Schweitzer Fachinformationen
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Unsere Wege trennten sich gleich nach dem Einchecken im Hotel. Hannah sagte, sie müsse noch ein paar dringende Anrufe erledigen, bevor sie ihr Telefon endgültig ausschalten könnte, Gabor sagte gar nichts, und auch meine Mutter schien es nicht besonders eilig mit dem offiziellen Beginn unseres Memorial-Wochenendes zu haben. Mich fragte keiner, und wir verabredeten uns zum Abendessen in zwei Stunden beim Italiener direkt bei unserem Hotel. Gabor hatte sein Zimmer neben unserem, aber er wollte lieber die Treppe hochlaufen, statt mit uns den Fahrstuhl zu nehmen, obwohl er das natürlich nicht so direkt sagte. Als wir ausstiegen, sahen wir ihn gerade noch in seinem Zimmer verschwinden. Meine Mutter hob die rechte Augenbraue, was sie wirklich gut kann, aber sie sagte erst was, nachdem sie unsere Zimmertür hinter sich geschlossen hatte.
»Dieser Typ hat mich all die Jahre, so lange ich ihn kannte, von morgens bis abends zugetextet. Wieso sagt der auf einmal nichts mehr?«
Mir fiel keine Antwort darauf ein, aber ich glaube, sie rechnete auch mit keiner.
»Ich habe wirklich im ersten Moment gedacht, auf dem Bahnsteig stünde Joschi. Findest du echt, wir sehen uns ähnlich? Und pass gut auf, was du jetzt antwortest.«
Zurückrudern ging nicht, das hätte sie mir nicht abgenommen, also blieb nur der Kollisionskurs. »Ich glaube, wenn du die gleiche Brille aufsetzen und dich neben ihn stellen würdest, könnte man euch nicht mehr voneinander unterscheiden.«
Meine Mutter kniff die Augen zusammen und wackelte mit dem Kopf hin und her. »So vielleicht?«
»Genau so«, sagte ich. »Aber natürlich bist du viel schöner als er.«
»Ist schon gut, ich werde dich nie wieder danach fragen«, sagte meine Mutter und warf einen Blick ins Bad. Was sie dort sah, erfüllte sie mit großer Zufriedenheit. »Ich glaub, ich geh mal in die Badewanne«, verkündete sie, als wäre das etwas Neues, dabei macht sie das immer, wenn sie irgendwo eine entdeckt: Sie legt sich rein, und das für Stunden. Ich bin nicht so. Badewannen machen mich nervös. Sobald ich drinliege, frage ich mich, was passieren würde, wenn die Wanne plötzlich unter mir einen Riss bekäme. In meiner Phantasie befinden sich unter Badewannen Heizspiralen wie unter einem Keramikkochfeld, und sicher wird eines Tages auch jemand so etwas erfinden, um das Badewasser länger warm zu halten. Badewannen sind kein guter Ort für mich. Weitere Orte, denen ich misstraue, sind Solarien, Kernspintomographen, Tunnel, bei denen man beim Reinfahren nicht den Ausgang sieht, und Raumkapseln.
Während das Badewasser einlief, trafen wir noch ein paar gewichtige Entscheidungen wie etwa die, wer auf welcher Seite des großen Doppelbetts schlief und ob ich uneingeschränkten Zugriff auf die Unterhaltungselektronik des Hotelzimmers haben würde. Wir einigten uns in beiden Fällen, und ich zappte eine Weile durch das magere Fernsehprogrammangebot und holte dann Gabors Bären aus dem Rucksack. Er sah aus wie neu. Auf einem kleinen Zettel, der in der Naht seines rechten Ohrs steckte, stand »Made in China«. Ich setzte ihn auf mein Kopfkissen und überlegte, wo in diesem Raum Platz für meinen Altar sein könnte, weil ich das Gefühl hatte, dass ich ihn hier noch brauchen würde. Dann beschloss ich, nach draußen zu gehen. Ich klopfte an die Tür zum Bad, und als keine Antwort kam, klopfte ich noch mal, und schließlich ging ich rein und sah, dass meine Mutter wieder auf Tauchstation war. Sie sagt, sie liebt es, wenn ihre Ohren unter Wasser sind, weil es dort Geräusche und Klänge gibt, die man in der Luft nicht hören kann, und außerdem sei es so friedlich dort. Ich kann Wasserbehälter, hinter denen sich theoretisch Heizspiralen befinden könnten, beim besten Willen nicht friedlich finden. Wir haben schon oft darüber geredet, meine Mutter und ich, und natürlich hat sie sich gefragt, ob während ihrer Schwangerschaft mit mir irgendetwas schiefgelaufen sein könnte, aber keiner von uns hat sich je an einen Vorfall erinnern können. Erst nachdem ich wie alle anderen Kinder mein Seepferdchen gemacht und ihr zuliebe sogar drei gelbe Plastikringe vom Grund des Beckens geholt hatte, hörte sie auf, sich Sorgen um mich zu machen, und ich hörte auf zu schreien, wenn sie wie eine Wasserleiche in der Badewanne trieb.
»Ich geh raus«, sagte ich, als sie wieder aufgetaucht war.
»Wie?«, fragte sie, aber dann schaltete sie sofort wieder in den Muttermodus. »Wir essen um sieben. Hast du dein Handy dabei?«
»Hab ich«, sagte ich und warf ihr einen Kuss zu und ging.
