Die Eierfahrt
Es wollte nicht mehr weiter. Das mit vollen Eierpackungen schwer beladene Mini-Auto war außerstande, den Bahndamm hochzukommen. Vor Kurzem hatten sie beide den bescheidenen "Trockenrasierer" mit Eiern vollgepackt, um sie zu einer Reihe von Kaufhäusern zu bringen. Damit verdienten sich die Studenten Paul Grün und Helmut May in den sechziger Jahren ihr Studium. Sie transportierten mit Pauls Autochen Eier von einer Hühnerfarm zu den verschiedensten Kaufläden.
Das altersschwache Vehikel ächzte und stöhnte aus allen Radnaben, Ventilen und Roststellen.
Heute hatten sie ihm besonders viele Eier zugemutet. Es sollte vor dem Wintersemester vorerst die letzte große Fahrt sein.
"Sag mal, Paul, der schafft noch nicht mal den Bahndamm."
"Ja, ich weiß auch nicht, was er hat. Er rollt immer mühsamer."
"Nun, er ist nicht mehr der Jüngste."
"Aber so viel Mumm müsste er ja noch im Leib haben."
"Müsste er!"
"Na ja, er scheint nicht mehr zu wollen."
"Oder zu können."
"Vielleicht machen wir noch mal einen Anlauf."
Paul schaltete den Rückwärtsgang ein und fuhr den Bahndamm wieder rückwärts hinunter und noch ein gutes Stück ebenen Wegs dazu. Dann wählte er den ersten Gang, gab möglichst viel Gas und versuchte, sein Gefährt so gründlich wie möglich in Schwung zu bringen. Der Kleinwagen setzte sich langsam und bescheiden in Bewegung. So gut es ging, lief er immer rascher. Seine Geschwindigkeit verlor sich mit zunehmender Anhöhe. Das Wägelchen kam zwar weiter als beim ersten Mal, doch erreichte es immer noch nicht die Höhe des Bahndamms. Also ließ Paul seinen Eierkarren abermals zurückrollen, nur wieder einige hundert Meter weiter, um noch mehr in Fahrt zu kommen. Schließlich brachte dieser Anlauf das Gefährt bis auf zwei Meter an die Krone des Bahndamms heran, aber eben doch nicht über diesen hinweg. Da Paul durch wiederholte Anläufe kaum eine Chance sah, die etlichen Eiertausende in die Kaufläden zu verfrachten, verfiel er auf die seltene Idee, mit Muskelkraft dem Eierfahrzeug voran zu helfen.
"Helmut, da hilft alles nichts. Wir müssen mit Bizeps und Schulterkraft unser Vehikel voranbringen. Also lass rauschen!"
Beide stiegen daraufhin aus der hochbeladenen Streichholzschachtel aus und versuchten, sie vorwärts zu schieben.
Sie legten ihre Schulterkerben in die Türrahmen des Eiervehikels, wobei Paul zugleich das Lenkrad hielt, um die Eier auf den rechten Weg zu bringen. Die Last des Miniwagens samt Eiern ließ sich nur äußerst mühsam weiterbewegen. Zentimeter um Zentimeter schoben beide das Auto nach oben.
Endlich ließ sich das Vehikel etwas leichter nach vorn schieben: Das schwer beladene Mini-Auto war auf der Höhe des Bahndamms angelangt, blieb aber dann steif wie ein Bock stehen.
"Na, jetzt haben wir's geschafft", meinte Paul.
"Klar, ab jetzt geht es bergab", erwiderte Helmut.
"Also lass uns einsteigen und losbrausen."
"Brausen ist gut; sieh zu, dass der Karren von den Schienen verschwindet!"
Dies war eine gute Idee. Denn der Kleinwagen stand auf den Gleisen, über die in einigen Minuten nach Plan der D-Zug hinwegjagen sollte.
Paul und Helmut - unbelastet von diesen Problemen - nahmen seelenruhig in ihrem Eierauto Platz. Paul startete und brachte das Gefährt kaum in Gang. Schließlich heulte es auf, ließ sich aber kaum vom Fleck weg bewegen.
"Was ist das denn für ein Quatsch? Das miserable Auto bewegt sich kaum einen Zentimeter."
Dies war kein Wunder. Die Antriebsräder kamen nämlich nicht über die hohen Schienen hinweg.
"Los! Das Luder ist kaum von der Stelle zu bewegen. Also müssen wir es voranbringen."
Paul und Helmut versuchten zu schieben. Paul, der auf die Motorkraft setzte, die Kraft des Vehikels aber überschätzte, suchte mit allen Mitteln, das Fahrzeug samt Eierladung flott zu bekommen. Dies blieb jedoch erfolglos. Das Autochen blieb steif und fest auf dem Bahndamm stehen. Es gelang zwar, das Fahrzeug zu starten, doch jedes Mal, wenn Paul die Kupplung kommen ließ, gab es einen kurzen Ruck, und der Motor war wieder stumm.
"Also los, Paul, wir müssen schieben!"
Beide 'Spediteure' stiegen aus und versuchten, abermals mit Muskelkraft das Auto über den Bahndamm hinweg zu bringen. Es verharrte aber steif auf dem Schienenstrang.
