ROTE BÖCKE
Bockjagd vor Corona-Zeiten
Lieber Leser und liebe Leserin, wie gut, dass du nicht weißt, was die Zukunft dir verheißt. Auch wenn Kohorten von Zukunftsforschern damit beschäftigt sind, eine schöne, neue Welt zu zeichnen. Aber meistens kommt es anders als man denkt. Und nicht immer ist die neue Welt auch schön. Binsenweisheiten.
Während in den vergangenen Jahren ASP, Neozoen und Wolf einerseits, Flüstertüte, Nachtsicht- und Nachtzielgeräte andererseits die Jägerschaft beschäftigten, hatte niemand, wirklich niemand, eine Pandemie im Angebot; dafür aber Klimawandel, Klimakrise, Käferkalamitäten, Waldsterben 2.0 und Wald vor Wild. Hätte ich in den Jahren vor 2020 auch nur eine leiseste Ahnung von Corona gehabt, ich hätte die Jagd auf den roten Bock gebührender gefeiert, ausgiebiger zelebriert. Mehr als gewöhnlich.
So blieb es bei magischen Momenten im Jagdkalender und der Gewissheit ihrer Wiederkehr im kommenden Jahr. Das verlieh den jagdlichen Höhepunkten eine gewisse Regel- und Routinemäßigkeit. Wie schändlich schnöde war und ist diese Unterwertschätzung. Hätte ich gewusst, dass und wie sehr eine Pandemie das Leben, das jagdliche Leben, insbesondere das Leben eines Reisejägers, verändern würde, ich hätte die Bockjagd, die Böcke andächtiger gewürdigt. Von einigen magischen Momenten vor Corona-Zeiten, von roten Böcken auf den Pfaden eines Jägers sei hier erzählt.
Es ist im Niederbayerischen, Ende Juni 2017. Zum Abendansitz hocke ich in Roberts Schafshiller Revier auf der sogenannten Kanzel ohne Dach. Es ist dies die Kanzel, wo sich anno 2004 das Fuchs-Marder-Drama abspielte: "Räuber unter sich", beschrieben im Buch "In Feldern und Wäldern". Und wo ich in schwarzdunkler Nacht quasi auf dem schwarzen Bail auf schwarzem Grund saß, geschildert in "Saubande", ebendort. Vor einigen Tagen haben Freund Tom, meine Söhne Max, Tris und ich die in die Jahre gekommene Kanzel ausgebessert, einen neuen Boden eingezogen, eine neue Leiter montiert sowie Auflage- und Sitzbretter ausgetauscht - die Einrichtung ist wieder brauchbar und hielte nun auch kritischen Augen der Berufsgenossenschaftsvertreter stand.
Hier will ich es versuchen. Hinter der Kanzel liegt ein Steilhang bestockt mit Buchen, eingestreuten Fichten und einzelnen Kiefern, vor ihr lockt ein abfallender Acker mit Sojabohnen, weiter unten in der Senke bietet ein Rapsfeld gute Deckung und rechts vor der Waldzunge liegt ein Streifen Wildacker feinster Kräuter. Ein Dorado für Rehe - Deckung, Äsung und Grenzlinien zur Genüge. Gestern Abend saß hier Jungjäger Max und beobachtete mehrere Ricken und Kitze, einige Schmalrehe und einen jungen Zukunftsbock. Ganz spät trat dann ein starker Bock aus! Den konnte er bei schwindendem Licht auf 200 Schritt nicht genau ansprechen und ließ ihn aus - Respekt, Max! Aber dass es ein kapitaler Bock war, das konnte er bestätigen. Wir tauften den bis dato Unbekannten Bunkerbock 2.0, denn unweit steht der Bunker von Roberts Bauunternehmung zur sicheren Lagerung von Sprengstoff für den Steinbruch.
