ÜBERWIEGEND HEITER MIT GEGENWIND
BETTINA SCHNEIDER
Dieses Mal wird es klappen. Christian ist sich nahezu sicher, nachdem er das Café betreten hat. Die Lokalität, die sie vorgeschlagen hat, gefällt ihm auf Anhieb. Kein Schickimicki, dafür gemütlich, ein bisschen plüschig: rote Samtsessel, bunt zusammengewürfelte Holztische, Parkettfußboden und bis zum Boden reichende Spiegel an den goldpatinierten Wänden. In der Vitrine am Tresen reiht sich eine Torte an die andere. Jede ist eine Augenweide und schmeckt vermutlich köstlich.
Er wählt einen Tisch, von dem er den Eingang im Blick hat und die blühenden Japanischen Kirschbäume vor der Tür - ein Rausch rosafarbener Blüten.
"Kann ich Ihnen etwas bringen?" Die Kellnerin in ihrem luftigen, gelben Kleid sieht wie ein überdimensionierter Zitronenfalter aus und schafft es, Frühlingsheiterkeit auch in den Räumen des Cafés zu versprühen.
Christian schüttelt den Kopf, erklärt, dass er auf jemanden warte und eine halbe Stunde zu früh sei. Was eigentlich gelogen ist, vierzig Minuten ist er zu früh. Die Aufregung hat ihn hierhergetrieben und seine Vorfreude, die er genüsslich auskosten möchte.
Mit einem wissenden Lächeln nickt die Kellnerin und lässt ihn allein.
Die Spiegel, die ihn beim Betreten leicht irritiert haben, bieten ungeahnte Einblicke in das Geschehen um ihn herum, stellt er jetzt fest: In den Spiegeln sieht Christian, dass die mehrfach gepiercte Rothaarige, die zwei Tische weiter sitzt und mit ihren Augen am Smartphone klebt, sich heimatfilmtaugliche Bilder aus den Bergen anschaut - M-Ö-L-L-T-A-L, entziffert er die Überschrift. Der ältere Herr am Ecktisch liest nicht in dem aufgeschlagenen Buch, sondern einen in schönster Handschrift verfassten Brief, der auf den Buchseiten liegt. Darüber hinaus halten sich zwei Paare im Café auf: zwei Rentner, die ohne ein Wort zu wechseln Kuchen verzehren, und ein Pärchen in Christians Alter, attraktiv und in ein Gespräch versunken, als existierte die Welt nicht.
Die erste Verabredung - lange haben sie gewartet. Langsam und bedächtig, darin sind sie sich einig gewesen, haben sie es im Vorfeld angehen lassen. Unzählige E-Mails haben sie getauscht; stundenlang, ohne zu merken, wie die Zeit verfliegt, hat er am Computer gesessen, um seine Nachrichten zu tippen und ihre zu lesen. Von Beginn an hat ihm gefallen, was sie geschrieben hat, und wie sie schreibt. Ihre Nachrichten schmücken zahlreiche Emojis und er hat sich dabei ertappt, dass er diese plötzlich auch - entgegen seiner Gewohnheit - an das Ende seiner Nachrichten setzt. Seitdem WhatsApp ins Spiel gekommen ist, wünschen sie sich "Gute Nacht" und "Guten Morgen". Zwischendurch, wenn einer an den anderen denkt, schicken sie sich kurze Mitteilungen. Ihre Smartphones laufen heiß, denn sie denken häufig aneinander. Seit einer Woche telefonieren sie, sprühende Wortwechsel bereichern das digitale Pingpong. Christian grinst wie ein Honigkuchenpferd, als er die Phase des Kennenlernens gedanklich noch einmal durchlebt.
Von Anfang an hat diese Beziehung - Beziehung?, also gut, Bekanntschaft - ihm einen wunderbaren Aufwind gegeben. Julia - auch ihr Name gefällt ihm.
Julia besitzt eine authentische, frische Art und Fröhlichkeit. Wenn er mit ihr spricht, fühlt er Wärme und Nähe, eine vertraute Basis. Sie haben gemeinsame Hobbys sportlicher Natur, teilen Vorlieben (italienisches Essen und Kinobesuche) und - ganz wichtig - denselben Humor. Sie haben schon viel miteinander gelacht. Seit er Julia kennt, steht seine Lebensampel auf Grün, er fühlt sich lebendig und kraftvoll.
Es muss einfach passen.
Längst bereut Christian, dass er sich auf seinem Profil ein paar Monate jünger geschummelt hat. 39 hört sich anders an als vierzig. Seine Schwester, die ihn beim Onlinedating beraten hat, meint, man kaufe auch lieber etwas für 9,99 statt zehn Euro und außerdem sei bei diesem virtuellen Dating immer ein bisschen Mogelpackung dabei. Bestimmt auch bei ihr.
Christian legt den kleinen Strauß kunterbunter Wildtulpen, den er später überreichen will, auf den Tisch. Ewig hat er im Blumenladen gestanden, sich den Kopf zermartert, welche Blumen, welche Farben die richtigen für sie sein könnten.
Noch eine Viertelstunde.
Langsam wird es ernst. Bestimmt ist sie pünktlich. Unzählige Male hat er sich den Augenblick vorgestellt, dieses eine erste Mal, wenn er sie sieht, wenn sie zur Tür hereinspaziert, nein, -schwebt, denn sie ist Tänzerin. Genau genommen, Tänzerin und Tanzlehrerin für Modern Dance. Christian hat sich nicht getraut zu fragen, was das ist, es stattdessen im Nachhinein gegoogelt.
