MONTANA
KATHARINA SPRINGER
Preis der Fachjury
Der Fluss spricht. Nicht mit Worten, aber er murmelt, gluckst, faucht, rumpelt oder quietscht. Manchmal zwitschert er, flüstert, rülpst und grollt. Er antwortet und er plaudert mit Gottfried seit über sechzig Jahren, fast schon sein ganzes Leben lang. Heute Morgen ist das Wasser friedlich, es riecht nach trockenem Moos, bloß ein wenig Holz- und Laubdüfte mischen sich dazu. Der perfekte Tag für die Forelle, der rechte Zeitpunkt für einen Nymphenköder, nichts Auffälliges. Die Sonne scheint noch tief unter dem Bergkamm zu ruhen. Gestern Nacht hat kein Regen die Strömung aufgepeitscht und die warmen Frühlingswinde haben den Schnee schon längst vom Glockner und dem Reißeck ins Tal verflüssigt.
Früher fand das Wasser alleine seinen Weg durch Gneis und Schiefer, bis hinab zur Möll. Dann wurde der Bach manchmal zur reißenden Bestie und nahm in den nächtlichen Unwettern schwarze Erde, Geröll und Bäume mit sich fort ins Tal. Das fräste tiefe Furchen in die Steilwände, die später ausgetrocknet lose Steine und skelettierte Baumstümpfe zurückließen. Bis man die Möll über Jahre zähmte und die Kraft des Wassers in Rohren ins Tal presste. Gottfried war so ein Bezähmer. Er wartete in festen Schuhen und mit seinem Helm am Kopf täglich die mächtigen, glänzenden Rohre rechts und links der Möll hinauf, um die Gewalt des Wassers in eine andere zu verwandeln: Den Strom, der so unendlich viel vermochte, aber auch enorm viel zerstörte. Das alles kam ihm nun so weit weg vor.
Damals konnte er die Tage noch ordnen und jeder Tag hatte genug Stunden, um sie mit Arbeit, Familie und dem Fischen zu füllen. Wie viele Stunden er in Wathosen und Stiefeln verbracht und wie viele Fische er in seinem Leben wohl gefangen hatte? Nicht einmal mehr schätzen konnte das Gottfried. Vom Danielsberg flussauf- und -abwärts zog ihn die Strömung, betonierte ihn für Stunden fest im Kies des Bachbettes. Manchmal aber flog er über die Steine hinweg, tänzelte behände und ließ die Rute kreisen, dirigierte über Mückenschwärme hinweg eine Melodie der Freiheit, weit weg vom Alltag. Abseits der Turbinen, die so laut liefen, dass es viele Nächte in seinen Ohren rauschte, während er, ohne tiefen Schlaf zu finden, träumte.
Man legte ihm nach vielen Dienstjahren nahe, in den Ruhestand zu treten und Platz zu machen für die Jungen. Er verstand sie nicht mehr und sie verstanden ihn nicht. Konnten auch nicht verstehen, was es hieß, dieses gewaltige Bauwerk zu errichten. Sie wussten nichts mehr von den unmenschlich harten Bedingungen auf der Baustelle, von der Kälte und dem Wind, der Hitze und den Sturmfluten. Sie fühlten in ihren klimatisierten Schaltzentralen nicht mehr den Staub, der nach der Sprengung in jede Körperöffnung kroch. Sie verniedlichten die Gefahren dort oben. Die Jungen waren nicht dabei, als er seinem Vater den Rucksack quer über die steilen Hänge hinauftrug. Manchmal musste er sich entlang der neuen Leitung hanteln, um nicht abzurutschen. Im Gepäck stets den Schnaps für den Vater.
Als Zugezogene hatten sie es nicht leicht und es dauerte lange, bis Gottfried Freundschaften schloss. Nicht nur wegen seiner roten Haare, auch wegen seiner seltsamen Sprache. "So nach der Schreibe", nannte das die kleine Frau im Milchgeschäft ums Eck. "Sind wohl etwas Besseres!" Tatsächlich waren sie nicht besser, nur etwas gebildeter und aus Wien. Der ehemalige Gestapo-Mann Hofer war 1951 zur Zwangsarbeit auf die Baustelle Reißeck hinaufgebracht worden. Dass er Frau und Kind derweil mitnahm und unten im Dorf einquartierte, war recht ungewöhnlich, aber auf die beiden wartete in der alten Heimat nichts mehr, außer die Ausgrenzung und ein völlig zerbombtes Mietshaus. Der alte Hofer brauchte seinen Schnaps, um die dunkle Vergangenheit mit dem Staub aus der Tiefe des Berges hinunterzuspülen und um sich Freunde zu machen. Gottfried schafft das ohne Geschenke. Doch sein erster Freund war der Fluss.
