Schweitzer Fachinformationen
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Im Zwielicht kamen sie an den elenden Weilern Tadoussac, Kébec und Trois-Rivières vorbei, und kurz vor der Morgendämmerung legten sie bei einer gottverlassenen Siedlung am Ufer an. René Sel, drahtige schwarze Haare, schräggeschnittene Augen - yeux bridés, denn in alten Zeiten hatten einfallende Hunnen zu seinen Vorfahren gezählt -, hörte jemanden das Wort »Wobik« sagen. Moskitos bedeckten ihre Hände und Hälse wie ein Pelz. Ein Mann mit gelben Augenbrauen dirigierte sie zu einem Haus, dunkel vor Regen. Schlamm, Regen, Insektenstiche und der Geruch von Weiden war ihr erster Eindruck von La Nouvelle-France. Der zweite Eindruck war der eines riesigen dunklen Waldes, einer unwirtlichen Wildnis.
Die Neuankömmlinge, die im Regen darauf warteten, dass sie aufgerufen wurden, um ihre Zeichen in eine große Kladde einzutragen, sahen die Bauern unter dem Schutz einer Kiefer wie zu einem Klumpen zusammengedrängt stehen. Die Bauern starrten sie an und kommentierten sie untereinander.
Als René an die Reihe kam, setzte er nicht nur ein X auf das Blatt, sondern auch ein R - durch einen Tintenklecks der Feder verunstaltet -, denn diesen Buchstaben hatte er als Kind von dem alten Priester gelernt, der gesagt hatte, es sei der Anfangsbuchstabe seines Namens René. Aber der Priester war im Winter den Hungertod gestorben, bevor er ihm die weiteren Buchstaben hätte beibringen können.
Gelbaugenbraue betrachtete das R. »So, so, wir sind gebildet, wie?«, sagte er. Er bellte: »Monsieur Claude Trépagny!«, und Renés neuer Dienstherr, ein muskulöser Mann mit torkelndem Gang, winkte ihn zu sich. Er hielt einen Stock, als wäre es eine Keule. Regentropfen hingen in der Wolle seiner Strickmütze. Die dicken Brauen konnten das Glitzern seiner Augen nicht verschatten, deren Weiß so hell blitzte, dass man daraus fälschlich auf ein lebhaftes Gemüt schloss. »Wir müssen ein wenig warten«, sagte er zu René.
Der feuchte Himmel sackte herunter. Sie warteten. Gelbaugenbraue, der Statthalter, den Renés neuer Dienstherr Monsieur Bouchard nannte, bellte wieder: »Monsieur Trépagny!«, worauf diesmal eine vertraute Erscheinung vortrat, Charles Duquet, ein magerer engagé von dem Schiff, ein Schwächling aus den Pariser Elendsvierteln, der unterwegs meistens wie ein geknickter Zweig in einer Ecke gekauert hatte. Aha, dachte René, Monsieur Trépagny hatte sich zwei Bedienstete besorgt. Vielleicht war er wohlhabend, auch wenn sein durchnässter Drouguet-Mantel geflickt war.
Monsieur Trépagny stapfte auf dem schlammigen Weg einer Wand schwarzen Nebels entgegen. Sein Gehen war eher ein Voranschlingern auf seinen unterschiedlichen Beinen, das eine gelenkig, das andere steif. Er sagte: »Allons-y.« Sie tauchten in das düstere Land ein, einen dichten Hartholzwald, dazwischen immer wieder Kieferngruppen. René traute sich nicht zu fragen, welche Dienste von ihm erwartet wurden. Nach Jahren männlicher Arbeit des Holzfällens im Morvan wollte er kein Dienstbote werden.
Nach wenigen Stunden ging der durchweichte Laubmoder in Nadelwaldhumus über. Die Luft war zutiefst würzig. Kiefernnadeln säumten ihren Weg, und die verschlungenen Zweige schluckten ihr Keuchen. Hier wuchsen gewaltige Bäume, wie man sie in der alten Heimat seit Jahrhunderten nicht gesehen hatte, immergrüne Riesen, höher als Kathedralen, wolkenstechende Fichten und Hemlocktannen. Die gigantischen Laubbäume standen voneinander entfernt, aber ihre blattbeladenen Äste und Zweige verbanden sich oben zu einem Scheinhimmel, dunkel und ungezähmt. Sein älterer Bruder Achille hätte die Bäume in Nouvelle-France atemlos bestaunt. Spät am Tag kamen sie an einem Abhang voll weißschimmernder Baumstämme vorbei. Dies, sagte Monsieur Trépagny, seien bouleaux blancs, aus deren Rinde die sauvages Häuser und Boote fertigten. René glaubte ihm kein Wort.
Die großen Bäume erinnerten ihn wieder an seinen Bruder Achille, einen flotteur, der seine kurz bemessenen Lebensjahre damit zugebracht hatte, in die kalte Yonne zu springen und Baumstämme den Fluss hinunterzuführen. Er war kraftvoll gewesen, unbeeindruckt von der Kälte des Wassers, und hatte gearbeitet, bis ein Baumstamm mit einem gesplitterten Ast, den die Reibung auf seiner Reise zu einem Speer geschärft und poliert hatte, seine Blase durchstoßen und ihn wie einen Fleischbrocken an einem Spieß davongetragen hatte. René erbte die Unterwäsche, die wollene Hose und den kurzen Überrock seines Bruders. Er trug auch Achilles Holzschuhe, obwohl ein barfüßig geführtes Leben seinen Füßen Schwielen verliehen hatte, die es mit Rinderhufen aufnehmen konnten und gegen die Kälte in Frankreich abgehärtet waren. In dieser neuen Welt würde er eine andere Art von Kälte kennenlernen.