Ein Detail wissen sie beide nicht voneinander: wie sie aussehen (ihre Profilbilder sind nur schemenhaft). Ob ihm das wichtig sei, hat sie im Vorfeld gefragt, sie sehe ganz normal aus. Christian, der nicht oberflächlich klingen wollte, hat etwas von Nebensächlichkeit des Aussehens gestottert und laut überlegt, wie er eigentlich aussieht.
Julia hat gelacht: "Du siehst bestimmt gut und jünger als 39 aus!"
Sieht er gut und jünger aus? Seine Kumpels braucht er nicht zu fragen, er wäre die Lachnummer. Blendend, laut seiner älteren Schwester, aber das ist nicht objektiv. Der Kommentar seiner fünfzehnjährigen, oberkritischen Nichte, die das geschwisterliche Gespräch zufällig mitbekommen hat, hat anders geklungen: "Wenn du deine Haare färben würdest, würdest du halbwegs passabel aussehen, vor allem jünger." Sie spielte auf seine Schläfen an, dort sprießen zwischen den braunen Haaren auch vereinzelt ein paar graue. "Und megaalt wirkst du, wenn du fragst, was Wörter wie dissen oder spoilern heißen."
Er hofft, er kann eine 35-jährige Tänzerin mit seinem Aussehen überzeugen. Seit ein paar Wochen joggt er länger und häufiger als in den letzten Monaten, hat im Fitnessstudio wieder Hanteln gestemmt.
Zehn Minuten noch.
Vor den bis zum Boden reichenden Fenstern des Cafés flanieren wenige Passanten. Jedes Mal, wenn sich die Eingangstür öffnet, schnellt sein Herzschlag katapultartig in die Höhe. Immer sind es Kinder, die nach Schulschluss süße Gummischlangen am Tresen verlangen.
Und wenn sie nicht kommt? Gestern hat sie am Telefon etwas besorgt geklungen, dass das Bild ihrer Vorstellung nicht der Realität standhalten könne.
Fünf Minuten vor drei betritt eine Frau in Jeans und Bluse das Café. Sie wirkt gehetzt. Ist sie das? Die Frau trägt eine Melange aus blassen Grau-, Blau- und Rosatönen, mit der sie nicht auffallen will, wirkt älter als 35. Aber wer weiß das schon? Sie holt einen vorbestellten Kuchen ab, eilt wieder auf die Straße.
Aufatmend lehnt er sich zurück.
Sein Handy vibriert, es ist eine WhatsApp-Nachricht seiner Schwester, die ihm Erfolg wünscht. Zeitgleich entdeckt er eine andere Mitteilung von Julia, vor einer halben Stunde geschrieben. Sein Herzschlag beschleunigt sich.
"Bis gleich - ich freue mich auf DICH!" mit einem Kuss-Smiley und einem roten Herz.
Sie wird kommen.
Wenige Sekunden ist er abgelenkt gewesen. Sofort grasen seine Augen den Raum auf Veränderungen ab. Nein, er hat nichts versäumt. Inzwischen schnürt die Aufregung ihm beinahe die Kehle zu.
Dieses Mal hat es ihn wirklich erwischt.
Ein Seitenblick auf die Gepiercte zeigt ihm: Sie beobachtet ihn. Wie lange schon? Warum?
Ruhig Blut, ermahnt er sich, und: einatmen, ausatmen.
Eine Minute vor drei schiebt sich eine Frau in einem weiten Blümchenkleid, das ihn an die Bettwäsche seiner Großmutter erinnert, durch die Tür.
Die Gute trägt bestimmt zwanzig Kilo Übergewicht mit sich rum, geht ihm durch den Kopf, während sie durch das Café watschelt. Mindestens fünfundzwanzig Kilo, japst sein Gehirn, als sie mit einem Grinsen vor ihm stehenbleibt.
"Du bist bestimmt Christian!"
Mit einem lauten Knall zerplatzt die in den schönsten Farben schillernde Seifenblase Julia, ehe der nächste Gedanke wie ein alles vernichtender Blitz einschlägt: Er hat sich getäuscht. Gewaltig getäuscht.
Als entleerte sich ein Kübel Eiswasser über ihn, fühlt er sich. Schlagartig ernüchtert bis auf die Knochen. Sich an seine Manieren erinnernd, schafft er es irgendwie aufzustehen.
Freudig umarmt sie ihn, da er nichts tut. Weich fühlt sie sich an, merkt er, sehr weich, wie ein Daunenbett.
Dreißig Kilo wohl eher.
"Ich bin Julia", sagt sie und nimmt ihm das letzte Quäntchen Hoffnung, das sich in einer Zelle im hintersten Winkel seines Gehirns versteckt hat. "Bist du überrascht?"
"Nein. Na ja", beginnt er zu stammeln und dann weiß er nicht weiter.
"Du siehst besser aus, als ich erwartet habe!"
Christian merkt, wie ihm das Blut in die Wangen schießt. Auch wenn er sie bisher als angenehm geradlinig empfunden hat, heute klingt sie sehr direkt.
"Möchtest du etwas trinken?", fragt er, nachdem sie sich mit einem Plumps in den Sessel hat fallen lassen...