"Paul, starte noch mal, ich versuche zu schieben", ermunterte Helmut.
Gesagt, getan. Paul ließ den Motor abermals aufheulen, während Helmut sich ins Zeug legte. Das Autochen ruckelte, blieb dann aber stehen. Der Motor war wieder aus.
Da hörte Helmut von der Ferne ein schrilles Pfeifsignal, schaute in die betreffende Richtung und blieb für einen Schreckmoment schockiert und reglos stehen: In wenigen hundert Metern Entfernung jagte der D-Zug heran. Doch dann hechtete er zur Fahrertür, riss sie auf und zerrte Paul wie ein Irrer vom Fahrersitz. Paul, wieder mit dem Starten beschäftigt, wusste nicht, wie ihm geschah.
Für lange Erklärungen hatte Helmut keine Zeit. Er schleifte Paul förmlich von den Schienen weg und den Bahndamm hinunter.
Der Lokführer gab mehrmals Signal. Als er sah, dass das Gefährt auf den Schienen reglos verharrte, betätigte er die Schnellbremse. Bei der geringen Entfernung nutzte allerdings nichts mehr. Den Lokführer erfasste lähmendes Entsetzen. Keine Bremse konnte hier noch helfen. Da gab es auch schon einen Ruck, und er sah nichts mehr: Die Fensterscheiben der Lokomotive hatten einen gelben Belag.
Wie angewurzelt verharrten Paul und Helmut am Bahndamm und blickten voller Grausen auf ihr Eierauto und den sich rasend verringernden Abstand des D-Zugs. Da krachte es auch schon: Der Zug jagte durch das Autochen, als sei es eine Zigarrenkiste. Dabei wirbelten Räder, Türen und Blechteile durch die Luft und vor allem die zerdepperten Eier.
Lokomotive und Vorderwagen sahen aus wie Kuchenbleche mit Rührei. Der Überweg schien gelb gepflastert zu sein, der Schotter hatte einen gelben Überzug und das Gras rundum einen Stich ins Gelbliche.
Überall wabbelte es von Eiweiß mit geplatzten Dottern und Eierschalen.
"Unser schönes Auto", fing sich als Erster wieder Helmut.
"Und all die Eier!", meinte Paul.
"Aber immer noch besser, als wenn wir mit durch die Luft geflogen wären!"
"Du hast recht. Ich danke Dir übrigens. Ohne Dich hätte ich mit dran glauben müssen."
"Schon gut. - Was geschieht aber jetzt?"
Das sollten sie bald erfahren.
Der Zug verlangsamte sein Tempo und kam zum Stehen. In kürzester Zeit war der Zugführer in der Lok, ließ sich kurz informieren und stieg aus, um nachzusehen, was passiert war. Der Lokführer, der in der Lokomotive bleiben musste, kurbelte ein Seitenfenster so weit wie möglich herunter und versuchte, von hier aus in Erfahrung zu bringen, was geschehen war.
Inzwischen ging der Zugführer auf die beiden am Bahndamm stehenden jungen Männer zu.
"Haben Sie gesehen, was passiert ist? - Vor allem: Haben Menschen in dem Auto gesessen?"
"Die Menschen sind wir. Uns ist gottlob nichts passiert", antwortete Helmut. "Unser Auto kam nicht mehr weiter. Wir hatten Eier geladen."
"Das habe ich mir schon gedacht. - Kommen Sie mal bitte mit in mein Abteil. Wir müssen eine Niederschrift anfertigen."
"A moment, please!" ließ sich plötzlich ein Amerikaner vernehmen. "That's a brilliant story - das ist eine brillante Geschichte. Ich muss alles wissen. Haben Sie gesehen, was passiert ist?", wandte er sich an Paul und Helmut. "Wonderful. Eine prima Story. Nicht weggehen. Ich mache alles publik. Bitte, mir alles sagen."
Der Amerikaner war mit einigen neugierigen Zugreisenden ausgestiegen und auf die Gruppe mit dem Zugführer zugeeilt.
Zu irgendeinem Zugwagen rief er einige Worte in Englisch und hängte sich hartnäckig an Paul und Helmut. Er war auch vom Zugführer nur mühsam abzuwimmeln.
Dieser gab nun beiden Nachbarbahnhöfen durch, was geschehen war, damit weitere Züge gestoppt würden. Zugleich bestellte er die Bahnpolizei und eine Putzkolonne herbei.
Paul und Helmut gaben nun zu Protokoll, was sich bis zum Zusammenstoß zugetragen hatte, während der Amerikaner vor dem Abteil lauerte.
Unterdessen jagte ein Fotograf rund um Zug und Wagentrümmer und fotografierte Auto- und Eierreste samt der gelb bekleckerten Lokomotive. Der Amerikaner, sein Chef, hatte ihm dazu den Auftrag erteilt.
Inzwischen trafen zwei Bahnpolizisten ein, sichteten das schon vorbereitete Protokoll, stellten noch einige Zusatzfragen und sicherten vor allem die Personalien.
Kaum waren Paul und Helmut entlassen, als sich auch schon der Amerikaner erneut auf sie stürzte:
"Hallo! Ich muss alles wissen, möchte alles drucken, - in meinen...