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Als Elisabeth Petznek 1963 in Wien stirbt, werden auch die scharfen Schäferhunde in ihrem Bett ruhig. Knapp 80 Jahre ist sie geworden. Jähzornig, verletzlich, unbeherrscht, offenherzig, schroff und eigensinnig. Eine Frau, die ihr ganzes Leben weder in die ihr zugedachten noch in die von ihr ersehnten Rollen gepasst hatte. Anlässlich ihrer Geburt im Jahr 1883 wurde sie als Enkelin Kaiser Franz Josephs noch mit Geschützsalven, Fackelzügen und Aufmärschen gefeiert, 80 Jahre später könnte sich die Situation nicht stärker von jener des imperialen Pomp unterscheiden. Sie hatte mit allem gebrochen, was ihre Herkunft einmal bedeutete. 1948 hatte sie zum zweiten Mal geheiratet: Leopold Petznek, ihren langjährigen Lebensgefährten, einen Lehrer und sozialdemokratischen Politiker; der erste Mann, der nicht vor ihr kapitulierte.
Der Roman erzählt die Lebensgeschichte einer verwöhnten Enkelin, Habsburgerin und Sozialistin, einer vierfachen Mutter und Salondame, die ebenso großherzig und charmant wie eigensinnig sein konnte.
Die Hunde bellten nicht. Mesli öffnete mit einem gewissen Zögern die hohe Flügeltüre.
Keine Sorge, Mesli . sagte eine Frauenstimme.
Die Dame thronte in einem über zweieinhalb Meter breiten Messingbett, die Beine unter der gestickten Decke. Seit einem Schlaganfall waren sie fühl- und bewegungslos. Zwei Schäferhunde lagen neben ihr, Lido und Libelle, die nur ihr allein gehorchten. Grund genug zur Vorsicht.
Die Ölbilder an der Wand glänzten, sahen im Licht dieses hellen Tagesbeginns dunkler aus als sonst. Nicht nur die Geschichte eines Landes hing hier nebeneinander, es war die des halben Kontinents. Gleich würde sie ihn wegen seiner Langsamkeit anherrschen. Zögerlichkeit oder gar Angst ertrug sie nicht. Er kannte die Worte, er kannte den Ton, und er würde wie immer zusammenzucken. Zumindest die Gefahr durch die Hunde wurde kleiner, wenn sie selbst es war, die ihn beim Eintreten anfuhr. Als wäre damit für die Tiere ein Teil der Aufgabe, die Welt rund um ihre Herrin in Schrecken zu halten, fürs Erste erledigt.
Mesli verneigte sich und warf einen Blick durch den Raum. Er kontrollierte das täglich neu anzuordnende Arrangement aus Schnittblumen, Blumenstöcken und Grünpflanzen. Wenn darin etwas nicht passte, war es den ganzen Tag über nicht mehr gutzumachen. Zum Glück hatte das Stubenmädchen sorgfältig gearbeitet, Sicherheit vor jäh aufflammenden Beschwerden garantierte aber selbst Fehlerlosigkeit nie.
Den Brief, Mesli.
Die alte Frau deutete in Richtung ihres Sekretärs, der wie eine Insel inmitten der Blumenpracht stand.
. aus der Schreibtischlade, Sie wissen.
Mesli atmete durch. Er wusste, dass sie den Brief in der mittleren Schublade meinte. Es ging immer um diesen. Er war stets an seinem Platz. Im Unterschied zu all den anderen Dingen, nach denen sie oft mit völlig falschen Angaben verlangte - stets überzeugt, dieses oder jenes müsste dort zu finden sein. Schon ein erstes Stutzen konnte sie reizen, ganz zu schweigen von Misserfolgen, die sie übergangslos in Empörung und Wut versetzten.
Draußen fuhr der Wind durch die Bäume, ein warmer, schwerer Wind, der auf dem Weg vom Portiershäuschen zur Villa gegen seinen Körper drückte. Mitte März und die Temperaturen hatten nach Abklingen des großen Winterfrostes etwas Ungewohntes behalten; kalt war die Luft selbst an schönen Tagen. An diesem Tag war es plötzlich auch im Schatten warm. Im Garten des Hauses etwa, wohin die Fenster aus dem Schlafzimmer sich öffneten, so dass die Gnädige Frau die Sonne den ganzen Winter lang nur an ihrem Widerschein im Park zu sehen bekam. Zwischen den dürren Sträuchern, an den kahlen, blätterlosen Bäumen, gelegentlich blitzend im Schnee, doch meist nur am welken Wiesengras.
