Schweitzer Fachinformationen
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Katja wächst als Tochter russisch-britischer Emigranten in Tientsin in China auf. Es sind die 1940er Jahre und später, die Spuren von Krieg und Gewalt überall spürbar. Als junges Mädchen wird sie die Entscheidung treffen, fortan in der Sowjetunion zu leben, und reist mit dem Zug nach Taschkent. Während draußen Schnee und Landschaft vorbeiziehen, wallen in ihr die Erinnerungen an das privilegierte Leben in der ausländischen Konzession auf, an die Wunder und Wunderlichkeiten, die Drachen, Stoffe, Texturen, an das oft rätselhafte Verhalten der Erwachsenen, deren Leben von der Geschichte durchgewirbelt wurde.
Und dann ist da noch der Erzähler, der die sanften, auch absonderlichen Bilder jener russischen Kindheit in China immer wieder mit der eigenen im trüben sowjetischen Plattenbau verschaltet, als die Moskauer »Patriarchenteiche« gerade zu »Pionierteichen« geworden waren.
In seinem letzten Roman erforscht Dmitri Prigow den fremden Kontinent einer Kindheit und birgt die kindliche Wahrnehmung, Welterfahrung, in wunderbar zarte poetische Bilder.
Wenn man durch die engen Gassen der Armenviertel lief, musste man vorsichtig sein, denn man konnte durchs Fenster mit Spülwasser begossen werden, oder es knallte einem ein Hühner- oder sogar größerer Knochen an den Kopf. Nach wie vor galt hier der Außenraum der Straße als fremdes Territorium, worum die Hausbewohner sich nicht kümmerten. Was soll's, so waren die Gebräuche! Wie in den europäischen Städten des Mittelalters übrigens. Der Mensch ist überall gleich. Nur die Zeiten sind ein bisschen anders.
Enden tat natürlich alles mit Eis - bingjilin shi haochi (»Eis ist eine schmackhafte Speise«). Das war nichts Raffiniertes, sondern schlicht gefrorener Saft in Eiszapfenform. Das fabelhafteste Eis wurde selbstredend in der deutschen Konditorei der Kieslings verkauft. Gefertigt und an die Kunden verkauft wurde es in Form von absonderlichen Tieren, gefüllt mit Schlagsahne, die zum Umfallen lecker war.
Die Konditorei befand sich auf dem Gebiet der ausländischen Konzessionen, und dort wohnten jene Kieslings auch - Emigranten aus Deutschland, die sich in diesen Breiten gar wundersam mit ebenfalls deutschen jüdischen Flüchtlingen mischten. Letztere wohnten hier seelenruhig Seite an Seite mit flammenden Anhängern der faschistischen Revolution in ihrer fernen Heimat. Was es nicht alles gibt, in jedem Moment dieses Lebens und an jedem Punkt unseres Planeten! Hier also geschah beispielsweise so etwas.
Die Schwestern des Mädchens besuchten sogar eine Zeitlang die deutsche Schule vor Ort, die mit einer Büste des tobsüchtigen Führers und einer Hakenkreuzflagge geschmückt war. Dasselbe Hakenkreuz trugen die Schwestern auch auf einer Armbinde. Grüßten morgens in der Schule mit dem bekannten Hochreißen des rechten Arms auf Schulterhöhe. Doch ihnen war der odiose Sinn des ganzen Rundherums wohl kaum bewusst. Außerdem ging das alles, wie ich schon gesagt habe, nur ganz kurz so.
Auf dem Markt briet man alles Mögliche und Unmögliche wie Heuschrecken, Zikaden, Ameisen, Würmer, Käfer, Schaben, Schmetterlinge, Libellen und weitere insektenartige Wesen. Wer flog, wurde mit langen Angelruten gefangen, deren Spitzen mit Teer beschmiert waren, woran die zerbrechlichen Geschöpfe der Lüfte denn auch klebenblieben. Manchmal stellte die Mutter fixe Experten ein, um die unsichtbaren Zikaden im Garten einzufangen, die in Sommernächten in ein einstimmiges, irrsinniges, fast stierähnliches metallisches Gebrüll ausbrachen. Es war unerträglich.
Eine Zeitlang blieb alles still. Aber nicht lange.
Als zusätzliches Honorar fiel den glücklichen Jägern auch der (nach Ansicht der Mutter) ekelhafte Fang zu, der anschließend an den erwähnten Markt geliefert wurde. Kurz, Nutzen und sofortiger Gewinn für alle.
Ebendort, inmitten der unzähligen Läden und Lädchen in der Taku Road, erblickte das Mädchen eines Tages auf einer der Verkaufstheken winzigkleine, leuchtendbunt bemalte Porzellanpüppchen. Von unwiderstehlichem Zauber. Die kleinste in ihre schweißfeuchte Faust gepresst, verließ sie, mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenem Blick, von einer unüberwindlichen Leidenschaft getrieben, heimlich, still und leise den Raum. Vermutlich, sogar höchstwahrscheinlich hatten sowohl der Ladenbesitzer als auch die Njanja, die mit zärtlichem Lächeln verstohlen den Verlust beglich, alles gesehen, aber sie ließen sich nichts anmerken. Später schämte sich das Mädchen ungeheuerlich für dieses Vergehen. Tja, ein Kind eben! Doch nein - mit solchen Bagatellen fängt ja alles an. Wobei das, aber sicher, aber ja doch, für die Dauer ihres würdigen und ziemlich langen Lebens der einzige Fall derart inadäquaten Verhaltens blieb.
Vergessen wir es.
