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Kapitel 1
Mohammed es-Senussi nahm sie als Erster in Augenschein. Gleich nach der Mittagspause hatten er und seine Arbeiter die schwer angeschlagene Büste eines Königs freigelegt und Hinweise entdeckt, dass in der Nähe weitere zerbrechliche Stücke verschüttet lagen. Alles deutete darauf hin, dass sie es hier mit etwas Außergewöhnlichem zu tun hatten. Als der sorgfältigste und kundigste Ausgräber schickte es-Senussi alle anderen Arbeiter weg aus Sorge, sie könnten die empfindlichen Skulpturen in dem ein Meter hohen Schutt im Raum beschädigen. Wie schon so oft, räumte er die Brocken vorsichtig mit einer Hacke beiseite. In seinem weiten, einstmals weißen und jetzt ziemlich zerschlissenen Gewand und mit der Mütze auf dem großen Kopf mit dem kurzgeschorenen schwarzen Haar arbeitete er sich mühselig weiter zur Ostwand vor. Und dabei stieß er immer wieder auf Bruchstücke einer Skulptur.[1]
Nach über einem Jahr der Grabungen in diesem Areal hatte er mit seinen Arbeitern Reste eines großen Gebäudekomplexes gefunden, der sich als eine Schatzkammer mit Skulpturen, Figurinen und Reliefs erwies. Der kleine Raum, in dem er nun zu Werke ging, barg offenbar ungewöhnlich viele solcher dicht beieinander liegenden Stücke. Nachdem er im getrockneten Lehm und Sand kleinere Fragmente entdeckt hatte, blickte er auf den Hals einer lebensgroßen Büste mit erstaunlich leuchtenden Farben.
Senussi legte die Hacke beiseite und grub mit bloßen Händen weiter. Obwohl sie nicht eben zart, sondern die eines imposanten und korpulenten Mannes waren, zeigte Senussi sich vollendet behutsam, wenn es um zerbrechliche Funde ging. Im Staub knieend, tastete er sich mit den Fingern zum oberen Teil der Skulptur vor. Langsam kam eine Krone in Form eines Kegelstumpfs zum Vorschein.
Die Freilegung erwies sich als schwierig. Dicht bei ihr im Schutt lagen weitere Stücke, die zunächst entfernt werden mussten, aber am Ende blickte Senussi auf die Büste einer Frau herab, die mit dem Gesicht nach unten vor ihm lag. Als er sie heraushob und umdrehte, sah er ihr Antlitz - als der erste Mensch nach 3244 Jahren. Ein Tagebucheintrag vom 6. Dezember 1912 vermerkt: »Farben wie eben aufgelegt. Arbeit ganz hervorragend. Beschreiben nützt nichts, ansehen.«[2]
Was Senussi sah, war ein erstaunlich symmetrisches Antlitz mit einem aufgemalten bronzefarbenen Teint, vorspringenden Wangenknochen, ovalen Augen und vollen, aber scharf gezogenen Lippen. Zarte Fältchen an den Mundwinkeln schienen ein Lächeln anzudeuten. Die Büste war wunderbar erhalten, mit einem kleinen Schaden an den Ohren, und ein Auge fehlte. Ein Name stand nicht auf ihr, aber der Krone nach zu urteilen, hielt Senussi eindeutig eine Königin in den Armen. Ein Foto mit den anderen Ausgräbern, die er herbeigerufen hatte, um seinen Fund zu inspizieren, zeigt ihn, wie er die Königin mit der einen Hand hält, während er mit der anderen vorsichtig ihren großen Kopf abstützt und höchst stolz und fürsorglich auf sie herabsieht. Anstatt seinen Blick zu erwidern, schaut die Königin gelassen in die Ferne, scheinbar unbeeindruckt von der Aufregung um sie herum und ohne zu ahnen, dass ihr Gesicht bald zum berühmtesten des Altertums werden sollte.
Die Skulptur war Teil einer laufenden Puzzlearbeit. Tell el-Amarna, wo sie aufgetaucht war, lag ungefähr auf halber Strecke zwischen den beiden großen altägyptischen Städten Memphis im Norden und Theben im Süden. Und diese Ruinenstätte war lange Zeit vernachlässigt worden, weil sie verglichen mit den großen Pyramiden von Gizeh bei Memphis oder den Palästen und Tempeln von Theben bedeutungslos erschien. Aber im Verlauf des vorherigen Jahrhunderts waren schrittweise Fundamente von Bauten sowie Gräber entdeckt worden, in denen Archäologen die Überreste einer einst großen Stadt vermuteten, auch wenn niemand wusste, wie sie geheißen hatte.[3] Grabstätten und Skulpturen wie die von Senussi ausgegrabene deuteten darauf hin, dass in der Stadt ein König und eine Königin residiert hatten. Nach Jahren der Suche tauchten schließlich Inschriften mit einem Namen auf. Die Büste stellte Königin Nofretete dar: »Die Schöne ist gekommen«, »Groß an Gunst«, »Herrin von Ober- und Unterägypten«, die Gemahlin von König Amenophis IV. Wer war diese geheimnisvolle Frau?
