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Ein kleiner Junge an einem Schulvormittag in der Pausenhalle. Er dreht sich im Kreis und sagt sich: Ich bin der König von Lilienfeld. Es ist das Jahr 1980, sieben Jahre ist er alt. Sein Großvater amtiert seit knapp dreißig Jahren als Bürgermeister.
Der neue Roman von Martin Prinz beginnt in einer Welt, in der an manchen Hausfassaden noch Einschusslöcher aus dem Weltkrieg klaffen, setzt ein mit dem Blick eines Buben, der das Wort Politik lange kannte, bevor er es verstand. Hier treffen nächtliche Parallelwelten des Lesens auf Vorstellungen von radioaktiven Wolken oder jenen des Eisernen Vorhangs. In rasanter Engführung wechseln Jetztzeit-Passagen des heutigen Schriftstellers mit dem Aufwachsen eines Kindes in Österreich und Umgebung.
Wie lässt sich das unauflösliche Ineinander von Politik und Familie, von realen Ereignissen und ihrer Erzählung in Balance halten? Wie der Blick eines Schriftstellers mit dem eines früheren Königs von Lilienfeld?
Im Haus der Großeltern entdeckt der Schriftsteller Bilder aus dem Jahr 1995: Aufnahmen, in denen es keine Motive mehr gibt. Stattdessen das Festhalten alltäglicher, zufälliger Perspektiven. Die letzten Fotografien des demenzkranken Großvaters. Damit ist der Weg des Erzählens vorgegeben.
Die unsichtbaren Seiten: Ein Heimatroman als Entwicklungsromans eines Schriftstellers.
Sonntags trug der König von Lilienfeld ein helles Hemd und eine Sonntagshose. Die kleine Schwester, deren riesige blaue Augen blitzten, stand froh neben ihm. Die Sonne strahlte auf das Gelb der Stiftsmauern. Wenige Jahre zuvor hatte man die gesamte Anlage für die große Landesausstellung renoviert: 1000 Jahre Babenberger. Das war 1976, im selben Jahr war die Schwester auf die Welt gekommen. Drei, vier Jahre später lachte sie bereits in ihrer von der Traisner Großmutter gestrickten Noppenweste, wir beide ordentlich frisiert und von den Eltern herausgeputzt, bevor die Großeltern uns für die Vormittagsmesse abholten.
Dann standen wir mit ihnen in einem der Grüppchen am Platz vor dem Basilika-Portal, wie sie sich hier immer wieder in ähnlichen, selbstverständlichen Zusammensetzungen nach der Messe bildeten. Wer sich mit wem zusammentat, jede Geste, jeder Schritt bis hin zur Abfolge der aufgesuchten Wirtshäuser, Gastgärten oder Cafés gehörte zu den Knotenpunkten eines Netzes, in dem einem nichts geschehen konnte: Jö, hieß es, die zwei Hübschen sind auch wieder mit dabei! Und die einzige Gratwanderung war, wenn der wegen seiner harschen Übertreibungen so bewunderte wie gefürchtete deutsche Ehemann der Mathematiklehrerin vom Prinz und der Prinzessin in einem Unterton sprach, in dem zumindest einem König von Lilienfeld auffiel, dass er eigentlich die Traisner Familie und deren Namen meinte.
Im Kiesgastgarten des Stiftskellerstüberls saßen wir zwischen dem Primar, dem Schneider und seiner Frau, der Mathematiklehrerin Herta und ihrem Mann, der Notarin und der schrillen, preußischen Arztwitwe sowie dem alten Volksschuldirektor und seiner Frau, einer langjährigen Lehrerinnenkollegin der Großmutter. Stets war unser Tisch der größte, meist gehörten auch die umliegenden irgendwie dazu. Die Sonne strahlte durch das dichte Blattwerk der Kastanien. Nebenan lockten die Fischteiche und selbst durch die Brille des Rückblicks wurde keineswegs deutlich, dass der Schneider vor dem Anschluss illegaler Nazi gewesen war, der Volksschuldirektor bei Machtübernahme, während die Großmutter aufgrund strikter Weigerung, den Hitler-Gruß zu benutzen, bereits zu Kriegsbeginn dementsprechende Gestapo-Akten-Einträge gehabt hatte, genauso wie der Großvater, dessen spätere Karriere, beginnend mit dem Posten des Hauptschuldirektors nach der Kriegsgefangenschaft, nichts mit seiner Berufserfahrung, sondern mit seiner NS-Gegnerschaft zu tun hatte.
Der Großvater trank meist das eine oder andere Viertel Rot mit Gieß, wobei er mit dem selbst damals nur noch manchen geläufigen Kürzel das Gießhübl-Sauerbrunner Mineralwasser Mattoni meinte, das in k.u.k. Zeiten eines der bekanntesten Mineralwasser der Monarchie gewesen war. Die Großmutter überlegte bei jeder neuen Bestellung die Möglichkeiten, genauso wie sie vor Kirchgängen, Ausflügen, Theaterfahrten oder Besuchen stets unendlich lange mit der Entscheidung über die richtigen, die passendsten Schuhe, Kopfbedeckungen, Überbekleidungen oder mit Grundfragen zwischen Rock, Kleid oder Hose zu kämpfen hatte. In den Laubkronen standen die Kastanienkerzen. Wir Kinder bekamen Obi gespritzt und Würstel, manchmal auch Schartner Bomben und Kinderschnitzel mit Pommes frites. Die Schritte der Kellnerinnen knirschten im Kies.