Schon einmal gab es hier vor Jahren einen kapitalen Bock, den Bunkerbock 1.0! Ein Traumbock! Gewaltig, unerreicht und unerreichbar. Er blieb ein ewiger Jagdtraum. So stark er war, so war er uns auch über, zeigte uns Jägern schonungslos, wer Herr im Hause, wer Meister im Revier war - er blieb ein Phantom der dunklen Nacht, des frühesten Morgendämmers, des allerletzten Abendlichtes, der stillen Winkel, geizte mit seinen zweifellosen Reizen bei hellem Licht. Bis auf das eine Mal! Da stand ich nach ereignislosem Morgenansitz mit Kameraden im jagdlichen Plausch unweit des Bunkers an der Straße nach Schamhaupten. Drei Rehe kamen im gemütlichen Galopp aus der Ferne über den abgeernteten Acker auf uns zu: in der Reihenfolge Geiß, Gabler, ganz starker Bock. Unbekümmert und unmittelbar, und das am helllichten Tag! Letzterer war tatsächlich der kapitale Bunkerbock 1.0. Wie dem Recken der Lecker zum Äser heraushing, so standen uns die Mäuler weit offen - Kinnladen ausgerenkt, Zeigefinger verrenkt, und der Jagdverstand benebelt. Die Dreierbande sprang ohne Richtungs- und Tempoänderung keine zwanzig Meter neben uns in den Wald, als hätten wir da nie im Weg gestanden. Was für ein despektierliches Verhalten der Capreoli. Weg waren sie. Weg war er. Es war das letzte Mal, dass der Bunkerbock 1.0 in Anblick kam. Danach ward er nie mehr gesehen. In meiner Erinnerung aber blieb er stets präsent als der Unerreichbare, der Bunkerbock 1.0.
Heute Abend möchte ich den Bunkerbock 2.0 taxieren, eventuell mein Jagdglück ausloten. Kaum sitze ich, da wiederholt sich die Vorstellung vom Vorabend, wiederholt sich Maxis Beobachtung: die Rehe raus und rein, der Zukunftsbock, der mit den kurzen, starken Stangen, tritt unten am Raps aus. Allein, er empfiehlt sich sogleich. Er hat wohl Respekt vor dem Haus- und Feldherrn, dem Bunkerbock 2.0.
Erst geschieht weiter nichts, ich lausche den Vogelstimmen und versuche zu erraten, wer oder was da im welken Buchenlaub raschelt: Maus, Igel, Bilch oder Eichhorn? Zu sehen bekomme ich den oder die "Ruhestörer" nicht. Langsam schwindet das Licht, die ersten Fledermäuse schwirren und schwärmen im schnellen Flug um die Kanzel und erhaschen allerlei Insekten. Mir wird ganz schwindelig beim Zuschauen ihrer akrobatischen Flugkünste. Aber wo bleibt der Starke? Noch so gründliches Abglasen bringt ihn nicht in Anblick. Das Glockenspiel des Schafshiller Kirchturms schlägt zwei Stundenschläge, der Abend ist weit fortgeschritten, 21:30 Uhr ist durch. Die Farben der Flur bekommen einen ersten Graustich, das dunkel-düstere Tuch der Dämmerung legt sich auf Feld und Wald. Sorgenfalten stehen auf meiner Stirne, bald wird es duster sein. Zehn Minuten darauf tritt ein kapitaler Bock aus. Wie hingezaubert steht er im Sojabohnenfeld an der Ecke zwischen Raps und Wildacker. Er sichert anhaltend. Was für ein Recke! Selbst auf die gemessenen 175 Meter erkenne ich den Feldherrn, es ist der Bunkerbock 2.0. Ein reifer, alter, abnorm starker Platzbock ist er. Und sehr begehrenswert. Erinnerungen an seinen Ahnherrn, den Bunkerbock 1.0 werden wach - Déjà-vu! Wo stecktest du all die Jahre?
