Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Zunächst hatte Sie es ihm auf eine andere Weise sagen wollen. Sie saß vor dem Fernseher, so stellte sie sich das vor, und antwortete auf seine von der Küche aus gestellte Frage, ob sie etwas wolle: «Ja. Ich will von hier weg.» Er sollte derjenige sein, der nachfragte, oder besser noch, er sollte glauben, sie mache einen Witz, und lachend zusehen, wie sie ihre Sachen zusammenpackte, sollte die Tür hinter ihr unter Gelächter schließen und immer noch lachen, lang nachdem Sie seinem Blick entschwunden und in den Aufzug gestiegen war. Selbstverständlich war nichts davon möglich, aber in den vergangenen Wochen hatte sie sich in derartige Vorstellungen geflüchtet, all die Tage lang, an denen sie sich mit diesem Druck auf der Brust und dem Kloß im Hals und all den anderen Dingen herumschlug, die sie immer für Metaphern gehalten hatte und nicht für reale physische Erscheinungen, hervorgerufen von einem undeutlichen Wissen, das in dem einen oder anderen Moment zur Entscheidung reifen würde, das schon Entscheidung war und nur darauf wartete, dass Er davon erfuhr. Warum hatte Sie beschlossen, sich von ihm zu trennen? Einige Zeit später sollte eine Bekannte Statistiken anführen, die nach deren Meinung erklärten, was Sie entschieden hatte und warum sie es getan hatte. Sie aber würde solche Argumente zurückweisen, und das obwohl diese sich ihr gewissermaßen als Entschuldigung anboten, führten sie ihre Entscheidung doch auf ihr Alter, ihr Einkommen und ein gewisses Trägheitsmoment zurück, deutlichster Ausdruck davon, wie die Zeiten und die Dinge nun mal waren. Dennoch würde sie diese Argumente zurückweisen, da sie beschlossen hatte, ihre Verantwortung anzunehmen, ihre Entscheidung sollte aus dem gefolgt sein, was ihr widerfuhr, aus ihren Überzeugungen, was sie ja glaubte - auch aus ihren Wünschen, natürlich -, und nicht eine statistische Zwangsläufigkeit sein. Sie sollte, so dachte Sie, eine Folge dessen sein, was sie zum ersten Mal empfunden hatte, als das mit dem Vogel passierte.
An diesem Nachmittag vor zwei Tagen, als sie von der Arbeit heimkam, hatte er schon zwei Sessel vor dem größten Fenster der Wohnung bereitgestellt. Das machte er zuweilen, meistens zu Beginn des Sommers, um die Sonne zu genießen: Er mochte es, wenn sie ihn beim Lesen blendete und die Wärme sich über sein Gesicht breitete, bis hin zum Haaransatz, wenn sie ihn zudeckte, während sein Geist woanders war, als wäre die Sonne eine dieser Decken, unter die er sich als Kind zum Lesen verkroch, scheinbar allein in einer winzigen, aber ganz und gar eigenen Welt, zu der weder seine Eltern noch seine Brüder Zugang hatten. Ihr - die nicht so sehr wie Er die Sonne mochte, der er einen Sessel hinter den seinen zu stellen pflegte, damit ihre Beine im Sonnenlicht badeten, dieses aber nicht bis zu ihrem Gesicht gelangte, - kam es vor, als ob alle Entscheidungen, die Er traf, insbesondere die, Schriftsteller zu werden, die, lang bevor sie sich kennengelernt hatten, gefallen war, die Frucht oder die Verlängerung dieses kindlichen Wunsches nach Schutz und Abgeschiedenheit waren, eine Möglichkeit, weiterhin die Spiele der Kindheit zu spielen. Das hatte Sie ihm allerdings nie gesagt: Sie dachte, darauf angesprochen, hätte seine Antwort gelautet, dass alles, was wir in unserem Erwachsenenleben tun, eine Verlängerung oder eine Frucht dessen ist, was wir als Kinder waren. Einmal hatte Er zugelassen, dass sie ihn beim Schreiben beobachtete, und Sie war beeindruckt gewesen von diesem Ausdruck tiefster Konzentration, der sich auf seinem Gesicht einstellte, sobald er zu tippen begann. Mit einiger Regelmäßigkeit erhob er sich und holte eine Flasche Wasser aus der Küche oder ging zur Toilette. Gewöhnlich aber stand Er auf und setzte sich sogleich wieder, ohne zu wissen, warum er aufgestanden war und was er hatte holen wollen. Manchmal hob er auch den Kopf vom Bildschirm des Rechners, an dem er schrieb, und schaute um sich, als suche er etwas: Wenn dem so war, wenn er denn etwas suchte, so wusste Sie nicht, was es war; sie sah einfach nicht das, was er sah. Sie erfuhr nie, warum Er, nachdem er eine ganze Weile frenetisch getippt hatte, den Rechner schloss und das Experiment beendete. Vielleicht konnte Er nicht schreiben, wenn er sich beobachtet fühlte, dachte Sie. Wahrscheinlicher aber war, dass Er begriffen hatte, dass sie etwas beobachtet hatte, für das sie sich schämte, etwas, das Sie nicht mehr aus ihrem Gedächtnis tilgen konnte, jedes Mal, wenn er erzählte, dass er geschrieben hatte, oder jemand Sie nach seiner Arbeit fragte: ein kindliches Gesicht, das Gesicht eines kleinen Jungen, der die Lust, etwas zu erfinden und es die Leute glauben zu machen, allzu ernst nahm. Darüber hinaus gab es nichts anderes bei seiner Tätigkeit als Schriftsteller, dabei schrieb er, wie er das etwas pompös nannte, Nonfiction, was bedeutete, dass die Reichweite seiner Erfindungen eingeschränkt, ja kaum vorhanden war. Oder doch, es gab da auch dieses immer nur kurz währende Hochgefühl, wenn ein Buch beendet und erschienen war, und es gab die Reisen und den Überdruss, den er kurz darauf zu verspüren schien: Nach einer gewissen Zeit hatte er keinerlei Lust mehr darauf, dass jemand ihn auf seine Bücher ansprach, und wenn es denn einer tat, verfiel er in eine extreme Alarmbereitschaft, wie ein Tier, das sich zu lange an einer Wasserstelle aufgehalten hatte, einen Durst stillend, der ihm gar nicht bewusst gewesen war, und dem plötzlich klarwurde, dass es dabei seinen Hals den Raubtieren darbot.
