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Paris
14. Mai 1924
Liebe Eltern,
gestern Abend besuchte ich einen Club in Montparnasse, in dem Männer sich wie Frauen kleiden und Frauen wie Männer. Papa hätte es sehr gefallen. Und Mamas Gesicht hätte sich zu diesem besonderen Lächeln verzogen, mit dem sie auf Papas Leidenschaft für alles Französische reagiert.
Das Etablissement nennt sich Chamäleon Club. Man muss von der Straße ein paar Stufen hinabsteigen, und man braucht ein Kennwort. Es lautet: Aufmachen, Polizei! Die Gäste finden das amüsant.
Eine Bar, eine Bühne, eine Tanzfläche, lederbezogene Bänke mit kleinen Tischen davor. Ein typischer Pariser Nachtclub, bis auf die Klientel. Aber das Überraschendste daran: Die Besitzerin ist Ungarin. Sie nennt sich Yvonne. Sie ist groß und blond, trägt Rot und hat eine Schwäche für Matrosen. Sie singt mit einer dieser rauchigen Stimmen, für die Papa schwärmt, verhalten und tränenerstickt. Als sie sang, hörte ich Papas Phonographen leise und gedämpft aus seinem Arbeitszimmer.
Yvonnes Lied handelte von einer Frau, deren Geliebter, ein Matrose, auf See ertrunken ist. Nie habe ich ein traurigeres Lied gehört, nicht mal von den Zigeunern. Yvonne sang mit geschlossenen Augen und fuhr sich dabei mit einer Hand durchs Haar. In der anderen, an die Stirn gedrückten Hand hielt sie eine unangezündete Zigarette.
Nie werde ich ihn wiedersehen, sang sie. Nie. Nie wieder. Vom verstimmten Klavier ertönte ein schwermütiges Arpeggio, während das Tenorsaxophon ihre Stimme umkreiste. Die anderen Musikerinnen senkten ihre Instrumente, lehnten sich zurück und sahen Yvonne zu. Es ist vorbei, sang sie. Alles vorbei.
Mir fuhr ein Frösteln in die Glieder, obwohl es im Club verraucht und heiß war. Ich tastete nach meiner Kamera, wie ich als Junge nach Euren Händen suchte, um mich daran festzuhalten. Aber ich hatte sie in meinem Hotelzimmer gelassen. Ich hoffte, ein wenig Anschluss zu finden, bevor ich darum bat, Fotos von Bankiers und Diplomaten machen zu dürfen, deren Frauen womöglich nichts davon wussten, dass ihre Gatten in Stöckelschuhen und Kleidern zum Tanzen gingen.
Selbst nach einem Jahr in Paris war es etwas gewöhnungsbedürftig. Am schwersten fiel mir, nicht zu starren. Oder wurde das Starren von mir erwartet? Diese Paradiesvögel zu fotografieren, wird eine Herausforderung sein, meint Ihr nicht?
Lediglich mit einem Lächeln - oder sagen wir, einem Lächeln in den Augen - versuchte ich, meine Bewunderung für die Eleganz der Frauen im Smoking kundzutun, die Frauen in Abendkleidern begleiteten. Als scherten sich diese prächtigen Pfauen auch nur einen Deut darum, was ein mittelloser ungarischer Künstler von ihrer Garderobe hielt! Selbst Papa gibt zu, dass die Franzosen schon immer gemischte Gefühle für jeden hegten, der nicht seit der Zeit der Neandertaler in Frankreich gelebt hat, wenngleich sie hier in Montparnasse alles Exotische mögen.
Als Yvonne die zweite Strophe beendete, hatten sich alle in sie verliebt. Ich ließ meiner Rührung freien Lauf und weinte wie alle anderen. Das Meer wusste, wo ihr Matrose war. Wir haben ihn gesehen, sagten die Wellen. Er schläft jetzt bei uns. Du wirst seine Lippen nie wieder küssen, seinen Körper nie wieder an deinem spüren.
Yvonne löste sich aus ihrem Lied, in das sie ganz versunken war, richtete sich auf und breitete die Arme aus. Das Publikum explodierte. Sie zündete die Zigarette an, stieß eine lange Rauchwolke aus und hieß die Menge in ihrem Zuhause willkommen, das sie als das ihre betrachten sollten, einen Ort, an dem sie so frei sein konnten, die Hosen runterzulassen, die Beine auszustrecken und sich zu amüsieren. Sie sagte auch noch anderes in dieser Manier und machte dazu ein paar Witze, die Mama in Verlegenheit gebracht hätten, wohingegen Papa den französischen Humor goutiert hätte.
Ich spürte, dass Yvonne uns dafür auslachte, so traurig zu sein, obgleich sie es war, die uns mit ihrem Lied über den Matrosen in diese Stimmung versetzt hatte. Das Publikum bestand hauptsächlich aus Stammgästen. Ich merkte, dass sie wussten, was nun kam.
Die berühmte Mädchenkapelle des Chamäleon stimmte eine Jazzfanfare an, und ein Dutzend Männer und Frauen in knappen Matrosenanzügen trippelte auf die Bühne. Welch bizarre Verrenkungen sie machten, Saltos und Rückbeugen, bis ihre Gesichter zwischen den Knien hervorschauten. Sie wanden sich über- und untereinander wie Schlangenmenschen, unterbrochen von flottem Salutieren und Parademärschen. Eine Riesin in der Uniform eines Marineoffiziers hob eine winzige, in einen orangefarbenen Kimono gekleidete Asiatin hoch, die wie Buddha in den gewölbten Händen der Riesin saß und eine munter plätschernde Melodie über erste Liebe und Kirschblüten sang.
