavier aus hellem Holz. Das Instrument hat meine Mutter gespielt. Es gehörte einer Bauernfamilie. Dort, wo einst silberne Kerzenhalter angebracht waren, sind jetzt dunkle Stellen. Der Sonne ist es selbst nach vielen Jahren, die das Klavier am Fenster stand, nicht gelungen, sie auszubleichen. Die Kerzenleuchter hat der Vorbesitzer zu Geld gemacht. Es ist das Jahr 1968.
Der kleine Ofen in der Mitte des Zimmers hat eine Scheibe, durch die man das Feuer lodern sehen kann.
Dann ist da ein Holztisch zum Ausziehen. Sechs Stühle ringsherum. An der Stirnseite befindet sich eine Schublade. Wenn ich die Wachstuchdecke anhebe, kann ich mit Mühe die verquollene Schublade aufziehen. Darin liegen wild durcheinander Bonbons, alte Schlüssel, Skatkarten und Unterlegscheiben. Rechts steht ein Sofa. Ein Sofa mit zwei Lehnen. Es ist schon etwas durchgesessen. Wenn ich mich draufstelle, komme ich an das Bücherregal. Ich kann noch nicht lesen, aber mein Opa sagt zu mir: Erst wenn du lesen kannst, darfst du die Bücher herausnehmen.
Ich laufe zum Fenster. Blicke auf die Bahnhofstraße hinunter. Wir wohnen in der Hausnummer 45. In diesem Moment läuft niemand zum Bahnhof, und es kommt auch keine Menschenseele von dort.
Unter den Fenstern sind große Heizkörper angebracht. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals warm waren. Im Fensterrahmen sammelt sich Wasser, und es riecht nach feuchtem Kitt.
Ich schaue hinaus und träume vom Frühling.
"Anziehen, wir wollen los", ruft mein Opa.
Ich spaziere widerwillig in die Küche, vorbei an dem großen Schrank, der im Flur steht. In der warmen Küche liegen über dem Stuhl meine rotblaue Mütze mit Norwegermuster, mein Mantel und mein Schal. Der Mantel riecht noch nach gestern, klamm und nach nassem Laub. Dazu mein weißer Schal. Mein kratziger Pullover hängt im Ärmel des Mantels fest. Ich komme ins Schwitzen, schaffe es gerade so, mit offenem Mantel meinem Opa die Treppe hinunter hinterherzustolpern.
"Wohin gehen wir?", frage ich. Mein Opa, Albert ist sein Name, zeigt durch das Treppenhausfenster mit der flachen Hand über die weiße Landschaft in Richtung Westen.
Das Treppenhaus knackt. Vorbei an der Toilette auf halber Treppe nehme ich die letzten vier Stufen auf einmal. Vom Hauseingang sind es noch mal drei Stufen, und wir sind im Hinterhof. Der Schuhabstreifer ist verrostet und voll mit schwerem Lehmboden. Wenn die Sonne darauf scheint, wird der Dreck abfallen, denke ich.
Der Hinterhof ist klein. Auf der linken Seite stehen kleine Schuppen. Dort hat jede Mietpartei einen Stall für die Kaninchen. Unser Stall ist der dritte. Ich folge meinem Opa hinein und beobachte, wie er eine der Boxen öffnet. Die Kaninchen rüffeln die Nasen, sie knabbern an dem Gemüse und schieben mit ihren Pfoten das gelbe Stroh zur Seite.
"Immer aufpassen, dass die Tür zu ist, bevor du die Box öffnest", sagt Opa. Ich nicke und grinse.
Mein Opa stellt sich vor mich, beugt sich hinunter und knöpft mir meinen Mantel zu. Er zieht ihn mit einem Ruck nach unten, und erst jetzt habe ich das Gefühl, richtig auf dem Boden zu stehen.
"Los geht's, kannst du laufen, bis dahin?", fragt er und zeigt wieder auf die weiße Landschaft. Ich nicke. Meine Schritte sind nicht halb so groß wie die meines Opas. Ich laufe energisch, und in der kalten Luft sehe ich unseren Atem.
Die Straße ist schmal und kerzengerade, gesäumt von Kirschbäumen, die jetzt winterlich kahl in den Himmel ragen. Unter dem Schnee zeichnet sich das Kopfsteinpflaster ab. Wir laufen in Richtung Azmannsdorf. Abseits der Straße liegt ein Wald, dazwischen ein Feld. Wir laufen wohl eine Stunde und mir ist warm, dann machen wir kehrt. Im ersten Moment kann ich unser Haus nicht sehen und habe kurz die Befürchtung, dass wir uns verlaufen haben. Dann taucht es in der Ferne auf.
"Kannst du schon unser Haus erkennen?", fragt mich mein Opa. "Ja, dort!", sage ich und zeige darauf. "Gute Augen hast du, mein Junge." Ich schnaufe durch und bin stolz.
So gehen wir täglich spazieren. Für mich heißt das, die Natur zu beobachten, die Nähe zu meinem Opa zu genießen und die Zeit unvergessen zu machen.
Nach zwei Stunden kommen wir zurück. Ich bin nicht müde, nur hungrig.
