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Im Oktober 1924 veröffentlichte Breton sein Manifeste du Surréalisme (Abb. 2). Obwohl es, wie schon erläutert, einige künstlerische Aktivitäten gegeben hat, die vor diesem Datum entstanden sind und dennoch surrealistische Merkmale tragen (vor allem das Automatische Schreiben), darf man mit guten Gründen den Beginn dieser Kunstbewegung mit Bretons Manifest ansetzen. Der Begriff «surréalisme» ist keine originäre Namensgebung von Breton. Der frühe Avantgardist Guillaume Apollinaire bezeichnete sein groteskes Stück Die Brüste des Tiresias von 1917 als ein «drame surréaliste», auch in Briefen sprach er oft vom «surréalisme». Der französische Romantiker Gérard de Nerval nannte es «supernaturalisme». Und Charles Baudelaire folgte zuzeiten dem Prinzip des «surnaturalisme». Im gleichen Jahr wie Bretons Manifest gab der deutsch-französische Schriftsteller Yvan Goll eine Zeitschriftennummer mit dem Titel Surréalisme heraus, in der sogar der spätere Surrealist René Crevel vertreten war. Allein Goll argumentierte darin gegen die Verbindung von Traum, Dichtung und Freud'scher Psychoanalyse. Solch eine Kunstbewegung würde «wieder von der Bildfläche verschwinden». Goll sollte sich irren.
2 André Breton, Manifeste du Surréalisme, nouvelle édition Paris 1929, mit einem Frontispiz von Max Ernst
Bretons Text erschien als eigenständige Publikation und war mit seinen rund 80 Seiten eigentlich zu lang für ein klassisches Manifest. Aber der Surrealisten-«Leader» - man nannte ihn auch ironisch den «Chef der Kohorte» - hatte viel zu sagen. Und man kann getrost festhalten, dass die Konzepte, die Breton angibt, fast alle Merkmale surrealistischer Kunstausübung umfassen. Bleiben wir gleich beim Begriff «surréalisme». Diejenigen Autoren, die diesen zuvor nannten oder in Varianten verwendeten, werden im Manifest aufgeführt. Breton gibt darin die Ahnengalerie der Bewegung an: Apollinaire, Nerval, Baudelaire («Baudelaire ist surrealistisch in der Moral») - sodann Arthur Rimbaud, Stéphane Mallarmé, Edgar Allan Poe («Poe ist surrealistisch im Abenteuer») und viele mehr. Auch der deutsche Erzromantiker Novalis wird in einer Fußnote zitiert - Breton pflegte ein enges Verhältnis zur deutschen Romantik. Was aber eint die Ahnen und die Jungen? Es mag banal erscheinen: das sur-reale Element. Doch genau das ergibt eine klare Abgrenzung zu realistischen Schreibverfahren, bei denen die Logik des Alltäglichen nie in Frage gestellt wird. Und Breton stellt den Ahnen die jugendliche Gruppe der Surrealisten gegenüber: Aragon, Crevel, Robert Desnos, Èluard, Benjamin Péret, Soupault, Roger Vitrac - und natürlich Breton selbst. Diesen einen Punkt sollte man nicht aus den Augen verlieren: Die selbstbewusste Aneignung von Tradition ist ein Charakteristikum des Surrealismus. Das unterscheidet diese Avantgarde-Formation wesentlich vom italienischen wie russischen Futurismus wie auch von Dada.
