Schweitzer Fachinformationen
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30. November
Schneit es am Andreastag, verstummt der Nachtigallen Schlag.
Mütter, überall Mütter. Tamara schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit, aber wegsehen konnte sie auch nicht. Mütter waren eine Tag für Tag allgegenwärtige Bevölkerungsgruppe von Prag. Eine Bevölkerungsgruppe, zu der sie nie gehört hatte und auch nie mehr . Sie konnte den Gedanken noch rechtzeitig packen und ihm das Bittere nehmen. Bei der letzten Beichte hatte Pater Daniel ihr geraten, wie sie mit diesem Gefühl umgehen sollte: es als ihren natürlichen Begleiter durch die Veränderung akzeptieren.
"Stehn Sie hier an?", fragte sie ein älterer Mann mit einem ausgefüllten Tippschein in der Hand.
"Nein, Verzeihung." Sie trat zur Seite, um ihm Platz zu machen, und ließ den Blick zur Kasse wandern. Andrej zahlte bereits. Er kippte sein Portemonnaie auf dem Tresen aus, unbeholfen zählte er die Münzen. Noch im Sommer hatte Tamara ihm beim Bezahlen geholfen, aber er war jetzt im nächsten Reha-Stadium, in dem das Einüben von Selbstständigkeit gefördert werden musste.
"Sie haben mir erst zwanzig Kronen gegeben." Die Stimme des Kassierers verriet seine schlecht im Zaum gehaltene Ungeduld. "Noch hundert."
Andrej erwiderte etwas, war aber nicht zu verstehen. Er suchte Tamara mit Blicken. Schnell wandte sie sich den Zeitschriften auf dem Ständer zu, damit er nicht merkte, dass sie ihn beobachtete. "Permanente Kontrolle ist nicht gut. Lassen Sie es zu, dass er Fehler macht, bewachen Sie ihn nicht andauernd", hatte sie der Psychotherapeut, bei dem Andrej in Behandlung war, ermahnt. "Ihr Mitleid schwächt ihn. Klar können Sie Ihren Mann bedauern, aber zeigen Sie 's ihm nicht." Sie gab sich Mühe, aber nicht immer mit Erfolg.
"Er sagt, mir fehlen hundert Kronen." Andrej stand mit dem offenen Portemonnaie neben ihr.
"Gib ihm den Zweihunderter", riet sie ihm.
"Welchen Zweihunderter?"
Tamara nahm ihm die Geldbörse aus der Hand und sah alle Fächer durch. In einer Falte im Münzfach hatte sich eine Krone versteckt. Sonst nichts. Der Schein war nicht da. Das überraschte sie.
"Wollen Sie nun tippen oder nicht?", hörte sie die inzwischen unverhohlen gereizte Stimme des Kassierers. Sie griff in ihr eigenes Portemonnaie, suchte einen Hunderter heraus und gab ihn Andrej. Während er zum Tresen zurückging, um fertig zu bezahlen, durchsuchte sie seine Geldbörse noch einmal. Die Banknote, die sie vorgestern hineingesteckt hatte, war weg. Tamara überprüfte den Druckknopf zum Zumachen. Er war ein wenig widerspenstig, man musste schon ordentlich drücken. Andrej hatte das Geld höchstwahrscheinlich verloren. Seine Kraft beim Greifen und die Feinmotorik der Finger waren nach wie vor schwach. Tag für Tag übte er aber, und Doubravka behauptete, dass sich die Handfunktionen besserten und mehr oder weniger wieder zum Normalzustand zurückkehren könnten. Tamara glaubte ihr. Doubravka war eine ausgezeichnete Physiotherapeutin und Osteopathin, sie verstand es, zu motivieren. Ohne sie wäre Andrej niemals so gut vorangekommen.
Auch heute, drei Jahre nach dem Unfall, machte er Fortschritte. Bei der Reha absolvierte er sein Trainingsprogramm jetzt zum Teil eigenständig und Tamara ging wieder halbtags arbeiten. "Wann kommst du zurück?", fragte er sie jeden Morgen, wenn sie aufbrach, und sie stellte ihm die Rückkehrzeit auf einer Kinderuhr aus Pappe ein. In ihrer Abwesenheit verglich er die mit der Küchenuhr, und sobald Tamara auch nur fünf Minuten zu spät dran war, rief er sie an. Wenn Anh bei ihm war (die war zwar leicht durchgeknallt, aber schon ein halbes Jahr seine Assistentin, sodass er sich an sie gewöhnt hatte, sogar ein bisschen zu sehr), vermisste er seine Frau nicht, völliges Alleinsein ertrug er jedoch nur schwer. So konnte er durchaus mitten am Vormittag anrufen. "Die Zeit vergeht so langsam", klagte er ihr dann sein Leid, in der Stimme ein unterdrücktes Weinen. "Kannst du nicht kommen?" Er benahm sich nicht wie ein fünfundvierzigjähriger Mann, sondern wie ein Vorschulkind. "Ich bin gleich da", versprach sie jedes Mal, ließ alles stehen und liegen und fuhr nach Hause. Der Gesichtsausdruck, mit dem er ihr die Tür aufmachte, war allen Ärger wert, den sie sich mit ihrer mangelnden Arbeitsdisziplin einhandelte.
"Er hat mir nichts rausgegeben." Wieder stand Andrej neben ihr, er flüsterte, über die Schulter blickte er zum Tresen, wo der Kassierer inzwischen den nächsten Kunden bediente.
"Du hast ihm hundertzwanzig Kronen gegeben."
"Und das ist richtig?"