Meine Oma fragt: "Wo kommt ihr denn her? Albert, du sollst den Jungen doch nicht scheuchen."
Unsere Schuhe haben wir im Flur stehen gelassen, und ich höre, wie der Nachbar über sie stolpert. Es ist dunkel im Flur.
Oma steht in der Küche am Herd. Wenn sie die Pfanne zur Seite zieht, kann ich das offene Feuer sehen. Es gibt verschiedene Ringe aus Eisen auf dem Herd, die eingesetzt oder weggenommen werden können, das kommt ganz auf die Größe der Töpfe und Pfannen an. Je nachdem, wie viel Holz Opa in den Herd getan hat, brennt das Feuer mal mehr, mal weniger stark. Und das führt dazu, dass Oma beim Kochen hektisch die Töpfe und Pfannen hin und her schubst.
Auf dem Küchentisch liegt eine Wachstuchtischdecke, weiß, mit kleinen Zitronen. Ich kann Schnitte darin sehen. Opa legt nämlich kein Brettchen auf den Tisch, wenn er Gemüse schält oder kleinschneidet. Ich setze mich auf den Stuhl am Fenster, lasse die Beine baumeln. Sie reichen noch nicht bis zum Boden. Der Stuhl pikst. Er ist aus Holz mit Korbgeflecht bespannt, und einzelne Korbweiden stehen hoch. Von meinem Stuhl aus schaue ich Oma beim Kochen und Opa beim Gemüseschneiden zu. Die Fensterscheiben sind von der Wärme beschlagen und es riecht köstlich. Aus dem Radio auf dem Kühlschrank erklingt Musik, irgendeine Oper. Es ist aus Holz mit einer Stoffbespannung über dem Lautsprecher und beigen Tasten, wobei eine Taste fehlt. An einem großen Rad kann man die Sender einstellen.
Nachdem wir gegessen haben, legt mein Opa sich auf das rote Sofa im Wohnzimmer. Er schnarcht unaufhörlich, bis ich ihm die Nase zuhalte.
Mein Blick fällt auf den Weihnachtsbaum, der gewöhnlich bis zum 6. Januar dort steht. In meiner Erinnerung ist er sehr groß. Damit die kahlen Stellen nicht so auffallen, haben wir mit einer kleinen Handbohrmaschine Löcher in den Stamm gebohrt und dann die Äste eines anderen Baumes hineingesteckt.
Jetzt, wo es schon Januar ist, haben die Äste schwer an den Kerzen zu tragen. Man sieht dem Baum an, dass er mir bei der kleinsten Berührung seine Nadeln vor die Füße werfen wird. Er steht in einem Eimer Wasser, aus dem ein modriger Geruch aufsteigt.
Ich habe die Idee, die Kerzen anzuzünden, finde jedoch keine Streichhölzer, also wühle ich mich durch die Notenhefte, die neben dem Klavier liegen. Die Bilder in den Heften erscheinen mir altmodisch: Frauen mit goldgelockten Haaren.
Ich kann schon "Taler, Taler du musst wandern" spielen.
Als ich ein paar Tasten auf dem Klavier antippe, wacht mein Opa auf. Er schaut auf die Uhr mit den goldenen Zeigern, die auf dem Wohnzimmerschrank steht. Sie geht immer mindestens zehn Minuten nach.
Herr Fleck wird heute zum Kaffee kommen. Um drei. Opa zieht sich seine graue Hose an und ein hellblaues Hemd. Er füllt einen Lottoschein aus und liest in einer Pferdezeitung. Dann klingelt es schrill - dreimal. Was bedeutet, dass der Besuch für uns ist.
Herr Fleck und Opa unterhalten sich meist über ihre alte Heimat, über Riga und Lettland, was die Verwandten dort machen, wie es ihnen geht und welche Neuigkeiten es hier im Dorf gibt.
Herr Fleck lebt in einer alten Brauerei. In der Deinhardt-Brauerei. Eine bekannte Brauerei in Vieselbach, an einer Eisenbahnbrücke gelegen, die über den kleinen Bach führt. Aus diesem Bach bezieht die Brauerei ihr Wasser. Für mich hat die Anlage etwas Geisterhaftes. Rote Ziegelhäuser, ein großer Hof, eine Villa mit Wintergarten. In dieser Villa wohnt Herr Fleck.
Wenn Opa und er miteinander plaudern, spüre ich förmlich ihre Zufriedenheit. Sie wirken zusammen wie zwei ältere Herren, die ein Geheimnis bewahren.
Oma und Opa sind nahe der lettischen Hauptstadt Riga aufgewachsen. Mein Opa war lange Junggeselle und hat den Berichten meiner Oma zufolge sein Leben genossen, geraucht und getrunken und auch sonst nichts ausgelassen. Ich vermag es mir kaum vorzustellen, denn Opa trinkt nicht, er raucht manchmal, aber feiern tut er nie. Außer wenn die Familie zum Geburtstag, zu Weihnachten oder anderen Feiertagen zusammenkommt. Opa und Herr Fleck unterhalten sich auf Lettisch. Manchmal halten sie inne und schauen mich an, fragen sich wohl, ob der kleine blonde Junge etwas verstanden hat....