HERZENSSACHE
BETTINA SCHNEIDER
Ausgerechnet heute - die Quecksilbersäule hatte bereits am Morgen die Zwanzig-Grad-Marke geknackt - war die Bushaltestelle verlegt worden. Einfach so, ohne Vorankündigung.
Servicewüste Großstadt.
Josef, den alle Welt nur Jo nannte, holte das mit seinen Initialen bestickte Taschentuch hervor und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn. Nachdem er der sardinendosengleichen Enge des Busses entflohen war, musste er feststellen, auf der Straße herrschte eine ähnliche Temperatur wie in dem überhitzten Transportmittel. Jo blickte sich um. Bestimmt dreihundert Meter Fußmarsch bescherte ihm der provisorische Halt der Buslinie.
Jo machte sich auf den Weg zur Arbeit. Mit einer gewissen Routine umkurvte er Touristentrauben, quetschte sich an Baugerüsten vorbei, immer wieder den Schatten der Ahornbäume aufsuchend, dort darauf bedacht, nicht vom Taubendreck getroffen zu werden, umrundete einen Mann, der mit seinem Hund auf einer Decke mitten auf dem breiten Bürgersteig saß und ihm einen Teller mit einer Handvoll Münzen entgegenstreckte. An der Ampel querte Jo die Straße in dem Gefühl, gegen einen reißenden Strom zu schwimmen, nahm die junge Frau, die an der Straßenecke stand, nur aus den Augenwinkeln wahr, um dann zu realisieren, dass sie hier ihre Dienste anbot.
Abermals bemühte Jo sein Taschentuch.
Die Hälfte des Weges hatte er geschafft. Eine kräftig gebaute Reinigungskraft im taubenblauen Overall und mit grellrotem Haarschopf schloss die Eingangstür eines Sushi-Ladens auf, die überall in der Stadt wie Pilze aus dem Boden schossen, daneben trat ein Mann mit einem dottergelben Turban aus einer Haustür. Düfte orientalischer Gewürze umwehten ihn, Jo nahm es selbst auf einige Meter Entfernung wahr. Die Großstadt war eine stete Herausforderung für seine Sinne. Auch nach zwei Jahren hatte er sich nicht an das ständige Gewirr gewöhnt. Er passierte das Schaufenster einer kleinen Galerie, fragte sich, wer für diese großformatigen Bilder mit Farbklecksen astronomische Geldbeträge ausgab, und ob irgendjemand ihm derartige Summen zahlen würde, wenn er Töpfe mit unterschiedlicher Farbe auf eine Leinwand kippte.
Das nächste Schaufenster mit Glasscheiben, die bis zum hellen Parkettboden des Ladens reichten, gab den Blick auf einen fast leeren Raum frei. Jo verharrte, betrachtete den Saal genauer: Er zählte fünf Hüte, die hier ausgestellt waren. Allesamt Strohhüte, drei offensichtlich für Damen, zwei für Herren - Panamahüte mit exotischen Mustern. Verrücktheiten. Kopfschüttelnd tat Jo den nächsten Schritt, gelangte zum angrenzenden Schaufenster mit einer Eingangstür. Abermals Kopfbedeckungen, allerdings sehr kunstvoll gefertigte, das sah selbst er als Laie auf den ersten Blick. Zahlreiche Kappen, hauptsächlich in Bonbonfarben. Was seinen Blick fing, war das, was auf diesen Kappen saß: Spitzen, Federn, Blätter, Blumen, etwas, das wie eine Koralle aussah, Perlen, Kristalle wie bunte Konfetti. Jo glaubte sich zu erinnern, Kopfbedeckungen wie diese auf Fotos von royalen Hochzeiten gesehen zu haben. Jetzt erst erkannte er den Vogel auf der einzigen schwarzen Kappe, die mit Federn verziert war. Ein schwarzer Vogel, der auf einem Dach gelandet zu sein schien. Bergdohlen, Jo dachte an Bergdohlen im heimatlichen Mölltal. Dort käme niemand auf die Idee, etwas Derartiges zu fertigen, geschweige denn auf dem Kopf zu tragen.
Das dritte Fenster - eine Werkstatt. Ein gläserner Fertigungsraum, bereit, die Außenwelt an der Herstellung der Kunstwerke teilhaben zu lassen. Drei Frauen, die über ihrer normalen Kleidung weiße Handwerker-Schürzen trugen, saßen um einen großen Holztisch, zwei mit dem Gesicht zu ihm, eine mit dem Rücken. Jo blieb wie angewurzelt stehen. Unendlich viel gab es zu bestaunen: unzählige aus Holz gefertigte Modelle von menschlichen Köpfen, Bastbänder auf Spulen, Federn verschiedenster Formen und Farben, Nähkästen, Nähmaschinen, Garne, Knöpfe, Stoffe, sonstiger farbenfroher Zierrat, halb fertige Hüte, zwei Modelle auf einem Hutständer, Regale bis unter die Decke mit Schachteln in Pastellfarben.
Ungeachtet der Passanten gingen die drei Frauen ihrem Handwerk nach, plauderten dabei, lachten. Jo hätte gerne gehört, über was sie sprachen. Eine der Frauen warf ihm einen kurzen Blick zu, fuhr dann in ihrer Arbeit fort. Ihr rechter Arm trug von der Schulter bis zum Handgelenk die Tracht der Jugend - bunte Tätowierungen -, sah Jo. Die Frau daneben lachte, warf ihr strohblondes Haar in den Nacken.