Angesichts ihrer zunehmenden Schwäche war Mesli froh, nicht wie sonst gleich den Befehl zum Öffnen der Fenster erhalten zu haben. Wie sie nun in ihrem Bett lag, schien ihm schon ein erster Schwall Wärme so bedrohlich, dass ihm selbst ihre bissigen Hunde harmlos und klein vorkamen.
Mesli nahm den Brief heraus wie so oft. Er war an ihr Schloss in Schönau adressiert, das die Gnädige Frau vor über dreißig Jahren verkauft hatte. Kurz danach war Mesli in ihre Dienste getreten. Das Schloss hatte er nie gesehen. Dafür gab es eine Unzahl von Geschichten und Gerüchten darüber. Von Geisterbeschwörungen und Gesprächen mit dem Jenseits. Die einzige Bedienstete, die länger bei der Gnädigen Frau war als er, verlor nie ein Wort darüber. Nur der Brief reichte wie ein Anker in diese Tage und Jahre. Eine stumme Verbindung, ungeöffnet - nicht einmal einen Absender trug er.
Seit dem Tod ihres Mannes vor sieben Jahren verlangte sie regelmäßig nach dem abgegriffenen, vergilbten Kuvert, in den letzten Wochen und Monaten fast jeden Tag. Seltsam ungelenk sahen die Buchstaben der Addresszeilen aus. Wie von einem Kind oder gar von ihm selbst, dem Portier und Gärtner, der erst vor ein paar Jahren richtig zu schreiben gelernt hatte. Jedes Mal fragte er sich, woher dieser Brief kommen mochte, und dachte stets an die Gnädige Frau selbst. So deutlich auch der Unterschied zwischen den kritzelig aneinandergereihten Buchstaben auf dem Kuvert und der eigenen, immer noch gestochen scharfen Schrift war.
Danke, Mesli.
Ihre Stimme kam von weit her. Einen Augenblick lang starrte er sie an. Manchmal wünschte er sich, nichts von ihr zu wissen, weder von ihrem Leben noch von ihrer Herkunft. Doch das war unmöglich. Seit Generationen hatte ihre Familie seine Geschicke geprägt. Wehrlos sah sie jetzt aus, trotz der Hunde, und unschuldig. Sie hatte die Augen halb geschlossen, ihr Gesicht wirkte mädchenhaft. Mesli fürchtete und verehrte sie. Sie sah ihn an und drehte sich weg.
Mesli, sagte die alte Frau, während er die Tür hinter sich schloss. Mesli, flüsterte sie und war allein. Sie spürte den Brief in ihrer Hand. Da war etwas, das sie ihm sagen wollte, doch es war nichts, weshalb sie ihn zurückbeordern konnte. Es gab weder Klang noch Wörter oder Sätze dafür.
Elisabeth Petznek schloss die Augen. Es hatte nichts damit zu tun, wie sie ihre Bediensteten mit Anweisungen, Rügen und Strafen den ganzen Tag auf Trab hielt. Sie tauchte darin als kleines Mädchen auf. Sie konnte sich ganz deutlich sehen, in einem der unzähligen Zimmer der großen Burg. Die Kerzen flackerten. Sie trug die Kälte und Feuchtigkeit der alten Mauern in ihrem Kinderkörper. Sie stand vor einem Bett, in dem ein Mann lag. Seinen zerschossenen Kopf bedeckte ein großer weißer Verband. Neben ihr war der Großvater, der sie trösten wollte. Er legte ihr die Hand auf den Kopf. Der Mann in dem Bett war tot, es war ihr Vater.
Drei Tage davor war er zur Jagd aufgebrochen und hatte sich nicht verabschiedet. Sie war auf der Toilette gesessen. Am Thron, wie er gerne sagte. Dort dürfe er seine Prinzessin nicht stören, hatte er noch gescherzt. In zwei Tagen sei er wieder bei ihr, jetzt müsse er schnell fort.