Ein trockener, heißer Wind drang durch das Fenster und brachte die üblichen Geräusche des Viertels herein, Hupen, Gelächter, den Lärm der Hubschrauber, die vom Himmel aus Madrid überwachten und ihre ominösen Schatten auf Straßen und Gebäude warfen, seitdem jemand vor ein paar Jahren einen Anschlag verübt hatte. Sie lebten fern von den Krankenhäusern, aber zuweilen hörte man die Sirene eines Krankenwagens, der versuchte, gegen den Widerstand der anderen Autofahrer anzukommen, den der Touristen - die sich in Scharen durch die Innenstadt schoben, seitdem die Orte, wo sie die Ferien zu verbringen pflegten, zu teuer oder allzu gefährlich geworden waren - und der Fahrradboten, die sich wie Heuschrecken voranbewegten und eine Geruchsschleppe von Schweiß, Frustration, Pizzas oder dem, was die Leute sonst noch im Internet bestellten, hinter sich ließen. In wenigen Minuten würde die Sonne untergehen, und sie beide müssten sich eine andere Beschäftigung suchen oder woanders weiterlesen, vielleicht im Schlafzimmer, da aber kreuzte ein Schatten durchs Fenster und prallte gegen die gegenüberliegende Wand des Raums, flatterte nervös. Er stand auf, ihr fiel das Buch aus den Händen: Der Eindringling fand den Ausgang nicht mehr. Es war kein großer Vogel, sie konnte die Spezies nicht erkennen, und später sollte Sie sich nur daran erinnern, dass das Gefieder hell, von unbestimmter Farbe war, wie ein süßes Hefeteilchen, von Staubzucker bedeckt - aber er stieß ein schrilles, angstvolles Kreischen aus, während er gegen die Wände des Wohnzimmers prallte, kleine Federn verlor und Gegenstände zerschlug. Einmal landete er in der Küchenspüle und blieb dort einen Augenblick. Vielleicht, weil er auf der metallischen Oberfläche ausrutschte oder weil er sich im Becken sicher fühlte, sie wusste es nicht, doch ihm blieb nicht genug Zeit, sich dem Vogel zu nähern. Sogleich nahm der den Flug wieder auf, prallte an eine Lampe und dann an das Bücherregal. Sie hoffte, dass das Angebot des offenen Fensters eindeutig war und ihm erlauben würde, das Wohnzimmer zu verlassen, doch der Vogel schien für das Licht blind geworden zu sein. In seiner Verzweiflung lag etwas Gewalttätiges, ebenso Stolz und Kraft; ein Herz, das mit kleinen Schlägen hämmerte und bereit war, alles zu zerstören. Man müsse etwas tun, dachte Sie, doch Er bewegte sich nicht von der Stelle, und sie war gelähmt: Hätte sie sprechen können, hätte Sie nicht gemeint, dies in einer fremden, ihr unbekannten Sprache tun zu müssen, sie hätte ihn darauf hingewiesen, dass er den Weg nach draußen blockierte und der Vogel nie zum Fenster fliegen würde, solange er davorstand und ihm den Weg versperrte. Doch Sie sagte nichts, und Er kam nicht darauf, sich wegzubewegen, bis der Vogel zum letzten Mal gegen eine der Wände stieß und zu Boden fiel. Alles war in einer Zeitspanne geschehen, die ihr jedes Mal, wenn Sie sich daran erinnerte, überaus lang erschien, die tatsächlich aber kurz gewesen war, unbedeutend im Vergleich zu der Zeit, die sie beide zusammen waren, und dennoch entscheidend. Als er den ersten Schritt auf den Vogel zutat, der tot am Fuß der Bibliothek neben einer Steckdose lag, spürte sie überdeutlich das Gewicht von all dem, was sie in den vergangenen Monaten empfunden hatte, ein Bündel von Unsicherheiten, die sich langsam angesammelt hatten und ihre Gedanken, wenn sie in der Wohnung war, erfüllten, wenn sie daran dachte, dass alles unweigerlich so weitergehen würde, wie es war, ungeachtet dessen, wie gut es war, wenn man es objektiv beurteilte, dass das, was sie fühlte und was sie zuweilen lähmte, etwa wenn sie beide nach dem Abendessen das Geschirr spülten oder in dieser Art von Privatsprache redeten, die sie gemeinsam erschaffen hatten, in der es nicht einmal mehr nötig war zu sprechen, da die Weise, wie sie lebten, und die Art, wie sie sich einander angepasst hatten, jede verbale Auseinandersetzung ausschlossen, jede Ahnung von einem Gespräch, das nicht durch und durch zivilisiert und in etwa vorhersehbar gewesen wäre - außer bei einem Thema, von dem sie nicht einmal...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.