Schweitzer Fachinformationen
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Easy hätte dreißig Minuten früher landen sollen als ich. Warten, bis mein Koffer auf dem Gepäckband auftaucht, den Ausgang finden, desorientiert in die Menge starren, bis eine von uns zu winken beginnt, auf all das hatte ich mich vorbereitet, vor allem auf den Moment des Wiedererkennens: Ich bin alt geworden, du bist alt geworden, also los, bringen wir's hinter uns. Stattdessen zog ich eine geschlagene Stunde lang meinen Rollkoffer kreuz und quer durch die leidlich klimatisierte Flughafenhalle, bis ich mir jeden Snack aus der Everest-Bar und jedes Gesicht derer eingeprägt hatte, die Schilder mit meist deutschen Nachnamen in die Höhe reckten, sobald jemand die Zollschranke passierte, und dabei ihre nass geschwitzten Achseln zeigten.
Aus den Lautsprechern plärrte in regelmäßigen Intervallen eine griechische Frauenstimme, ihre Durchsagen klangen wie Lösegeldforderungen und ließen mich jedes Mal zusammenschrecken. Ich begann sie Nemesis zu nennen, das half. Nemesis war Mitte vierzig und frisch geschieden und hatte Myome in der Gebärmutter. Danach bekam sie Osteoporose, Epilepsie und Dermatitis, bis mir keine griechischen Krankheiten mehr einfielen und auf der Ankunftstafel die Information erschien, dass Easys Maschine vor fünf Minuten gelandet war. Hypertonie, dachte ich. Ich stellte mich wieder in die Nähe des Ausgangs, und meine Unruhe wuchs mit jeder Frau um die sechzig, die in Fleecejacke und Wanderschuhen heraustrat. Sie sahen einander so ähnlich in ihrer patenten, gut gerüsteten Selbstgewissheit. Sie sahen nicht aus wie Frauen, die wir hätten werden können, Easy und ich.
Bei unserem ersten Gespräch nach wie vielen Jahren auch immer hatte sie mich mitten im Satz unterbrochen und gesagt, wir sollten aufhören zu telefonieren und uns lieber treffen. Ob ich Lust hätte, mit ihr nach Kreta zu fahren? Sie habe da was an der Südküste, mitten in der Natur, eher Bruchbude als Villa und auf den letzten Metern nur zu Fuß erreichbar, und ich protestierte sofort, weil ich meinte, das meinem Selbstbild schuldig zu sein: Zwei weißhaarige Damen beim Wandern, auf diese Funktionskleidungsscheiße hätte ich keinen Bock, sagte ich und wählte meine Worte sorgfältig, aber Easy antwortete, von Wandern sei hier nicht die Rede gewesen, und außerdem würde sie sich die Haare blond färben. Mich überzeugte das nicht, und mit ihr nach Kreta wollte ich auf keinen Fall, wir kannten uns doch gar nicht mehr, aber ich hätte sie gern an dieser Stelle gefragt, ob sie immer noch so schön sei wie früher und ob ihr das immer noch so egal sei. Stattdessen erfuhr ich von Easy, dass sie wieder in Laustedt lebe, was mich so sehr erschütterte, dass ich nicht mehr richtig zuhörte, als sie davon sprach, wie viel Zeit sie diesen Sommer in ihrem kretischen Haus verbringen wolle, ob einen Monat oder zwei.
Kurz darauf buchte ich meinen Flug. Fünf Tage schienen mir lange genug, um meine ernsthaften Absichten zu unterstreichen, und für den Fall, dass Easy und ich überhaupt nicht mehr kompatibel waren, gab es einen Plan B, ein Wellnessresort in der Hauptstadt Heraklion. Wir mailten noch ein paarmal hin und her, aber da ging es nur um praktische Dinge. Keine von uns hatte der anderen vorgeschlagen, aktuelle Fotos von sich zu schicken, um den ersten Schock abzumildern.
Zu den vielen Fragen, die bisher nicht gestellt worden waren, gehörte auch die, wie Easy mich überhaupt gefunden hatte. Abgesehen davon, dass ich meinen Mädchennamen nicht mehr trug, schrieb ich auf dem Blog nur unter dem Pseudonym Mockingbird, im Impressum stand die Adresse eines befreundeten Anwalts. Ich hatte von Anfang an ein Phantom bleiben wollen, gewiefter Onlinecoach für die einen, weise Alte für die anderen, Mutter, Schwester, Briefkastentante, paradox oder konventionell intervenierend, cool, sexy, unberechenbar, eine Projektionsfläche, ein Umriss zum Ausmalen. Die Idee dazu war mir gekommen, als ich in einem Zeitungsartikel vorgelesen hatte, gute Antworten zu geben würde sich keiner mehr trauen, dabei sehnten sich die Leute so sehr danach. Wie sehr sie sich tatsächlich sehnten, merkte ich erst, als mein Blog dank einer Nominierung für den Grimme-Preis aus der kompletten Bedeutungslosigkeit ins digitale Rampenlicht geschossen wurde und mir statt einer Frage pro Woche plötzlich dreihundert gestellt wurden. Zum ersten Mal im Leben konnte ich mir eine Jenny leisten, die nicht nur meinen Klarnamen kannte, sondern auch eingehende Nachrichten prüfte und vorsortierte, und weil meine Jenny überzeugt war, dass es im Leben nie zu spät für irgendwas sei, denn sie war noch sehr jung, hatte sie vor ein paar Wochen Easys Frage ganz oben auf ihre Top-fünf-Liste gesetzt, die sie mir mehrmals wöchentlich vorlegte, gefolgt von den Briefen eines gemobbten Teenagers, eines frisch verwitweten Studienrats, einer Stalkerin sowie einer jungen Kreativen, die sich für talentfrei und wertlos hielt. Ich folgte Jennys Empfehlung. Als ich den Absender »easy1973« las und endlich begriff, wem ich gerade antwortete, hatte ich den Blogeintrag schon fertig geschrieben. Ich ließ ihn stehen, wie er war, obwohl ich meine Antwort plötzlich nur noch mittelmäßig fand, aber eine mittelmäßige Antwort auf Easys Anschleichen von hinten erschien mir nur fair.