Sie konnte sein Lachen bis heute hören. In ihrem müden, gelähmten Körper. Sie hörte das Lachen und ging ihrem Vater entgegen, als Mädchen wie als alte Frau. Er trat zwischen den Baumstämmen aus dem Wald, seine Jagdhunde bellten, und auf einmal war alles bedrohlich für sie, die ihren Vater nur als kleines Mädchen an sich gedrückt hatte. Fest und lieb waren seine Arme gewesen, lebendig und warm die Stimme seiner Geschichten, mit der er sie in Abenteuer begleitete, wie nur er sie erfinden konnte. Bis heute hallten sie in ihr nach, als weite, lichte Stellen eines nicht gelebten Lebens. Vielleicht war es ja nur eines von jenen vielen anderen, aus denen jedes Leben zwangsläufig bestand. Von selbst aus nächster Nähe nur erahnbaren Welten, die einen hinter jeder Abzweigung oder Richtungsänderung als Schatten begleiteten.
Elisabeth Petznek hörte den Wind und spürte die Schnauzen ihrer Hunde unter der Bettdecke überall, wo der Schmerz des kleinen Mädchens bis heute in ihre Glieder reichte. Der Mann, der ihr Vater war, kam näher, und seine Hunde bellten, sie konnte deren Atem bereits spüren und wusste doch, ihre Beschützer würden stärker sein, Lido und Libelle.
Sie öffnete die Augen. Sie war ganz ruhig. Es war später Nachmittag. Sie wusste, es war soweit, und sie begann, das Briefkuvert in Stücke zu reißen, in kleine mundgerechte Teile. Etliche schluckte sie selbst, den Rest verfütterte sie an die Hunde, die ihr auch Papier aus der Hand fraßen. Jetzt konnte ihr nichts mehr geschehen. Sie atmete tief durch und ruhte bis zum Abend, bevor sie Mesli per Telefon die letzten Anweisungen durchgab.
Elisabeth Petznek hatte keine Zweifel mehr. Sie spürte, was jetzt kommen würde. Lange genug hatte sie darauf gewartet. Nur die Frage nach den Hunden tauchte wieder auf: Müssten sie bereits vor ihrem Tod eingeschläfert werden, um ihr dort, in der anderen Welt, aus der womöglich auch der Brief herkam, von der ersten Sekunde an Schutz zu bieten? Oder waren sie auch hier bis zum letzten Augenblick nötig?
Sie wusste es weniger denn je. Draußen wurde es finster. Nun hielten sie auch solche Fragen nicht mehr fest.
Sie hatte ihn angerufen. Paul Mesli saß in seinem Portiershäuschen, ein kleiner Radioapparat lief und Mesli schrieb Wörter auf ein Blatt Papier. Es waren an dem Abend keine komplizierten Übungsbegriffe wie Elektrokardiogramm, Physiologie oder Fauteuil, es war etwas anderes. Er blickte auf. Was er hier notierte, fiel ihm nicht leicht. Er durfte jetzt nicht lange innehalten, er durfte keine Gedanken an Rechtschreibung oder Grammatik verschwenden, an die Ordnung der Erinnerungen oder Einfälle. Er musste aufschreiben, dass er hier war, er musste festhalten, was er erlebt hatte. Dafür hatte er die Buchstaben und die Wörter gelernt. Jetzt brauchte er sie. Und Mesli schrieb wie nie zuvor. Er schrieb die längsten Sätze so selbstverständlich nieder, als würde er sprechen. Denn bald würde hier alles anders sein. Obwohl er sich das nicht vorstellen konnte.
Auch an diesem Tag hatte er seine Arbeit wie immer gemacht. Er hatte das Schweigen der Hunde verdrängt, ebenso die Sanftheit der Gnädigen Frau. Er hatte die Post hereingebracht, im Park Geäst zurechtgeschnitten und sich um die Blumenbeete gekümmert. In einem Haus mit einem derartigen Park gab es für alle Bediensteten ständig etwas zu tun. Die Bettlägrigkeit der Hausherrin änderte daran nicht das Geringste. Bis auf den letzten Winkel wollte sie stets alles über Aussehen und Zustand der Blumen und Sträucher, der Rasenflächen, Bäume und Brunnen wissen. Also hatte...
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