Senussi mit der Büste Nofretetes, die er soeben auf dem Anwesen des Bildhauers Thutmosis geborgen hat. (Universitätsarchiv, Universität Freiburg)
Die Ägypter hatten zu ihren Königen und Königinnen Verzeichnisse geführt, aber weder Nofretete noch Amenophis IV. konnten in ihnen klar identifiziert werden. Während die Grabungen fortliefen, tauchten weitere Rätsel auf. Die Stadt war ganz offenbar rasch aus Lehmziegeln errichtet worden. Deshalb war von ihr so wenig erhalten. Und ihre Erbauer hatten sie anscheinend wieder verlassen. Ebenso mysteriös war, dass ihre Bildhauerwerke wie die Büste der Nofretete einen Stil aufwiesen, wie er aus Altägypten nirgendwo sonst zum Vorschein gekommen war. Und warum fehlte diesem sonst so vollkommenen Gesicht ein Auge? Auf seinen Fund wurde eine Belohnung ausgesetzt, aber weder Senussi noch sonst jemand spürte es jemals auf.
Eines wurde ziemlich schnell klar: Senussi war beim Graben auf den Lagerraum eines Bildhauers gestoßen. In Altägypten signierten diese Künstler ihre Werke nicht, aber der Name auf einer elfenbeinernen Scheuklappe, die in dieser Werkstatt gefunden wurde, wies deren Inhaber als einen Thutmosis aus, der so zu einem der seltenen namentlich bekannten Künstler aus dem Altertum wurde. Nach der Größe seines Anwesens zu urteilen, war er gut im Geschäft gewesen. Vollständig von einer Umfriedungsmauer umschlossen, war es durch ein einziges Tor erreichbar, an dem wahrscheinlich Wachen gestanden hatten. Der Komplex umfasste mehrere Gebäude, die von einem weiträumigen Hof aus zugänglich gewesen waren, darunter Werkstätten und enge Unterkünfte, vermutlich für Lehrlinge. Am eindrucksvollsten waren die Gemächer von Thutmosis und seiner Familie, die auf einen Garten mit einem großen Brunnen hinausgingen, wichtig in dieser dürren Einöde. In einem Kornspeicher direkt neben dem Atelier kamen vier Behälter für Gerste und Weizen zum Vorschein. Dieses Getreide hatte nicht nur den Jahresbedarf der Familienmitglieder und der Werkstatt gedeckt, sondern in der geldlosen Wirtschaft wie Gold auch als ein Zahlungsmittel gedient, das sich gegen so gut wie alles eintauschen ließ.[4]
Als ein weiteres Zeichen für Thutmosis' herausragende Stellung lag sein Anwesen weit vom Nilufer entfernt, an dessen geschäftigen Kais sich Lagerhallen für herangeschiffte Güter wie Weizen, Gerste, Bier und Vieh anschlossen. Dahinter erstreckte sich ein Viertel vorwiegend mit Werkstätten. Thutmosis' Anwesen war dagegen im ruhigeren Wohnbereich weiter abseits, fast am Rand der Stadt, angesiedelt. Jenseits seiner Werkstatt in einiger Entfernung lagen die Dörfer der Arbeiter, an den Steinbrüchen, in denen die Schwerstarbeit verrichtet wurde. Dass in Thutmosis' Atelier weitere Skulpturen Nofretetes auftauchten, deutete darauf hin, dass er bei der Königin in besonderer Gunst gestanden hatte. Die geduldige Arbeit von Ausgräbern wie Senussi brachte eine der ungewöhnlichsten Epochen in der altägyptischen Geschichte ans Licht.
Nofretete und Amenophis waren im über dreihundert Kilometer weiter südlich gelegenen Theben (heute Luxor) aufgewachsen, mit rund 80 000 Einwohnern damals eine der größten Städte der Welt. Theben markierte das südliche Zentrum des ägyptischen Kernlands, das sich von der Nilmündung im Norden über mehr als 1200 Kilometer flussaufwärts bis hierher erstreckte. Vormals eine Handelsniederlassung für Geschäfte mit dem heutigen Sudan, war es schon mehrere Generationen vor Nofretete zur Hauptstadt des Reichs aufgestiegen und trumpfte mit riesigen Tempeln samt gewaltigen Pfeilern und einer von Sphingen gesäumten Prozessionsstraße auf. Auf der anderen Nilseite lag das Tal der Könige, in dem seit Jahrhunderten die Pharaonen und Adligen bestattet wurden. Nofretete und Amenophis wuchsen inmitten uralter Monumente und somit als Spätgeborene im Schatten der Geschichte auf.
Diese Allgegenwart der fernen Vergangenheit in Theben war allerdings nichts im Vergleich zu Gizeh im äußersten Norden des Landes. Hier hatten die Könige des Alten Reichs schon tausend Jahre zuvor drei gigantische Pyramiden errichten lassen, von denen eine von einer riesigen Sphinx bewacht wurde. Tatsächlich war in Ägypten fast alles dazu angetan, die Menschen die ganze Last der Vergangenheit spüren zu lassen. Mehr als jede andere Kultur hatte Altägypten gigantische Ressourcen darin investiert, der Vergänglichkeit zu trotzen. Nicht nur Pharaonen, sondern auch Adlige und wirklich alle, die es sich leisten konnten, richteten ihren Blick auf die Ewigkeit. (Über die Sehnsüchte der einfachen Arbeiter, die die Tempel und Begräbnisstätten bauten, ist wenig bekannt.) Die tief im Inneren der Pyramiden verborgenen Grabkammern und die in den Felsen gehauenen Grüfte wurden mit allem ausstaffiert, was in der jenseitigen Zukunft dienen konnte, von Speisen bis zu nackten Gespielinnen.[5] Tote zu bestatten...
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