Jo hörte die nahe gelegenen Kirchturmglocken zur vollen Stunde schlagen. Mein Gott, er war spät dran. In diesem Moment drehte sich die Frau um, von der er bislang nur den Rücken zu Gesicht bekommen hatte.
Ein erhabenes Gefühl, das er von Sonnenaufgängen auf Berggipfeln kannte, durchfloss ihn. Bildschön war sie. Ein reines, madonnenhaftes, wie modelliertes Gesicht, das rabenschwarze Haar durch einen Mittelscheitel geteilt, eng am Kopf anliegend und zu einem Knoten gebunden. Das perfekte Haupt für all diese Hüte, die sie umgaben.
Sie, diese hinreißende Frau, schenkte ihm ein zartes, schüchtern wirkendes Lächeln, schlug die dunklen Augen nieder, ehe sie sich wieder ihrer Arbeit widmete. Flink waren ihre Hände, ungemein grazile Finger hatte sie.
Fortan spazierte Jo jeden Morgen in einem Hochgefühl von der verlegten Bushaltestelle bis zu dem Fenster des Ateliers, legte dort eine kurze Pause ein. Längst hatte er sich daran gewöhnt, dass die Frauen zu tuscheln und kichern begannen, sobald sie ihn erblickten. Jo war es egal. Alles, worauf er wartete, war ein Lächeln. Ihr Lächeln. Nach wie vor saß sie mit dem Rücken zur Straße, doch sie wandte sich jedes Mal um, wenn er kam. Ihr Anblick war genug, um den Tag zu überstehen.
Jo bemerkte, wenn sie Lippenstift trug, ihre Nägel lackiert waren, welche Farbe der Lack hatte, freute sich, sie in einem Kleid zu sehen, aber sie gefiel ihm auch in weißer Bluse und Jeans, was sie hauptsächlich trug. Er nahm ihre unterschiedlichen Frisuren wahr. Eines Morgens begrüßte sie ihn mit sanft fallenden Locken, die ihr fein ziseliertes Gesicht engelsgleich einrahmten. Er überlegte, welche Frisur ihr am besten stand, entschied sich nach langem Grübeln für die Variante, wenn sie die Haare nach hinten gebunden trug. Er begann sich zu fragen, wie ihr Tag nach der Arbeit aussah. Wo sie wohnte, wie sie lebte, mit wem sie lebte. Welche Vorlieben sie hatte, was sie am liebsten aß oder trank. Ihr Gesicht begleitete ihn in seinen Träumen bei Nacht, bis er feststellte, diese Frau ging ihm auch am Tag keine Sekunde mehr aus dem Kopf.
Etwas Derartiges war ihm zuvor noch nie passiert.
Jo behielt seine Gepflogenheit bei, besuchte sie am Morgen, nie zu anderen Tageszeiten. In der Regel blieb er einen Moment stehen, betrachtete sie, die versunken in ihre Arbeit war, bis sie von ihren Kolleginnen auf ihn aufmerksam gemacht wurde. Jo bekam sein Lächeln und setzte sich wieder in Bewegung. Das war das Ritual. Es war das, was funktionierte. Es war das, was ihn freute und worauf er sich verlassen konnte.
Eines Morgens riss der Wecker Jo unsanft aus dem Schlaf. Nachdem er den Plagegeist ruhiggestellt hatte, ließ er sich in die Kissen zurücksinken, versuchte an das anzuknüpfen, was er im Traum erlebt hatte: Er war zu ihr in das Atelier gegangen. Er hatte es gewagt, hatte sie angesprochen. In Erwartung ihrer Antwort war ihm der Wecker in die Quere gekommen. Der Regen trommelte laut gegen das Fenster, ein Gewitter ging über der Stadt nieder, ungewöhnlich für einen Morgen. Zwei, drei Minuten blieb Jo liegen, bis er merkte, weder der Schlaf noch der Traum würde zurückkehren.
Von nun an spukten Gedanken einer neuen Qualität durch sein Hirn. Das Einerseits und das Andererseits, ein Quäntchen Hoffnung, das ihm sagte, tu es, und die Erfahrung, die ihm schwer wie ein Mühlstein um den Hals hing.
Er könnte es einfach dabei belassen, sich mit dem begnügen, was er hatte, dachte er, als er wenig später unter der vor Nässe triefenden Markise vor dem Atelier stand. Der Spatz in der Hand . Aber was geschah, wenn er die Taube bekam? Ermunterte sie ihn nicht geradezu mit ihrem Lächeln? Jeden Tag aufs Neue?
Sein Lächeln als Antwort auf das ihrige gelang ihm heute nicht mit der gewohnten Leichtigkeit. Während der nächsten Stunden begleiteten ihn zwiespältige Gefühle. Hin- und hergerissen war er zwischen dem, was war, und dem, was sein könnte. Er verweilte in Gedanken bei ihr. Sekunden, Minuten. Konnte er sich überhaupt vorstellen, mit ihr auszugehen, sie zu berühren, zu küssen, sogar .
"Herr Steiner, geht es Ihnen nicht gut?" Die Worte seiner Kollegin drangen wie aus unendlicher Ferne zu ihm, dabei saß sie direkt neben ihm.
"Alles bestens", sagte er und wusste plötzlich, was er zu tun...