Wegen des goldenen Farbtons ihres Haars, von dem man glaubte, er würde Glück bringen, luden die Einheimischen das Mädchen gerne in ihre Häuser ein oder lockten sie mit Willkommensgesten in die Läden. Auch auf der Straße versuchte jeder, sie zu berühren oder ihren Kopf zu tätscheln. Sie ließ das ergeben mit sich geschehen.
In einem dieser Läden kaufte das Mädchen mit Duldung der Njanja und hinter dem Rücken der Mutter kleine Plastikkügelchen. Die warf sie den nichtsahnenden Passanten auf der Straße mit einer unmerklichen Bewegung vor die Füße. Der Effekt war immer derselbe. Die Kügelchen zerplatzten mit einem lauten Knall, was ziemliche Verwirrung hervorrief. Das Mädchen aber betrachtete mit ungerührter Miene scheinbar gleichgültig das Schaufenster eines Geschäfts. Die Njanja schüttelte nur den Kopf.
Als das Mädchen einmal die Kügelchen mit in die Schule nahm, wurden sie auf der Stelle konfisziert. Sie hießen Kirschbomben und waren verboten. Das Mädchen war also eine Rechtsbrecherin. Die Lehrerin ermahnte die Mutter und die ihrerseits das fügsam den Kopf senkende Mädchen. Nochmal gutgegangen.
Begleitet von der kaum nachkommenden Njanja stürmte sie in die Richtung, aus der fast unhörbar eine scheppernde Saite und eine schwache brüchige Stimme erklangen. Da sang der blinde Wandererzähler.
Er saß mit untergeschlagenen Beinen in dem begrenzten, freigemachten und gleichsam erhellten Raum, den sein abgewetzter Teppich vorgab. Ringsum lärmte die Menge. Überall tummelten sich Käufer, Tagediebe, Händler zweifelhafter Waren und Dienste. Auf ihren angestammten Plätzen thronten alle möglichen Zeichendeuter, Orakelleser, Phrenologen, Nekromanten und einfache Scharlatane. Wahrsager legten dünne Bambustäfelchen mit verschlungenen Hieroglyphen und Ziffern aus. Ließen knallbunte kleine Vöglein fliegen, die sich flink ein Täfelchen schnappten und zurück in ihren winzigen Käfig trugen. Der Wahrsager nahm es ihnen ab, schloss das klapprige Käfigtürchen und stand, vorgebeugt, lange Zeit wie erstarrt da, während er lautlos seine blassen Lippen bewegte.
Einer strich über den polierten Panzer einer ergebenen Schildkröte, deren runzliger und jenseitiger herausgestreckter Kopf rhythmisch von rechts nach links pendelte.
Einige der ähnlich wie die Schildkröte verrunzelten und fast bis auf die Knochen abgezehrten Zeichendeuter waren blind. Sie hoben die Köpfe, als spähten sie mit einem versteckten durchdringenden Blick in den Himmel und kriegten so die Zukunft ihrer wenigen Kunden raus. Ihre großen, leicht zuckenden Augäpfel quollen unter dünnen, rau wie Schmirgelpapier wirkenden Lidern hervor. In der Regel standen kleine Knaben neben ihnen, wachsam und auf der Hut wie die Jagdhunde, und passten auf, was ringsum vor sich ging, beantworteten die wenigen Fragen ihrer Herren und rissen den dankbaren Kunden flink die raren Gaben aus den Händen.
Kurz, ein ebenso simples wie unausweichliches Schauspiel, das an allen derartigen Orten auf der ganzen Welt zu sehen ist.
Das Mädchen hockte sich dem blinden Sänger gegenüber, nahm aus der Tasche ihrer Schürze (die man ihr angezogen hatte, um die Sauberkeit des gestärkten Kleids zu schützen) ein paar Münzen, die sie beim Bezahlen des Schulfrühstücks eingespart hatte, und hielt sie ihm hin. In dem einen Täschchen mit einem gestickten Bären darauf verwahrte sie das Geld für den Kauf von Hühner- und Entenküken, die der Obst- und Süßigkeitenausträger direkt vors Haus brachte. Im anderen - mit einem Häschen - ebenjene abgeknapsten Silbermünzen für den Sänger.
In der Hocke und mit offenem Mund lauschte sie der hohen näselnden Stimme, die im Singsang Geschichten über dieselben Ungeheuer und Helden wie in den Balladen der Barbiere kundtat. Aber hier war alles ernsthafter, packender, schrecklicher und weitaus langwieriger.
Riesige Steine hemmten den Lauf megabreiter Flüsse, Heerscharen von Feinden rückten, unermessliche gelbe Wüsten ganz und gar bedeckend, langsam gegen die mächtige unüberwindliche Große Mauer vor. Tote Eltern bestraften ihre schludrigen Nachkommen. Mächtige Herrscher verliebten sich in unirdische Schönheiten, die erwiderten ihre Gefühle, es türmten sich jedoch unüberwindliche Hindernisse auf ihrem Weg. Ein gewaltiger Drache, der die große Perle aus dem Himmlischen Jadepalast geraubt hatte, tauchte, die Perle im Maul, in die ungeheure Tiefe eines großen Flusses hinab und erstarrte dort, eingegraben in den allerfeinsten Grundsand. Bisweilen wallte die glatte Wasseroberfläche und blitzten in der Tiefe wie grüner Malachit seine Pupillen unter den halbgeöffneten schweren faltigen Lidern. Auf seinen Lippen spielte ein seltsames Lächeln. Die Perle barg sich ...
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