Zu Anfang des Manifests lässt Breton kein gutes Haar am «Typus des geformten Menschen» («type humain formé»). Die «objektive Vernunft», Logik des Denkens («Wir leben noch unter der Herrschaft der Logik»), Positivismus und Technik, die das Alltagsleben und auch die Kriege beherrschen, haben den Menschen in einen Käfig gesperrt, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. So haben es schon die Dadaisten gesehen, doch der Autor bietet Sprengstoff, um die Gitter zu brechen: «Phantasie», «Einbildungskraft», «Wahnsinn» - das ergibt «die größte Freiheit, die des Geistes». Katalysator für all das ist «l'épaisseur du rêve», die Tiefe und Dichte des Traums. Es ist auffallend, dass Breton sich hier in die Nähe von Freuds Begriff der «Verdichtungsarbeit» aus dessen Traumdeutung begibt. Trauminhalte werden bildlich verdichtet, somit sind die geträumten Bilder stets überdeterminiert. Dies hat auch für die Literatur oder bildende Kunst Geltung. Für Breton sollen Traum- und Wachzustand Hand in Hand gehen, und so fragt er: «Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen?» Für ihn und für alle Surrealisten ist dies nur eine rhetorische Frage. Literarische Traumsequenzen, Traumprotokolle und Traumelemente in den Bildern sind fester Bestandteil sur-realistischer Kunst- und Lebenspraxis. Doch Breton möchte mit alldem keineswegs in reine Irrealität schlittern: «Ich glaube an die zukünftige Auflösung dieser gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit, in einer Art absoluten Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.» Die surreale Künstlerexistenz zeigt sich in einer Begrifflichkeit, die aus dem Denken der Surrealisten nicht mehr wegzudenken ist: «le merveilleux», «das Wunderbare» in Kunst und Leben. Ganz nahe zu diesem Begriff setzt Breton einen weiteren, die «révélation générale». Das ist eine zwiespältige Aussage, denn «révélation» kann sowohl «Enthüllung», «Entdeckung» meinen als auch im religiösen Sinn «Offenbarung». Breton und die meisten Surrealisten gaben sich antichristlich, antireligiös, doch das Mystische, ja teilweise Okkulte (Séancen, Bretons Sammlung von Voodoopuppen etc.) fand doch Eingang in ihr Denken. Und so definierte Breton in seinem Manifest die neue Kunstbewegung: «Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traums, an das zweckfreie Spiel des Denkens.» Der Surrealismus ist eine «croyance», also ein «Glaube» (eine «Konfession») an das «Wunderbare». Die Künstler der Gruppe sind es, die die «Geheimnisse der surrealistischen magischen Kunst» sichtbar machen, ohne das Geheime im Sinne der Logik des Realen (gänzlich) zu lüften - so wie die Dichte des Traums es verbietet, diesen komplett zu entschlüsseln.
Natürlich nimmt in Bretons Manifest die mit Soupault realisierte Gemeinschaftsarbeit Die magnetischen Felder einen festen Platz ein. Auch wenn dieser Text zu Dada-Zeiten entstand, gehört das Automatische Schreiben zu den Kernverfahren der Surrealisten. Sein Buch Manifeste du surréalisme von 1924 beschloss Breton mit einer eigenen Prosaarbeit gleichen Genres: Poisson soluble (Löslicher Fisch). Der Text beginnt mit den Worten: «Der Park streckte zu dieser Stunde seine blonden Hände über dem magischen Brunnen aus. Ein Schloss ohne Bedeutung rollte über die Erdoberfläche. In Gottes Nähe war das Heft dieses Schlosses bei einer Zeichnung von Schatten, von Federn, von Schwertlinien aufgeschlagen.» Schon dieser kurze Ausschnitt zeigt, dass der Text voll kühner Metaphorik ist. Breton nannte dies im Manifest «langage sans réserve», «vorbehaltlose Sprache». Damit meint er Folgendes: Die kommunizierende Bildbeziehung zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Surrealität und Realität manifestiert sich in einer Radikalmetapher: Die zwei Bildbereiche (Breton nennt es «les deux termes de l'image») einer Metapher (Bildspender und Bildempfänger) sollen voneinander möglichst weit entfernt sein. Entfernung und das kommunizierende Aufeinanderwirken ergeben den metaphorischen Blitz, «die Schönheit des erzielten Funkens». Entscheidend ist für Breton, dass der Künstler, also das darstellende Subjekt, nicht in der Lage ist, eine solche kommunizierende Beziehung im Vollbewusstsein seiner selbst zu kreieren. Die surrealistische Radikalmetapher entsteht durch das «principe d'association des idées», das «Prinzip der Ideenassoziation». Breton bezieht sich hier wohl auf Novalis, der in seinem Allgemeinen Brouillon meinte, dass die Poesie auf «thätiger Idéenassociation» beruhe. Breton bringt im Manifest einige Beispiele - etwa ein Bild von Pierre Reverdy: «Die Welt kehrt zurück in eine Tasche.» Aber Breton liefert selbst genügend surrealistische Radikalmetaphern. Hier nochmals ein paar Zeilen aus Löslicher Fisch: «In der Schulkreide ist eine Nähmaschine; die kleinen Kinder schütteln ihre Locken aus Silberpapier. Der Himmel ist eine schwarze Tafel, die schändlicherweise jede Minute vom Wind abgewischt wird.» Man kann aber nicht sagen, dass die Prosatexte oder Gedichte der Surrealisten jeglicher Struktur entbehren. Im Gegenteil, es ist das Spiel zwischen surreal-traumhaften und logisch strukturierten Elementen. Der Traum, das...
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