Die engagés, benebelt von der einschläfernden Wirkung des tiefen Waldes, stolperten über verzweigte Wurzeln. Sie wurden unablässig von bébites angegriffen, winzig und kaum sichtbar wie heiße Nadelspitzen, von Kriebelmücken, deren Biss nicht schmerzte, aber sein Gift langsam entfaltete, von Moskitoschwärmen solchen Ausmaßes, dass ihr schrilles Sirren wie der Ton des Waldes klang. An einem Sumpf sagte Monsieur Trépagny zu den beiden, sie sollten ihre entblößten Hautstellen mit Schlamm einschmieren, vor allem die Stellen hinter den Ohren und die Kopfhaut. Die Insekten krabbelten durch die Haare und machten sich über die Kopfhaut her. Deshalb, sagte Monsieur Trépagny, trage er in diesem fürchterlichen Land eine Zipfelmütze. René dachte insgeheim, ein Eisenhelm wäre die bessere Wahl. Monsieur Trépagny sagte, die sauvages machten aus Fichtennadelöl und Talg eine schützende Salbe, aber die besitze er nicht. Schlamm würde auch genügen. Sie wanderten weiter durch die dämmerigen Wälder, kletterten über bemooste Haufen und gingen unter Zweigen hindurch, die wie düstere Trauergestecke herabhingen. Die Beine der engagés, von der langen Seereise geschwächt, verkrampften sich vor Müdigkeit.
»Wie groß ist dieser Wald?«, fragte Duquet mit seiner jammernden, zittrigen Stimme. Er war kaum größer als ein Kind.
»Es ist der Wald der Welt. Er hat kein Ende. Er windet sich wie eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschluckt, und hat kein Ende und keinen Anfang. Niemand hat jemals gesehen, bis wohin er reicht.«
Monsieur Trépagny blieb stehen. Mit seinem Stock schlug er dürre Fichtenzweige vom Fuß eines Baums. Aus seinem Umhang förderte er eine Zunderbüchse zutage und entfachte damit ein kleines Feuer. Sie kauerten sich darum herum und streckten ihre blaugefrorenen Hände aus. Er entfaltete ein Tuch, das ein Stück getrocknetes Elchfleisch enthielt, und schnitt das Fleisch in Portionen. René, der in seinem Hunger nur Brot erhofft hatte, zerbiss und zerriss das Fleisch. Duquet spähte aus geschwollenen Augenschlitzen hervor, und weil er das Fleisch nicht kauen konnte, saugte er daran. Hinter Monsieur Trépagnys Großzügigkeit spürten sie Verachtung.
Sie wanderten weiter durch ein Chaos aus herumliegenden toten Bäumen, den Opfern eines großen Sturms, wobei Monsieur Trépagny keinem erkennbaren Weg folgte, sondern immer wieder nach oben sah. René begriff, dass er eingeritzten Zeichen an bestimmten Bäumen folgte, die sich in etwa zehn Fuß Höhe befanden. Später erfuhr er, dass jemand im Winter die Bäume markiert hatte, wobei er mit seinen Schneeschuhen wie ein gewichtloser Zauberer hoch über dem Erdboden unterwegs gewesen war.
Der Wald war durchbrochen wie die Spitzendecke eines Altars. Seine schwermütige Düsternis wich auf den Lichtungen. Unbekannte Pflanzen und merkwürdige Blüten fielen ihnen auf, Sitkafichten und Hemlocktannen, die hellen frischgewachsenen Auswüchse an den Spitzen der Kiefernzweige, silbrig flatternde Weiden, das Pfefferminzgrün junger Birken - an diesem Ort war sogar das Sonnenlicht grün. Als sie sich einer Lichtung näherten, hörten sie ein unregelmäßig klackendes Geräusch wie von klappernden Stöcken - graue Knochen, an einen Baum gebunden und vom Wind bewegt. Monsieur Trépagny sagte, die sauvages hängten oft die Gebeine eines getöteten Tiers auf, nachdem sie seinem Geist gedankt hatten. Er führte sie um Biberteiche, von schier undurchdringlichem Erlengestrüpp eingehegt, und sagte warnend, die schmalen Pfade seien Wege der Elche. Sie kamen durch Sumpfland. In den Senken stand teerfarbenes Regenwasser. Der quietschende Torf, von Kannenpflanzen durchsetzt, sog sich bei jedem Schritt an die Schuhe. Die jungen Männer hatten sich nie so ein wildes und nasses Land vorgestellt, so très boisé. Als ein Erlenzweig sich an Duquets Jacke verfing, fluchte er leise. Monsieur Trépagny hörte es und sagte, er dürfe niemals einen Baum verfluchen, schon gar nicht eine Erle, die medizinische Kräfte besitze. Sie tranken aus Flüssen, überquerten seichte Stromschnellen, geschwungen wie die Klingen von Damaszenerdolchen. Oh, wie lange noch, murmelte Duquet, eine Hand an sein Gesicht gedrückt.
Sie gelangten wieder in offenen Wald, wo es sich unter den Bäumen leichter ging. Sauvages verbrannten das Unterholz, sagte ihr neuer Dienstherr in tadelndem Ton. Am späten Nachmittag rief Monsieur Trépagny: »Porc-épic!« und warf unversehens seinen Stock. Der Stock drehte sich einmal und traf das Stachelschwein auf die Nase. Das Tier fiel wie eine Sternschnuppe mit einem Schweif von Blutstropfen. Monsieur Trépagny schichtete ein großes Feuer auf, und als die Flammen zu purpurnem Züngeln verglommen, hängte er...
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