Wenn vom Nachbarort Traisen die Rede war, besaß das nicht nur in der Lilienfelder Familie stets einen Beigeschmack. Traisen hatte zwar mehr Einwohner, doch Lilienfeld war nach außen hin seit jeher bedeutender. Seit der Stiftsgründung der Babenberger war Lilienfeld ein religiöses, kulturelles wie politisches und wirtschaftliches Zen-trum des Traisentals und seiner Umgebung. Daran änderte nichts, dass Orte wie Traisen während der Industrialisierung groß geworden waren. In der Bezirkshauptstadt Lilienfeld befanden sich vom Arbeits- bis zum Finanzamt immer noch alle wichtigen staatlichen Stellen. Deshalb wurde Lilienfeld 1974 auch zur Stadt erhoben, während der Markt Traisen 1979 sein Marktwappen erst mit über fünfzigjähriger Verspätung bekam.
Traisen war ein Arbeiterort. Fast jeder ging in die Bude, wie die große, den Ort an seinem Südeingang weithin dominierende Stahlfabrik genannt wurde. Viele der Männer hatten Schichtarbeit. Die Fabrik, ihre Auftragslage und die jeweilige Schicht des Vaters bestimmten in Traisen alles, vom finanziellen Auskommen bis zur Notwendigkeit, untertags auf Zehenspitzen zu gehen.
Dass auch zu Lilienfeld eine große Fabrik gehörte, fiel nicht weiter auf. Dabei kam man direkt an ihr vorbei, wenn man aus Traisen die kaum dreißig Höhenmeter flussaufwärts nach Lilienfeld fuhr. Obwohl die Fabrik hinter der Traisner Ortsgrenze unmittelbar an das Traisner Stahlwerk anschloss, hielten Ortsunkundige sie vermutlich eher für ein zweites Traisner Werk als zur Stifts- und Beamtenstadt gehörig, deren Kirchturm zwei Flussschleifen weiter aus dem engen Talkessel ragte.
Kaum anders taten es die Lilienfelder. Für sie war die Aluminiumfabrik selbstverständlich die Marktler Fabrik, wie der an Traisen grenzende Arbeiterortsteil Lilienfelds hieß. Tatsächlich gingen fast nur Marktler in die dortige Bude zur Arbeit, und Marktler waren für Lilienfelder keine Lilienfelder. Genauso wie sich Marktler wiederum eher schlagen ließen, als Lilienfelder genannt zu werden. Dementsprechend gehörten tatsächliche wie erfundene Schlägereien zwischen Lilienfeldern und Marktlern zu den wichtigsten Themen der Bubenerzählungen, zumindest darin bestand in Marktl und Lilienfeld kein Unterschied.
Als Arbeiteransiedlung war Marktl noch proletarischer als Traisen und als Ortsteil größer als das eigentliche Lilienfeld. An Marktl kamen die Lilienfelder nicht vorbei. Im Unterschied zu Traisen, das aus Lilienfelder Perspektive umso mehr ignoriert werden konnte, je intensiver die Feindschaft und Abwertung der Marktler betrieben wurde.
Auch die höhere Einwohnerzahl Traisens störte die Lilienfelder Ignoranz in keiner Weise, schließlich handelte es sich zum größten Teil um Leute, die in der Fabrik verschwanden, Funktionsteile eines rund um die Uhr laufenden Produktionsprozesses. Von ihrer Arbeit blieb im Einzelnen nichts übrig. Spielten sie nicht mit, waren sie schnell ersetzbar, wie die großen Arbeitskämpfe und Streiks Anfang des 20. Jahrhunderts gezeigt hatten. Den damaligen Generalstreik der Traisner hatte der Fabrikbesitzer einfach mit ihrer Auswechslung durch Fremdarbeiter gekontert. Damit hatte in Traisen die größte Niederlage der Österreichischen Arbeiterbewegung stattgefunden. Aus den Hinterköpfen war das auch Jahrzehnte später nicht verschwunden, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die diesen Coup absegnenden Behörden und Beamten in Lilienfeld gesessen hatten.
Wenn Traisner von Lilienfeld sprachen, war ihr Tonfall hastig, als müssten sie schnell etwas verschlucken, das gleichzeitig kaum zur Gänze verschluckt werden konnte. Unsicherheit schwang mit, Bitterkeit und Hohn, der seltsam ziellos war. Lilienfeld, so viel spürte man trotz aller Hast, stand Traisnern für etwas, das nicht bloß Feindbild war, sondern den Blick auf unangenehme Weise immer auch auf eigenes Versagen zurücklenkte.
Alldem konnte man als Traisner Kind kaum entkommen, während man als Lilienfelder Kind schnell jenen blinden Fleck dort entwickelte, wo Traisen selbst in größter Herablassung von Lilienfeldern immer übersehen wurde. Doch war ich nicht irgendein Traisner oder Lilienfelder Kind, vielmehr der Enkel der Lilienfelder Bürgermeisterfamilie, dessen Traisner Großeltern damals die weit alltäglicheren, näheren Bezugspersonen waren. So hatte sich alles, was mir Traisen und Lilienfeld in meinem Leben noch aufzulösen gaben, früh und selbstverständlich vor mir aufgereiht.
In Traisen gab es eine schwarze Katze, einen großen Gartenzwerg, einen Kirsch- und Birnbaum sowie einen Gemüsegarten mit Erdäpfelbeeten. Hinter der kleinen Garage neben dem Haus war ein Schuppen, der nach seiner früheren Nutzung Hühnerstall hieß. In meiner Kindheit sollte der Hühnerstall bevorzugter Ort aller Arten von Spielen werden....
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