Mir pocht das Blut in den Schläfen, mein Herz schlägt bis in die Kehle, so laut, dass ich Sorge habe, er könnte es vernehmen, es könnte ihn vergrämen. Der Bockbüchsdrilling liegt auf der Brüstung. Doch dort bleibt er vorerst liegen; denn die nächsten zehn Minuten ziehen sich zäh hin, der Recke steht am Rand des Rapses und äst genüsslich. Glasig grün-schaumiger Saft tropft aus seinem Äser, wenn er aufwirft und sichert, mit den Lauschern nach lästigen Insekten schlägt und dabei unwillig sein schweres Haupt schüttelt. Aber ansonsten die Ruhe selbst, denkt er gar nicht daran, schnurstracks in meine Richtung zu ziehen. Warum sollte er auch? Er hat da unten alles, was er braucht. Und die saugstechenden, nervenden Blutschmarotzer gibt's hier oben genauso wie da unten. Im letzten Dämmerlicht will ich auf die weite Distanz nicht schießen, auch ist der Kugelfang fragwürdig - entweder zieht der Bock hoch zum Waldrand, zum Jäger, oder es sollte ein andermal sein! Doch nicht umsonst heißt es: stimmt alles und lächelt dir Diana, dann zögere nicht lang .
Die Jagdgöttin errät meine gierigen Gedanken, doch sie scheint dem Jäger hold und wohlgesonnen: denn mit einem Male setzt sich der Bock in Bewegung, zieht zügig in Richtung meines Versteckes. Aber Sapperlot! Sein anfängliches Bravado versiegt, wieder zieht er langsam, elendig langsam, aufreizend lässig zupft er hier vom Kraut und äst da vom saftig-fetten Löwenzahn. Er hat Zeit ohne Ende. Nichts treibt ihn, nichts lockt ihn. Es ist eben noch keine Blattzeit. Diana! Du launische Diva! So wird das heute nichts mit begehrter Beute, das Licht schwindet rapide, der Feldherr ist standhaft und steht immer noch in der Gegend ohne Kugelfang. Wieder und wieder messe ich die Entfernung, mit zittriger Hand und zittriger Seele - unbarmherzig klopft der Jagdschüttler. Endlich steht der Bock vor der Waldzunge, endlich hat es Kugelfang vor gewachsenem Boden. Von "stehen" kann dann aber keine Rede sein, denn plötzlich wird es dem Alten eilig, er zieht, schnell, immer schneller, zu schnell, kommt spitz geradewegs auf mich zu. Längst messe ich nicht mehr, schon sind es weniger als 70 Meter, permanent führe ich den Drilling nach, bin mit dem Absehen drauf. Aber er kommt spitz und ist bereits rechts vor meinem Lauersitz. Gleich wird er den Waldrand erreicht haben und darin verschwinden . auf Nimmerwiedersehen?! Bitte jetzt kein Déjà-vu! Ich muss ihn anhalten, zum Verhoffen bringen! Diana hilf! Als der Bock schwenkt und für einen kurzen Moment breit zieht, da schrecke ich ihn an, blöke mit aller Macht und Kraft. Ruckartig hält der Alte inne, hoch erhobenes Haupt, steiler Träger, blickt in meine Richtung. Er steht brettelbreit, mit angezogenem rechtem Vorderlauf, so wie ein Hühnerhund im Felde vorsteht und sichert. Indigniert ob der plötzlichen Störung wird er augenblicklich abspringen, zum dusteren, schützenden Wald entkommen. Im dem Moment bricht der Schuss, im Feuer und Knall fällt der Bock in seine letzte Fährte ins hohe Gras. Sein Lebenslicht ist aus, erloschen seine Flamme, im allerletzten erlöschenden Abendlicht. Einen abnormen, alt-reifen und kapitalen Sechserbock habe ich strecken dürfen. Danke dir, Diana! Waidmannsdank! Ich muss mich erst einmal sammeln, beruhigen und den Jagdschüttler loswerden .
Endlich verlasse ich den Sitz, schreite zum Bock. Die Nacht ist da, ohne Licht ist es schwierig, den Bock zu finden. Die...