Als die Revue zu Ende war, mischten sich die Tänzer unter uns und ließen ihre Matrosenmützen herumgehen. Tausendmal dachte ich an die Opfer, die Ihr für mich bringt. Aber habt Ihr mich nicht in der Überzeugung erzogen, jeder solle für seine Arbeit bezahlt werden? Ich warf ein paar Münzen in die Mütze einer Matrosin, die mir ein anzügliches Lächeln schenkte. Als sie sich umdrehte und mir über die Schulter zuzwinkerte, fragte ich mich, ob die Matrosin nicht vielleicht ein Matrose war.
Die Kapelle spielte Swingmelodien. Einige Paare begannen zu tanzen. Männer mit Männern, Frauen mit Frauen mit Monokel und Schnurrbart. Doch falls Ihr dabei etwas Anstößiges vor Augen habt, irrt Ihr Euch gewaltig. Sie benahmen sich so steif wie Kinder bei einem Schultanz. Yvonne lehnte an der Wand, sah zu und rauchte eine Zigarette.
Durch einen Blick verständigte sie sich mit dem Oberkellner, einer Frau in schwarzer Hose und Metzgerschürze: die dicke Bernard, die ebenfalls singt. Ohne dass Worte gewechselt wurden, strömten Bedienungen in den Raum. Bald rannten sie regelrecht mit klirrenden Tabletts voller Flaschen und Gläser hin und her. Die Matrosen und Matrosinnen packten mit an. Die Musik wurde lauter, die Gäste mussten brüllen, um sich verständlich zu machen.
Tänzer schoben sich auf die Tanzfläche. Ein Paar tanzte Tango, obwohl die Kapelle einen Foxtrott spielte. Sweeter than sweet, sang die dicke Bernard schmachtend mit schmalzigem Tenor. Verliebte küssten sich. Ein Streit brach aus, als ein Tänzer sich einen Brandy von einem Tablett nahm, das für einen anderen Tisch bestimmt war.
Ich machte mir den Trubel zunutze, um mich Yvonne zu nähern. Zum Reden war es zu laut. Mit Gesten tat ich so, als knipste ich ein Foto. Ich möchte Sie fotografieren!, brüllte ich. Zuerst konnte sie mich nicht verstehen, doch ihre Miene änderte sich, als ihr aufging, dass ich Ungarisch sprach.
Ihr wisst, wie sehr wir unsere Sprache lieben, wie diese asiatischen Vokale uns zu dem nach Puder duftenden Himmel zurückführen, in dem unsere Mama uns in den Schlaf sang. Bittet uns um irgendetwas in unserer Muttersprache, und wir werden Ja sagen. Yvonne starrte mich an und forderte mich dann auf, mir etwas für Mama Unaussprechliches anzutun.
Ihre Ablehnung war doppelt überraschend. Aus meinen Briefen müsst Ihr geschlossen haben, dass die Pariser sich nur allzu gern fotografieren lassen, vor allem die französischen Mädchen.
»Warum nicht?«, brüllte ich über die Musik. Meine Stimme quiekte wie die eines Jungen. Yvonne packte mich am Ellbogen und zog mich zu einer Tür, die sie mit einem an ihrem glitzernden Gürtel klirrenden Schlüssel öffnete.
Keine Bange. Ihr könnt weiterlesen. Ich schwöre, mein einziges Verlangen war, Yvonne und ihre Gäste zu fotografieren. Mir ging es nur um meine Kunst, die Basis Eures Glaubens an mich und Eure großzügige Unterstützung, die Studiengebühr, die Ihr für das zahlt, was Papa die Kunstakademie des Lebens nennt und die bald entscheiden wird, ob ich das Zeug zum Künstler habe.
Yvonne hatte recht damit, Nein zu sagen. Nie hätte ich gewagt, eine Frau wie sie so lange herumzukommandieren, wie ich benötigt hätte, um eine Aufnahme in einem »Büro« einzurichten, das eher an das Boudoir einer Kurtisane aus Papas Balzac-Romanen erinnerte. Die Kissen, die spitzenbesetzten Kleidungsstücke, achtlos auf das Kanapee geworfen, das Gewirr von Strümpfen und Sandalen verströmten den blumigen Duft von Yvonnes Gardenienparfüm.
Sie deutete auf einen Tisch, auf dem ein Terrarium stand. Die Glaswände waren beschlagen. Im Inneren gedieh ein Miniaturgarten samt winziger, in Form geschnittener Hecken und klassischer griechischer Statuen.
»Versailles!«, rief ich. »Was für ein Zufall! Erst letzte Woche habe ich dort fotografiert.«
»Sind Sie blind?«, fragte Yvonne.
Mama, Papa, Ihr wisst besser als jeder andere, was für ein visueller Mensch ich bin, wie ich vor jedem anderen Kind in unserer Stadt Farben benennen konnte, wie ich in Mamas Garten immer die Kartoffelkäfer fand und der Erste war, der Papa entdeckte, wenn er nach einem schweren Unterrichtstag heimgetrottet kam. Ihr werdet also verstehen, wie sehr es mich beschämte, so lange zu brauchen, um das grüne Chamäleon zu entdecken, das völlig reglos hinter der fingerhutgroßen Statue eines Cupido mit Pfeil und Bogen hockte.
Das ist der Grund, warum ich mich so heftig in diese Stadt verliebt habe! Trotz der Sorgen, trotz des schlechten Gewissens, Papas Pensionierung hinauszuzögern, trotz der geisttötenden Beschäftigungen macht es mich immer noch schwindlig vor Freude, das Wort Paris in meiner Handschrift am Kopf dieses Briefes zu lesen! Wo sonst kann man in einen Transvestiten-Nachtclub gehen und eine ungarische Chanteuse kennenlernen, die sich eine Echse im Stil Marie Antoinettes hält?
Yvonne nahm das...
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