Gleich nach der Ankunft mit dem Postbus stieg er aus und wurde wie magnetisch angezogen vom Ufer der Möll. Der Anblick der leicht verfärbten Bäume, die über dem Geröll wankend im Tauernwind tanzten, beherrschte den kleinen Buben aus der Stadt augenblicklich. Schon lange und von fern hörte er das Rauschen, bevor er sich schließlich seinen Weg durch die Büsche bis zum breiten Flussbett schlug. Dieses erste Zwiegespräch des kleinen Rotschopfs mit der friedlich schimmernden Schönheit wird er nie vergessen. Auch nicht diesen ersten gelben Stein, abgeschliffen, oval und warm, den er hochhob und in einem weiten Bogen warf. Er prallte an einem Felsen ab und plumpste in eine kleine Seitenströmung. Der Stein scheuchte einen Fisch hoch, der kurz emporhechtete, um dann lautlos abzutauchen. Der einsame Bub zog die zerschlissenen Sandalen aus und stellte die Füße ins klare, eiskalte Wasser. So lange, bis die Füße taub wurden und prickelten, so lange, bis winzige Bläschen am Fußrist festsaßen, und so lange, bis ein Flusskrebs einen vorsichtigen Blick auf den Eindringling wagte. Er lauschte dem Fluss aufmerksam und lange. Nichts störte ihn, nichts konnte ihn ablenken. Gottfrieds Liebe zu diesem Fluss war grenzenlos, noch nie hatte er solche Freiheit empfunden. Er atmete tief ein. Es gab so viel Luft! So sauber! Wie viele Nächte hatte er in stickigen Luftschutzbunkern verbracht, die nach Schweiß und Angst, nach Urin und Ratten stanken? Wie viele Tage hatte ihm der nasse Moder an den Wänden des zerbombten Hauses den Appetit verdorben? Wie viele Nachmittage stand er am zugigen Fenster und wartete auf die Rückkehr des Vaters? Gottfried wollte nie wieder zurück und er musste das auch nicht. Sein Vater verunfallte bei einer Sprengung zwischen nacktem Fels und Almrausch. Die Mutter kochte und putzte die beiden durch diese erste Zeit, bis der Bub mit einem Stipendium in die Schule nach Klagenfurt gehen konnte, um dort zu lernen, noch mehr Leitungen und Rohre in die Berge zu legen. Für seine Mutter war ein Ingenieur eine andere Qualität Mensch, unantastbar und hoch zu respektieren. Ihr Sohn sollte es einmal besser haben, viel besser. Gottfried war fleißig, lernte brav, verstand alles, aber mit dem Herzen blieb er stets in der Natur und nicht am Zeichenbrett.
Die Ferien verbrachte er am Wasser, jede freie Minute fischte er und lernte Fliegen zu binden. Blutig zerstochene Fingerkuppen, Schnitte und Risse verletzten die Hände des Burschen, der noch nie hart gearbeitet hatte. Dafür hatte seine Mutter gesorgt. Federn, Seidenschnüre, Perlen, bunte Fäden und Hanf verwandelte Gottfried geschickt und schweigsam konzentriert zu täuschend echt aussehenden Insekten, manchmal aber zu grotesken kleinen Monstern, die dann an der langen Angelschnur einen ersten Flug über den Fluss antraten, begleitet von den echten Fliegen. Seine kunstvollen Imitate waren gut genug, um einen Fisch zu täuschen, und seltsam genug, um bei den einheimischen Anglern für Verwunderung zu sorgen.
Besonders schöne, winzig kleine Kunstwerke entstanden unter der Anleitung eines englischen Urlaubsgastes, der den Fluss noch aus seiner Besatzungszeit kannte. Er kehrte jeden Sommer ins Mölltal zurück und blieb für mehrere Wochen. Sir George nannte ihn Gottfried, weil er mit seinem gezwirbelten Bart wie ein Lord aussah und sich auch so benahm. Ein sehr feiner Herr, der sich mit lustigem Akzent mit dem Burschen unterhielt und ihm nebenbei so gut Englisch beibrachte, dass er danach in der Schule nicht mehr viel lernen musste. Noch heute kennt er die Namen aller Köder und deren Bestandteile auf Englisch.
Quill-Migde-Fliegen, Buck Caddis, Foam Ant. Komisch, dass einem gerade so ein Inselwissen erhalten bleibt, wenn man fast alles andere vergessen hat. Die Jahre nahmen so viele Erinnerungen wieder mit sich fort, wie im Fluss das Schmelzwasser zerrannen Namen und Orte.
Eines Tages brachte Sir George in seiner Umhängetasche ein Buch übers Fliegenfischen in Montana mit ans Ufer der Möll. Vorsichtig setzte sich Gottfried damit auf einen Stein und blätterte darin. Es war ein sehr schönes, schweres und in dickem Leder eingebundenes Buch mit vielen Bildern. Als er in der Mitte eine großformatige Fotografie aufblätterte, verschlug es ihm fast den Atem. Sie zeigte eine Aufnahme von einem breiten Flussbett in Montana, irgendwo im Norden. Das Wasser, die Strömung, die Steine, die Bäume und die Berge im Hintergrund glichen denen seiner Heimat so sehr, dass er sich kurz die Augen rieb und aufblickte. Er malte in das Schwarzweiß der Abbildung die fehlenden Farben. In seinem Kopf, gleichwohl wie im Herzen, kolorierte er Gelb, Braun, saftiges Grün, Moosgrün, Silber und Akzente von Rot nach.
Bis zum Ende seiner Schulzeit wusste Gottfried alles über Montana, was man in der Schulbibliothek und in seiner Schulstadt erfahren konnte. Er kaufte sich Bücher mit seinem Taschengeld und hütete sie wie einen Schatz. Mit dem Abschlusszeugnis nach Hause ins Tal entlassen, warb man ihn sofort bei den inzwischen fertig erbauten Stromwerken an. Die Mutter freute sich, ihr Sohn...