Ich bin noch nie in Weimar gewesen. Ich stecke voller Vorurteile über Ostdeutschland und inneren Bildern von Orten, an denen überall Glatzköpfe mit Springerstiefeln rumhängen und Leute wie mich anpöbeln. Trotzdem sind Kernspintomographen viel schlimmer. Meine Großmutter war mal in einem; sie hat mir davon erzählt, und sie hat gesagt, sie hätte gebetet da drinnen vor lauter Einsamkeit. Ich könnte heute noch heulen, wenn ich daran denke. Ich vermisse sie so. Meine Großmutter war mit Joschi verheiratet gewesen, aber als ich auf die Welt kam, lebte sie schon lange mit Karl zusammen, also wurde Karl mein Großvater. Sie sind beide im vergangenen Jahr gestorben, ganz kurz nacheinander, was bestimmt gut für sie war, aber nicht für uns. Um Platz eins der schlechtesten Nachrichten des vergangenen Jahres hatten sich außerdem beworben: Meine Katze wurde überfahren. Ich verpasste den Abgabetermin beim Kurzgeschichtenwettbewerb an meiner Schule. Meine Freundin Helene hatte Sex mit einem Jungen, in den ich wahnsinnig verliebt war, was aber keiner von den beiden wusste und was die Sache irgendwie noch schlimmer machte. Mein Vater zog von zuhause aus.
In diesem Jahr lief es deutlich besser für mich, das war nicht zu übersehen.
Zu meiner großen Erleichterung waren statt Nazis lauter normale Leute auf der Straße unterwegs, und wer nicht rumlief, saß in Decken gehüllt vor einem der Cafés, rauchte oder verrenkte sich den Hals nach den letzten Oktobersonnenstrahlen. Ich steckte mir die Kopfhörer von meinem iPod in die Ohren und sah mir zum neuen Album von Coldplay die Live-Übertragung »Lily in Weimar« an. Mein Leben als Film - das mache ich oft, wenn ich draußen bin und Musik höre. Alles, was ich sehe, bekommt dann eine Wahnsinnsbedeutung: eine leere Plastiktüte im Geäst eines Baumes, ein Typ, der mit seinem Laptop auf der Parkbank sitzt und in der Nase bohrt, eine Frau, die diskret versucht, ihre Brüste im BH zurechtzurücken. Ich suche mir gute Szenen zu guter Musik aus, denn schließlich bin ich auf Sendung, und alle möglichen Menschen sehen mir gerade beim Leben zu, vielleicht sogar Jan, dem ich in letzter Zeit die meisten meiner Übertragungen gewidmet habe. Mit dem richtigen Soundtrack kann selbst die Fußgängerzone in Weimar so aufregend wirken wie der Sunset Boulevard in einem MTV-Clip. Ich bin Regisseurin, Moderatorin und Hauptdarstellerin in einer Person, meine Augen sind die Kamera, und direkt vor mir ist immer noch eine zweite, falls ich etwas anmoderieren möchte und vor allem, damit Jan mich sehen kann.
Aus einer Bäckerei zu meiner Rechten trat ein junges Paar. Sie zog ein Schokoladeneclair aus der Verpackung und hielt es ihm vor die Nase. Er schüttelte den Kopf. Sie sah ihn an und steckte, ohne den Blick von ihm abzuwenden, den Finger in das Eclair, nahm ihn wieder heraus und strich mit ihrem Sahnecremefinger an seinen Lippen entlang. Er machte erst ein erstauntes Gesicht, dann begann er zu lächeln und sie zu küssen. Ich wandte mich ab, weil ich es aufdringlich fand, anderen beim Küssen zuzusehen, aber die Szene gefiel mir gut, und ich hatte Lust, das Mädchen zu sein und mich von Jan küssen zu lassen. Auf der Straßenseite gegenüber lief ein kleiner Junge wild gestikulierend rückwärts und fiel nach wenigen Metern über das ausgestreckte Bein eines tätowierten Mannes mit Dreadlocks, der auf dem Boden saß, vor sich eine kleine Bratpfanne mit ein paar Münzen und neben sich einen Hund. Der Hund war schwarz und hatte Übergewicht und trug ein Palästinensertuch. Auf einem Stück Pappe, das an der Bratpfanne lehnte, stand: Ich wette mit Ihnen um 50 Cent, dass Sie lächeln, wenn Sie das lesen. Der Junge heulte, der Hund bellte (für mich lautlos, aber mit dramatischer Musikuntermalung), woraufhin der Mann in die Pfanne griff und dem Kind ein Geldstück hinhielt. Der Junge sah ihn schockiert an und lief davon. Etwas weiter links: Eine Frau hatte sich so ungeschickt von ihrem Platz im Straßencafé erhoben, dass ein Tisch bedrohlich ins Wanken geraten war. Der Mann vom Nebentisch ergriff eine der Tassen, bevor sie herunterfallen konnte. Sie bekam gar nichts davon mit. Wieder mal ein Held des Alltags, der ohne mein scharfes Kameraauge unentdeckt geblieben wäre.
Ich zoomte ihn heran: Es war Gabor. Er schaute mir mitten in meine Kamera, und das Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich in seinen Flaschenbodenbrillengläsern.
Ich zog die Kopfhörer aus den Ohren und stellte die Musik ab. Gabor lächelte mich an. Ich war erst ein bisschen unsicher, weil er mich beim Spielen erwischt hatte, aber dann beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass man das von außen gar nicht erkennen konnte, solange ich nicht laut vor mich hin redete.
»Magst du dich dazusetzen?«, rief Gabor, und es klang wie eine ernst gemeinte Einladung.
»Ich komme«, sagte ich.
Wenigstens hatte er sich nicht in eine dieser bescheuerten Decken eingewickelt, aber ich muss gestehen, nach einer Weile wurde mir so kalt, dass ich mir eine nahm, obwohl es mir etwas peinlich war. Wir saßen lange...
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