»Kat!«
Was ich als Erstes dachte, als Easy in der Ankunftshalle vor mir stand? Ich dachte: Oh Gott, sie stirbt bald. Kein gesunder Mensch kann so dünn sein. Sie hat Krebs oder irgendeine andere tödliche Krankheit. Mein zweiter Gedanke: Wie grotesk diese dicken Kajalstriche unter ihren Augen aussehen. Der dritte: Warum fühle ich überhaupt nichts?
Easys Umarmung war stürmisch, fast grob, und ich wich instinktiv zurück, glich mein Zurückweichen sofort durch eine kleine Vorwärtsbewegung aus, aber sie hatte es gemerkt; ich spürte ihr Innehalten und die Befangenheit, die sich zwischen uns ausbreitete. Ihre Haare waren strohig und kratzten an meiner Wange. Mir brach der Schweiß aus, heftig und unvermittelt, das war mir seit Ewigkeiten nicht mehr passiert, und ich ließ die Arme sinken und lachte und sagte: »Na, wer hätte das gedacht«, und: »Hallo, Easy.«
»Du siehst genauso aus, wie ich dich mir vorgestellt habe, Kat.«
Auf den zweiten Blick wirkte ihre Dünnheit nicht mehr ganz so beängstigend. Sie hatte ihren grellorangefarbenen Rucksack abgesetzt, bevor sie mich umarmt hatte, jetzt nahm sie ihn mit Schwung wieder auf, obwohl er nicht nach leichtem Gepäck aussah. Der gepolsterte Trageriemen schob ihre Bluse zur Seite und legte ihre Schulter frei, und die Abholer begannen sehnsüchtig mit den Namensschildern zu wedeln, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Easy sagte: »Komm, wir gehen unser Auto holen, Kat«, und lief los in Richtung Ausgang, und ich griff nach meinem Rollkoffer und folgte ihr.
Draußen empfing uns flirrende Mittagshitze, für Ende April sei das viel zu warm, rief Easy mir zu, es stank nach Frittierfett und den Abgasen der Reisebusse, die an den Haltestellen warteten. Das Areal der Autovermieter lag gleich neben dem Ankunftsterminal und kam mir verwirrend groß und unübersichtlich vor, aber Easy bahnte sich zielsicher ihren Weg zu einem Holzverschlag hinter der Europcar-Station, wo sie von einem jungen Griechen begrüßt wurde wie eine alte Freundin. Jassu, Küsschen, Küsschen, das ist Kat, das ist Kostas, kein Küsschen, aber ein freundlicher Handschlag für mich und eine eiskalte Flasche Wasser, die eilends aus einem Kühlfach geholt wurde. Ich fand etwas Schatten unter einem Dachvorsprung, während Easy und Kostas den Fuhrpark begutachteten, der, soweit ich das erkennen konnte, lediglich aus zwei Fahrzeugen einer mir unbekannten Marke bestand, einem roten und einem weißen, und anschließend die erforderlichen Formalitäten erledigten.
»Dein Führerschein, Kat. Damit Kostas dich als zweite Fahrerin eintragen kann.«
Ich hatte gerade die Flasche zum Trinken angesetzt und ließ sie wieder sinken. »Hab ich gar nicht dabei. Ich fahr nicht gern in fremden Gegenden. Ist das in Ordnung?«
Easy war deutlich anzusehen, dass sie nicht mit dieser Antwort gerechnet hatte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sehr es sie überrascht hätte, wenn ich bei der ganzen Wahrheit geblieben wäre: dass ich gar keinen Führerschein besaß. Auch nach all den Jahren schämte ich mich immer noch dafür, aber inzwischen log ich etwas entspannter. Immerhin war ich zu einer erträglichen Beifahrerin geworden, die unwillkürliche Bremsbewegungen unter Kontrolle hatte und Schreckenslaute mit Hustenanfällen kaschierte, die selbst in meinen Ohren etwas gekünstelt klangen, aber von den Fahrenden unkommentiert hingenommen wurden.
»Klar ist das in Ordnung, Kat«, sagte Easy. »Ich fahr sowieso am liebsten selbst.«
»Kali diaskedasi, omorfia mou«, sagte Kostas, als wir unser Gepäck verstaut hatten und in den roten Wagen eingestiegen waren, und warf einen kleinen Beutel durch das geöffnete Fenster, er landete in Easys Schoß, und sie lachte und steckte ihn in ihre Hosentasche. »Das heißt: Viel Spaß, meine Schöne«, sagte sie zu mir.
»Alles klar«, sagte ich.
Ich war nur ein einziges Mal in Griechenland gewesen, und das war auch schon viele Jahre her, aber ich hatte mir die Lieblosigkeit der Gewerbegebiete und Vorstädte gemerkt mit ihren Gebäuden, die entweder völlig heruntergekommen oder frei von Geschmack auf Luxus getrimmt waren, und schon damals hatte ich mich über die komplette Abwesenheit von Ästhetik gewundert in einem Land, das doch die Ästhetik erfunden hatte. Wir fuhren durch Gegenden, in denen sogar das Meer und der blaue Himmel hässlich aussahen, die Oleanderbüsche am Straßenrand trugen...
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