Sein Gesicht verriet die Unsicherheit. Tamara hatte sich längst daran gewöhnt. Andrejs Vor-Unfall-Gesicht geriet ihr allmählich in Vergessenheit. Wenn sie manchmal das Hochzeitsfoto ansah, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass neben ihr auf dem Standesamt ein Fremder stand. Ein attraktiver Mann mit intelligenter Stirn und selbstbewusstem Blick, die Linie des Mundes zu einem Lächeln gekräuselt und dennoch voller Entschlossenheit. Gerade die Entschlossenheit, das Selbstbewusstsein und die Intelligenz waren die Eigenschaften, aufgrund derer sie sich für Andrej entschieden hatte. Ihr hatte gefallen, wie er sich durchsetzen konnte und mit welcher Selbstverständlichkeit er Verantwortung übernahm. Ein geborener Anführer. Die Überlegenheit, die er gegenüber seinem Umfeld empfand, kompensierte er mit Humor - leicht sarkastisch, aber nicht bösartig. Er hatte gern gelacht und in seinem Lachen hatte Kraft gelegen. Damals. Wer ihn heute sah, konnte kaum glauben, dass das ein und dieselbe Person war. Der unvorhersehbare Plan Gottes und ein unvorhersehbarer Defekt an einem hydraulischen Kran hatten aus ihm einen anderen Menschen gemacht.
"Vorgestern hast du zweihundert Kronen ins Portemonnaie gesteckt. Das ist ganz schön viel Geld." Sie kam wieder auf die verlorene Banknote zurück, während sie den Zeitungsladen verließen und zum Ausgang der Passage gingen.
"Wie haben die da reingepasst?", fragte er voller Verwunderung.
"Das war nur ein Geldschein."
"Wie, nur einer ." Verständnislos schaute er sie an.
"Andrej, Geldscheine gibt es verschiedene, wir haben sie uns angeschaut, erinnerst du dich? Der, den ich meine, war orange mit dem Bild von einem Mann mit Bart. Und hatte einen Wert von zweihundert Kronen", erklärte sie geduldig, aber mit einem Gefühl der Vergeblichkeit. Der eigenständige Umgang mit Finanzen stand ganz offensichtlich noch nicht auf der Tagesordnung.
"Wenn wir x Millionen gewinnen, dann kommt es auf einen Bartmann mehr oder weniger auch nicht an", verkündete er und entlockte Tamara mit seinem fidelen Tonfall ein Lächeln. Sie gab es auf, eine Erklärung für den Verlust des Scheins zu suchen.
"Wofür wollen wir denn die Millionen ausgeben?", fragte sie.
"Wir fahren ein ganzes Jahr ans Meer", antwortete er, ohne zu zögern. "Wo 's die großen Wellen gibt."
Wenn sie Gewinnklasse 4 oder 3 hätten, könnten sie sich tatsächlich einen Traum erfüllen, zum Beispiel häufigere Aufenthalte am Meer. "Wo dein größter Schatz ist, dort wird auch dein Herz sein", antwortete Pater Daniel, als Tamara ihn fragte, was er vom Glücksspiel hielt. Sie verstand. Den Menschen beeinflusste am meisten, worauf er in Gedanken am meisten fixiert war. Weder ihr noch Andrejs Geist waren auf den Gewinn fixiert. Der Eurojackpot war für sie bloß ein Spaß. Sie widmeten ihm ihre Aufmerksamkeit für ein paar Minuten pro Woche, nie füllten sie mehr als zwei Tippfelder aus.
"Schau mal!" Sie blieb vor einem Blumenladen stehen und machte eine Kopfbewegung in Richtung einer mit Kreide beschriebenen Schiefertafel. "Wer hat denn heute Namenstag?"
Er musterte die Tafel intensiv. Nach dem Unfall hatte er alles von der Pike auf neu gelernt: essen, gehen, sprechen. Später auch lesen und schreiben. Die Wege, über die die Worte früher geströmt waren, gab es nicht mehr, das Gehirn musste neue finden. Die Ärzte hatten Tamara erklärt, dass die Schädigungen der linken Gehirnhälfte ein erhebliches Ausmaß hätten, einiges werde dauerhaft verloren bleiben. Außer zu Verlusten könne es aber auch zu Entdeckungen kommen. Und damit hatten sie recht behalten. Der Komplex des Ingenieurwissens war zerbröselt, Andrej hatte sich von seinen mathematischen Fähigkeiten verabschieden müssen, und nur mühsam konnte er sein verbales Denken wieder in Gang bringen, gleichzeitig war er aber empfänglicher geworden für optische Reize und sein Gehör war schärfer. Er reagierte jetzt sensibler auf Musik, auf bildende Kunst und auf die Stimmungen anderer Menschen. Die rechte Gehirnhälfte hatte die Führung übernommen.
"A-n-dre-as", las er langsam den ersten Namen auf der Tafel. "An-dré . An-drej!" Ein Aufblitzen des Begreifens heiterte seine Miene auf. "Ich! Ich hab Namenstag!"
Am Morgen hatte Tamara ihm gleich nach dem Wachwerden gratuliert und beim Frühstück hatten sie alles gründlich besprochen. Sie wollten seinen Namenstag mit Doubravka feiern, die im Laufe der dreijährigen Reha von der bloßen Therapeutin zu einer guten Freundin geworden war. Fast zu einem Familienmitglied. Kein wichtiges Ereignis kam ohne sie aus. Andrej hatte sich auf die Feier gefreut, aber über den Tag hinweg war ihm alles wieder entfallen. Wie immer.
"Doubravka hat eine Überraschung für dich", erinnerte sie ihn.
"Doubravka ist echt super", sagte er. "Super" war zu einem festen Bestandteil seines neuen, mühsam erarbeiteten Wortschatzes...
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